Wolfsgrub
Die Wolfsgrub heißt so, weil es an diesem Ort tatsächlich einstmals eine Wolfsgrube gab, deren Reste um 1900 noch vorhanden waren. Ein aus dem Jahr 1932 überliefertes Foto zeigt die bäuerliche Wolfsgrubstraße in Hagrid mit zehn Bauernhöfen nach althergebrachter Bauweise. In den nachfolgenden Jahrzehnten veränderte sich die Wolfsgrubstraße baulich wie landwirtschaftlich wesentlich.
In der Wolfsgrub wohnte bis 1934 der damals bekannte Arzt, Schriftsteller und spätere Filmemacher Max Mohr (1891-1937). Seit den 1920er-Jahren war er ein guter Bekannter von Grete Weil. In den Erinnerungen an Max Mohr erzählt sie von dem Beginn dieser Bekanntschaft und davon, was sie über die Wolfsgrub wusste:
Wir kannten uns, seitdem mich Norbert Schiller, Carlos und Mortimer der Frankfurter Bühnen, ein Expressionist wie jeder, der von dort kam, Mitte der Zwanziger Jahre, also noch in einer sehr ruhigen und glücklichen Zeit besucht hatte und schon im Aufbruch begriffen sagte, er müsse noch einen Besuch machen bei Max Mohr, dem Autor des gerade vielgespielten Stückes Improvisationen im Juni, der wohne in der Wolfsgrub, ob ich wisse, wo die sei. Ich wußte es nicht, hatte überhaupt keine Ahnung, daß dieser Autor, über den ich in der Zeitung gelesen hatte, daß er außer Schriftsteller auch noch Arzt sei, am Tegernsee lebte. Wolfsgrub? Wo konnte das sein? Vielleicht hinter Bad Kreuth, wo es eine Wolfsschlucht gab. „Nein“ sagte Norbert und wies mit der Hand auf den von meinem Zimmer aus gut zu sehenden Wallberg. „Er hat mir gesagt am Fuß des Wallbergs auf dem Weg nach Enterrottach.“ Ich zuckte etwas ärgerlich die Achseln: „Keine Ahnung.“ Ich war ja nicht nur in Egern geboren, hatte alle Ferien hier verbracht und glaubte mich sehr gut auszukennen. War die Wolfsgrub ein Ort? Ein Meiler? „Ein altes Bauernhaus“, sagte Norbert. „Lebt er dort allein?“ „Nein, mit seiner Frau und einer kleinen Tochter Eva.“
Ich wußte das alles nicht und es sollte noch viele Jahre dauern, bis ich die Wolfsgrub kennen und heftig lieben lernte. Als ich mit Norbert auf die Straße trat, kam uns ein großer, gut aussehender Mann entgegen, dem Norbert offenbar gesagt hatte, wo er an diesem Tag in Egern zu finden sei, und wir wurden einander vorgestellt. Seitdem trafen wir uns oft.
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 1)
Nah und distanziert zugleich
Was für eine Art von Beziehung hatten Grete Weil und Max Mohr? Grete Weil selbst hat diese so beschrieben:
Trafen wir uns auf der Dorfstraße, gingen wir meistens etwas trinken. Auf den touristenfreien entlegenen Wegen setzten wir uns auf einen Stein und wenn keiner da war, gleich auf die Erde, um noch etwas zu plaudern. Leider trafen wir uns nie auf einem der Berge, die wir beide für unser ganz persönliches Eigentum hielten, allerdings für ein sehr bescheidenes, denn wir liebten alle zwei das Hochgebirge.
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 1)
Ein paarmal ging er ohne zu grüßen an mir vorbei, mit einem anderen Mann, der mir ein bißchen älter vorkam und irgendwer, wer weiß ich nicht mehr, hat mir erzählt, der Mann sei ein Engländer, Mohrs bester Freund, hieß D.H. Lawrence und sei der skandalumwitterte Autor von Lady Chatterley. Dann war der wieder abgereist und wir führten unsere kurzen Treffen weiter, redeten dies und das, stritten uns auch ein wenig über Kunst, aber waren uns immer einig, daß keiner unserer deutschen Schriftsteller an Thomas Mann heranreichte. Daß ich hoffte, einmal selber zu schreiben, verschwieg ich. Und auch Mohr erzählte nie von dem was er plante.
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 2f.)
Ansicht von der Wolfsgrubstraße. Aus: Hans Halmbacher: Das Tegernseer Tal in historischen Bildern. 3 Bde. Fuchs-Druck, Hausham 1980-87 (Sammlung Hans Halmbacher)
Letzte Begegnung 1934
Grete Weil schildert auch, wie sie im Herbst 1934 mit Max Mohr in einem Wirtsgarten sitzt, wo beide nach gut italienischer Weise Kaffee mit Grappa trinken wollen. Es ist das letzte Mal, dass sie Max Mohr sieht. Bei diesem Treffen erfährt sie von ihm, dass auch er jüdischer Herkunft ist und kurz vor der Emigration nach China steht:
Natürlich gab es in einem bayerischen Wirtshaus keinen Grappa, und so hatte jeder von uns neben seiner Tasse Kaffee ein Glas Kognac stehen. Mohr legte ein Kuvert auf den Tisch. „Wissen Sie was da drin ist? Das ist mein Abschiedsbrief an Thomas Mann.“ „Wollen Sie weg? Sie sind doch nicht gefährdet.“ Er lächelte: „Ich bin Jude. Aus der Reichsschrifttumskammer hat man mich schon hinausgeworfen.“ „Sie?“ sagte ich erstaunt, denn tatsächlich hat man vor dem Dritten Reich nie überlegt, ob jemand Jude oder Arier war. Max Mohr sagte: „Auch wenn ich nicht gefährdet wäre würde ich nicht bleiben um zuzusehen wie schlecht es andern geht.“ „Und Ihre Familie?“ „Die bleibt natürlich hier. Meine Frau weiß es und Eva ist noch viel zu klein um es zu verstehen.“ „Von was sollen beide leben, wenn Ihre Stücke nicht mehr gespielt werden?“ „Meine Frau schafft das schon.“ Es war das erste Mal, daß er sie erwähnte. „Wohin gehen Sie?“ „Ich gehe als Arzt, der ich ja auch bin, nach China. Als Schreibender könnte ich draußen nur verhungern.“
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 3f.)
Ein Jahr später erhält Grete Weil von Max Mohr einen Brief aus Shanghai. Er teilt ihr mit, es gehe ihm in China recht gut. Er bittet Grete seine Familie in der Wolfsgrub zu besuchen, wenn sie wieder an den Tegernsee kommen solle. Auch später, als sie schon in Amsterdam ist, erhält sie von ihm noch Briefe.
Was Grete Weil zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: 12 Jahre wird sie letztlich im Exil in Amsterdam verbringen und erst 1946/1947 wieder nach Deutschland zurückkehren. Und erst in den 1960er-Jahren wird sie Mohrs Verwandten, zusammen mit ihrem zweiten Mann Walter Jokisch, in der Wolfsgrub einen Besuch abstatten, der zu einer lebenslangen Freundschaft mit der Familie führt, wie sie am Ende ihres Lebens erzählen wird:
Es dauerte viele Jahre bis ich nach dem Krieg zusammen mit meinem zweiten Mann, dem Opernregisseur Walter Jockisch, nach Egern kam, und weil ich mich an Mohrs Brief erinnerte, gingen wir gleich in die Wolfsgrub. Eva war schon erwachsen, wie ihre Mutter sie durch den Krieg gebracht hatte ohne zu verhungern grenzte an ein Wunder. Wir hatten uns alle vier vom ersten Augenblick an sehr gern, doch ich wußte natürlich nicht, was für eine geliebte Freundin Eva für mich werden sollte. ... Sie hat einen Sohn Nicolas, auf den jetzt meine Freundschaft überging.
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 4f.)
1935: Emigration in die Niederlande
Max Mohr emigriert 1934 nach China. Grete Weil emigriert im Dezember 1935 in die Niederlande. Die Fotografin, Tochter eines ehemals angesehenen wohlhabenden Münchner Anwalts, folgt ihrem Mann, ehemals Dramaturg der renommierten Münchner Kammerspiele, ins Exil nach Amsterdam.
In den Niederlanden angekommen, beteiligt sich Grete Weil nicht an den Firmengeschäften ihres Mannes Edgar, sondern arbeitet als Fotografin und eigenständige Unternehmerin. Zuerst wohnt sie mit ihm und dessen Freund, dem Grafiker Herbert Meyer-Ricard, in einem Haus in Amstelveen, einem Vorort von Amsterdam. Von 1937 bis 1941 ist sie Inhaberin des jüdischen Fotostudios „Edith Schlesinger. Moderne Kunstfotos“ in der Amsterdamer Beethovenstraat 42, in der sie mit Edgar ab 1937 auch wohnt. Sie übernimmt es von der Fotografin Edith Schlesinger, die wegen ihrer Herkunft aus Angst vor den Nationalsozialisten nach New York emigriert. Zu den Bekannten und Freunden von Edgar und Grete Weil in Amsterdam zählen bald einige weitere deutsche Emigranten, darunter der Maler Max Beckmann, der Dirigent Bruno Walter und der Schriftsteller Albert Ehrenstein. Sie und andere Künstler und deutsche jüdische Emigranten lassen sich in Grete Weils Fotostudio fotografieren, wie überlieferte Fotografien zeigen.
In der Falle
Als Hitler die Niederlande im Mai 1940 innerhalb von fünf Tagen besetzt, versuchen Grete und Edgar Weil erfolglos über den Hafen IJmuiden nach England zu fliehen. In den nächsten Monaten erlebt das Paar die Umsetzung der – in Deutschland bereits vollzogenen – Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung in Amsterdam mit. Am 11. Juni 1941 wird Edgar Weil auf offener Straße in Amsterdam verhaftet und nach Österreich ins KZ Mauthausen deportiert, wo er wenig später ermordet wird. Ein Jahr später beginnt dann die systematische Deportation aller sich in den Niederlanden aufhaltenden Juden in die Vernichtungslager im Osten. Grete Weil tritt in Kontakt zu Widerstandsgruppen, fertigt Fotos für die Fälschung von Personalausweisen an.
Im Februar 1941 wird in Amsterdam der sog. „Joodse Raad“ (Jüdische Rat) gegründet, der sich zum Ziel setzt, den Juden und dem jüdischen Leben in den Niederlanden ein Ende zu setzen im Sinne der deutschen Besatzer. Nach der Schließung von Grete Weils Fotostudio durch die Nationalsozialisten im gleichen Jahr, arbeitet sie – aus strategischen Gründen, um ihre Mutter und sich vor den Nationalsozialisten zu schützen – notgedrungen im Joodse Raad als Fotografin. Als Mitglied desselben Rates, der mit der von der SS in Amsterdam geführten Zentralstelle für jüdische Auswanderung zusammenarbeitet, ist Grete Weil bis zu dessen Auflösung im September 1943 (Abschluss der Massendeportation und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden) vor einer persönlichen Deportation geschützt.
Am 29. September 1943 steht ihre eigene Deportation unmittelbar bevor. Es gelingt ihr zu fliehen. In letzter Minute taucht sie in der Wohnung von Herbert Meyer-Ricard, dem Freund ihres ermordeten Mannes unter. Dieser ist vor einer Deportation geschützt, weil er aufgrund der Art seiner jüdischen Herkunft als sog. „Mischling“ gilt. 17 Monate versteckt sie sich in seiner Wohnung mitten in Amsterdam hinter einer Bücherwand. Sie hilft ihm Tonfiguren für seine Spielzeugfirma herzustellen und zu bemalen, die dann in Amsterdamer Geschäften und Kaufhäusern verkauft werden.
Gründung der Widerstandsgruppe „Hollandgruppe Freies Deutschland“
Grete Weil, Hebert Meyer-Ricard, Vera O. Haymann und Ulrich Rehorst gründen 1943 die deutsch-holländische Widerstandsgruppe „Hollandgruppe Freies Deutschland“, die eng mit der niederländischen Widerstandsbewegung verknüpft ist und parallel zu ihr arbeitet. Die „Hollandgruppe Freies Deutschland“ will das demokratische und internationale Denken in deutschen Kreisen fördern, gegen den Hitler-Terror vorgehen und das deutsche Volk über die Schrecken informieren, die die Nationalsozialisten während des Krieges in den Niederlanden begangen haben und begehen. Der Kreis an Mitarbeitern und Förderern der Gruppe zählt schnell 180 Personen. Die deutschen und niederländischen Mitglieder rekrutieren sich aus verschiedenen politischen und konfessionellen Lagern. Alle sind Gegner des Faschismus und sozialistisch orientiert. Die Hollandgruppe verfolgt eine doppelte Zielsetzung. Zum einen geht es ihr um eine zügige Beendigung des Weltkrieges und den damit verbundenen Sturz des NS-Regimes. Darüber hinaus erblickt die Gruppe eine Verpflichtung zur antifaschistischen Neugestaltung Deutschlands und sucht um Verständnis und Unterstützung des „anderen“ Deutschland in den Niederlanden. Seit 1945 schaltet sie sich in die Neuordnungsdebatte mit eigenen, allgemeinen Vorgaben zur gesellschaftlichen Struktur im Nachkriegsdeutschland ein, um die deutschen Wehrmachtssoldaten zur Desertion zu ermutigen.
Während ihrer Zeit im Versteck nimmt Grete Weil ihr seit 1933 ruhendes Schreiben wieder auf. Für die Widerstandsgruppe schreibt sie Theaterstücke, in denen sie ihre Erfahrungen im Amsterdamer Exil und im Untergrund verarbeitet, darunter das Theaterstück Weihnachtslegende 1943, das zusammen mit einem weiteren unter dem Pseudonym „B. v. Osten“ entstehenden Stück Das gefesselte Theater – Het marionettentooneel der „Hollandgruppe“ speelt voor onderduikers (dt. Das Marionettentheater der „Hollandgruppe“ spielt für Untergetauchte) als Privatdruck und erste Veröffentlichung Grete Weils 1945 in Amsterdam erscheint.
Das Ende der NS-Herrschaft erlebt Grete Weil in der Prinsengracht bei einer Freundin. Nach der Befreiung durch die Alliierten bleibt sie noch in Amsterdam. Auch ihre Mutter und ihr Bruder haben den Holocaust überlebt. Als Staatenlose dürfen sie vorerst nicht nach Deutschland zurückkehren. So versucht Grete Weil zunächst in Amsterdam die pharmazeutische Fabrik ihres ermordeten Mannes wieder aufzubauen.
Die Wolfsgrub heißt so, weil es an diesem Ort tatsächlich einstmals eine Wolfsgrube gab, deren Reste um 1900 noch vorhanden waren. Ein aus dem Jahr 1932 überliefertes Foto zeigt die bäuerliche Wolfsgrubstraße in Hagrid mit zehn Bauernhöfen nach althergebrachter Bauweise. In den nachfolgenden Jahrzehnten veränderte sich die Wolfsgrubstraße baulich wie landwirtschaftlich wesentlich.
In der Wolfsgrub wohnte bis 1934 der damals bekannte Arzt, Schriftsteller und spätere Filmemacher Max Mohr (1891-1937). Seit den 1920er-Jahren war er ein guter Bekannter von Grete Weil. In den Erinnerungen an Max Mohr erzählt sie von dem Beginn dieser Bekanntschaft und davon, was sie über die Wolfsgrub wusste:
Wir kannten uns, seitdem mich Norbert Schiller, Carlos und Mortimer der Frankfurter Bühnen, ein Expressionist wie jeder, der von dort kam, Mitte der Zwanziger Jahre, also noch in einer sehr ruhigen und glücklichen Zeit besucht hatte und schon im Aufbruch begriffen sagte, er müsse noch einen Besuch machen bei Max Mohr, dem Autor des gerade vielgespielten Stückes Improvisationen im Juni, der wohne in der Wolfsgrub, ob ich wisse, wo die sei. Ich wußte es nicht, hatte überhaupt keine Ahnung, daß dieser Autor, über den ich in der Zeitung gelesen hatte, daß er außer Schriftsteller auch noch Arzt sei, am Tegernsee lebte. Wolfsgrub? Wo konnte das sein? Vielleicht hinter Bad Kreuth, wo es eine Wolfsschlucht gab. „Nein“ sagte Norbert und wies mit der Hand auf den von meinem Zimmer aus gut zu sehenden Wallberg. „Er hat mir gesagt am Fuß des Wallbergs auf dem Weg nach Enterrottach.“ Ich zuckte etwas ärgerlich die Achseln: „Keine Ahnung.“ Ich war ja nicht nur in Egern geboren, hatte alle Ferien hier verbracht und glaubte mich sehr gut auszukennen. War die Wolfsgrub ein Ort? Ein Meiler? „Ein altes Bauernhaus“, sagte Norbert. „Lebt er dort allein?“ „Nein, mit seiner Frau und einer kleinen Tochter Eva.“
Ich wußte das alles nicht und es sollte noch viele Jahre dauern, bis ich die Wolfsgrub kennen und heftig lieben lernte. Als ich mit Norbert auf die Straße trat, kam uns ein großer, gut aussehender Mann entgegen, dem Norbert offenbar gesagt hatte, wo er an diesem Tag in Egern zu finden sei, und wir wurden einander vorgestellt. Seitdem trafen wir uns oft.
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 1)
Nah und distanziert zugleich
Was für eine Art von Beziehung hatten Grete Weil und Max Mohr? Grete Weil selbst hat diese so beschrieben:
Trafen wir uns auf der Dorfstraße, gingen wir meistens etwas trinken. Auf den touristenfreien entlegenen Wegen setzten wir uns auf einen Stein und wenn keiner da war, gleich auf die Erde, um noch etwas zu plaudern. Leider trafen wir uns nie auf einem der Berge, die wir beide für unser ganz persönliches Eigentum hielten, allerdings für ein sehr bescheidenes, denn wir liebten alle zwei das Hochgebirge.
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 1)
Ein paarmal ging er ohne zu grüßen an mir vorbei, mit einem anderen Mann, der mir ein bißchen älter vorkam und irgendwer, wer weiß ich nicht mehr, hat mir erzählt, der Mann sei ein Engländer, Mohrs bester Freund, hieß D.H. Lawrence und sei der skandalumwitterte Autor von Lady Chatterley. Dann war der wieder abgereist und wir führten unsere kurzen Treffen weiter, redeten dies und das, stritten uns auch ein wenig über Kunst, aber waren uns immer einig, daß keiner unserer deutschen Schriftsteller an Thomas Mann heranreichte. Daß ich hoffte, einmal selber zu schreiben, verschwieg ich. Und auch Mohr erzählte nie von dem was er plante.
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 2f.)
Ansicht von der Wolfsgrubstraße. Aus: Hans Halmbacher: Das Tegernseer Tal in historischen Bildern. 3 Bde. Fuchs-Druck, Hausham 1980-87 (Sammlung Hans Halmbacher)
Letzte Begegnung 1934
Grete Weil schildert auch, wie sie im Herbst 1934 mit Max Mohr in einem Wirtsgarten sitzt, wo beide nach gut italienischer Weise Kaffee mit Grappa trinken wollen. Es ist das letzte Mal, dass sie Max Mohr sieht. Bei diesem Treffen erfährt sie von ihm, dass auch er jüdischer Herkunft ist und kurz vor der Emigration nach China steht:
Natürlich gab es in einem bayerischen Wirtshaus keinen Grappa, und so hatte jeder von uns neben seiner Tasse Kaffee ein Glas Kognac stehen. Mohr legte ein Kuvert auf den Tisch. „Wissen Sie was da drin ist? Das ist mein Abschiedsbrief an Thomas Mann.“ „Wollen Sie weg? Sie sind doch nicht gefährdet.“ Er lächelte: „Ich bin Jude. Aus der Reichsschrifttumskammer hat man mich schon hinausgeworfen.“ „Sie?“ sagte ich erstaunt, denn tatsächlich hat man vor dem Dritten Reich nie überlegt, ob jemand Jude oder Arier war. Max Mohr sagte: „Auch wenn ich nicht gefährdet wäre würde ich nicht bleiben um zuzusehen wie schlecht es andern geht.“ „Und Ihre Familie?“ „Die bleibt natürlich hier. Meine Frau weiß es und Eva ist noch viel zu klein um es zu verstehen.“ „Von was sollen beide leben, wenn Ihre Stücke nicht mehr gespielt werden?“ „Meine Frau schafft das schon.“ Es war das erste Mal, daß er sie erwähnte. „Wohin gehen Sie?“ „Ich gehe als Arzt, der ich ja auch bin, nach China. Als Schreibender könnte ich draußen nur verhungern.“
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 3f.)
Ein Jahr später erhält Grete Weil von Max Mohr einen Brief aus Shanghai. Er teilt ihr mit, es gehe ihm in China recht gut. Er bittet Grete seine Familie in der Wolfsgrub zu besuchen, wenn sie wieder an den Tegernsee kommen solle. Auch später, als sie schon in Amsterdam ist, erhält sie von ihm noch Briefe.
Was Grete Weil zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: 12 Jahre wird sie letztlich im Exil in Amsterdam verbringen und erst 1946/1947 wieder nach Deutschland zurückkehren. Und erst in den 1960er-Jahren wird sie Mohrs Verwandten, zusammen mit ihrem zweiten Mann Walter Jokisch, in der Wolfsgrub einen Besuch abstatten, der zu einer lebenslangen Freundschaft mit der Familie führt, wie sie am Ende ihres Lebens erzählen wird:
Es dauerte viele Jahre bis ich nach dem Krieg zusammen mit meinem zweiten Mann, dem Opernregisseur Walter Jockisch, nach Egern kam, und weil ich mich an Mohrs Brief erinnerte, gingen wir gleich in die Wolfsgrub. Eva war schon erwachsen, wie ihre Mutter sie durch den Krieg gebracht hatte ohne zu verhungern grenzte an ein Wunder. Wir hatten uns alle vier vom ersten Augenblick an sehr gern, doch ich wußte natürlich nicht, was für eine geliebte Freundin Eva für mich werden sollte. ... Sie hat einen Sohn Nicolas, auf den jetzt meine Freundschaft überging.
(Grete Weil: Erinnerungen an Max Mohr, S. 4f.)
1935: Emigration in die Niederlande
Max Mohr emigriert 1934 nach China. Grete Weil emigriert im Dezember 1935 in die Niederlande. Die Fotografin, Tochter eines ehemals angesehenen wohlhabenden Münchner Anwalts, folgt ihrem Mann, ehemals Dramaturg der renommierten Münchner Kammerspiele, ins Exil nach Amsterdam.
In den Niederlanden angekommen, beteiligt sich Grete Weil nicht an den Firmengeschäften ihres Mannes Edgar, sondern arbeitet als Fotografin und eigenständige Unternehmerin. Zuerst wohnt sie mit ihm und dessen Freund, dem Grafiker Herbert Meyer-Ricard, in einem Haus in Amstelveen, einem Vorort von Amsterdam. Von 1937 bis 1941 ist sie Inhaberin des jüdischen Fotostudios „Edith Schlesinger. Moderne Kunstfotos“ in der Amsterdamer Beethovenstraat 42, in der sie mit Edgar ab 1937 auch wohnt. Sie übernimmt es von der Fotografin Edith Schlesinger, die wegen ihrer Herkunft aus Angst vor den Nationalsozialisten nach New York emigriert. Zu den Bekannten und Freunden von Edgar und Grete Weil in Amsterdam zählen bald einige weitere deutsche Emigranten, darunter der Maler Max Beckmann, der Dirigent Bruno Walter und der Schriftsteller Albert Ehrenstein. Sie und andere Künstler und deutsche jüdische Emigranten lassen sich in Grete Weils Fotostudio fotografieren, wie überlieferte Fotografien zeigen.
In der Falle
Als Hitler die Niederlande im Mai 1940 innerhalb von fünf Tagen besetzt, versuchen Grete und Edgar Weil erfolglos über den Hafen IJmuiden nach England zu fliehen. In den nächsten Monaten erlebt das Paar die Umsetzung der – in Deutschland bereits vollzogenen – Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung in Amsterdam mit. Am 11. Juni 1941 wird Edgar Weil auf offener Straße in Amsterdam verhaftet und nach Österreich ins KZ Mauthausen deportiert, wo er wenig später ermordet wird. Ein Jahr später beginnt dann die systematische Deportation aller sich in den Niederlanden aufhaltenden Juden in die Vernichtungslager im Osten. Grete Weil tritt in Kontakt zu Widerstandsgruppen, fertigt Fotos für die Fälschung von Personalausweisen an.
Im Februar 1941 wird in Amsterdam der sog. „Joodse Raad“ (Jüdische Rat) gegründet, der sich zum Ziel setzt, den Juden und dem jüdischen Leben in den Niederlanden ein Ende zu setzen im Sinne der deutschen Besatzer. Nach der Schließung von Grete Weils Fotostudio durch die Nationalsozialisten im gleichen Jahr, arbeitet sie – aus strategischen Gründen, um ihre Mutter und sich vor den Nationalsozialisten zu schützen – notgedrungen im Joodse Raad als Fotografin. Als Mitglied desselben Rates, der mit der von der SS in Amsterdam geführten Zentralstelle für jüdische Auswanderung zusammenarbeitet, ist Grete Weil bis zu dessen Auflösung im September 1943 (Abschluss der Massendeportation und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden) vor einer persönlichen Deportation geschützt.
Am 29. September 1943 steht ihre eigene Deportation unmittelbar bevor. Es gelingt ihr zu fliehen. In letzter Minute taucht sie in der Wohnung von Herbert Meyer-Ricard, dem Freund ihres ermordeten Mannes unter. Dieser ist vor einer Deportation geschützt, weil er aufgrund der Art seiner jüdischen Herkunft als sog. „Mischling“ gilt. 17 Monate versteckt sie sich in seiner Wohnung mitten in Amsterdam hinter einer Bücherwand. Sie hilft ihm Tonfiguren für seine Spielzeugfirma herzustellen und zu bemalen, die dann in Amsterdamer Geschäften und Kaufhäusern verkauft werden.
Gründung der Widerstandsgruppe „Hollandgruppe Freies Deutschland“
Grete Weil, Hebert Meyer-Ricard, Vera O. Haymann und Ulrich Rehorst gründen 1943 die deutsch-holländische Widerstandsgruppe „Hollandgruppe Freies Deutschland“, die eng mit der niederländischen Widerstandsbewegung verknüpft ist und parallel zu ihr arbeitet. Die „Hollandgruppe Freies Deutschland“ will das demokratische und internationale Denken in deutschen Kreisen fördern, gegen den Hitler-Terror vorgehen und das deutsche Volk über die Schrecken informieren, die die Nationalsozialisten während des Krieges in den Niederlanden begangen haben und begehen. Der Kreis an Mitarbeitern und Förderern der Gruppe zählt schnell 180 Personen. Die deutschen und niederländischen Mitglieder rekrutieren sich aus verschiedenen politischen und konfessionellen Lagern. Alle sind Gegner des Faschismus und sozialistisch orientiert. Die Hollandgruppe verfolgt eine doppelte Zielsetzung. Zum einen geht es ihr um eine zügige Beendigung des Weltkrieges und den damit verbundenen Sturz des NS-Regimes. Darüber hinaus erblickt die Gruppe eine Verpflichtung zur antifaschistischen Neugestaltung Deutschlands und sucht um Verständnis und Unterstützung des „anderen“ Deutschland in den Niederlanden. Seit 1945 schaltet sie sich in die Neuordnungsdebatte mit eigenen, allgemeinen Vorgaben zur gesellschaftlichen Struktur im Nachkriegsdeutschland ein, um die deutschen Wehrmachtssoldaten zur Desertion zu ermutigen.
Während ihrer Zeit im Versteck nimmt Grete Weil ihr seit 1933 ruhendes Schreiben wieder auf. Für die Widerstandsgruppe schreibt sie Theaterstücke, in denen sie ihre Erfahrungen im Amsterdamer Exil und im Untergrund verarbeitet, darunter das Theaterstück Weihnachtslegende 1943, das zusammen mit einem weiteren unter dem Pseudonym „B. v. Osten“ entstehenden Stück Das gefesselte Theater – Het marionettentooneel der „Hollandgruppe“ speelt voor onderduikers (dt. Das Marionettentheater der „Hollandgruppe“ spielt für Untergetauchte) als Privatdruck und erste Veröffentlichung Grete Weils 1945 in Amsterdam erscheint.
Das Ende der NS-Herrschaft erlebt Grete Weil in der Prinsengracht bei einer Freundin. Nach der Befreiung durch die Alliierten bleibt sie noch in Amsterdam. Auch ihre Mutter und ihr Bruder haben den Holocaust überlebt. Als Staatenlose dürfen sie vorerst nicht nach Deutschland zurückkehren. So versucht Grete Weil zunächst in Amsterdam die pharmazeutische Fabrik ihres ermordeten Mannes wieder aufzubauen.