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Franziska zu Reventlow 1905 © Münchner Stadtmuseum, Fotomuseum

Kaulbachstr. 63a: Die Schwabinger WG

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Kaulbachstraße 63a, Ölbild von Franziska zu Reventlow 1904 © Münchner Stadtmuseum, Graphische Sammlung.

Im Sommer 1903 planen Franziska zu Reventlow, der polnisch-litauische Künstler Bohdan von Suchocki (1862-nach 1955) und der Student Franz Hessel eine Wohngemeinschaft. Der Grund ist ganz pragmatisch: die Finanzen. Der Plan: „Mit dem, was Hessel besitzt und Such verdient, kommen wir so heraus, dass ich ganz umsonst lebe und nichts zu tun brauche, wie dem Haushalt etwas auf die Finger sehen.“ (Briefe, S. 426) Im November können sie ein Häuschen in der Kaulbachstraße 63a beziehen. Das Zusammenleben gestaltet sich problematisch: „Such“ ist der einzige Mann, mit dem Reventlow eine tiefe, aber wegen dessen Auswanderung 1907 unerfüllte, Liebe verbindet. Mit Franz Hessel dagegen versteht sie sich nicht gut. Er ist ihr ein ständiges Ärgernis, sie nennt ihn nur „Hesslfranz“ und „schwarzer Käfer“. Der Ort des „Lebenskommunismus“ (Tagebuch, S. 295) ist bis Sommer 1906 unkonventioneller Treffpunkt der Münchner Boheme. In mehreren Kapiteln von Herr Dame beschreibt Franziska zu Reventlow Episoden ihres Zusammenlebens.

Trotz aller Schwierigkeiten haben sie und Hessel im März 1904 ein gemeinsames Projekt: Sie erfinden den Schwabinger Beobachter, hektografierte Flugblätter, die nachts in Briefkästen verteilt werden. Die Autoren parodieren Sprache, Theorien und Auseinandersetzungen der Kosmiker und distanzieren sich gleichzeitig davon. Anlass sind vermutlich die antisemitischen Anfeindungen aus der Gruppe. Wer sich auskennt, weiß, wer gemeint ist. Oskar A. H. Schmitz arbeitet an Heft 2 und 3 mit und lobt die „Unnachahmlichkeit des von Hessel und der Gräfin Fanny gefundenen Tones, wie ihn nur die seltene Dreiheit von kluger Weltüberlegenheit, echter Bildung und guter Kinderstube ermöglicht.“ (zit. n. Nieradka, S. 46) Erich Mühsam weiß:

Die Betroffenen sollen sehr entsetzt gewesen sein, als sie herausbekamen, daß die Haupttäterin die allseits umschwärmte Reventlow war; denn sie hatte das affektierte Getue derart lächerlich gemacht, daß von Weihe und Glorie noch Jahre später einiger Respekt abgebröckelt war. (Namen, S. 115)

Der Titel des ersten Blattes lautet „Blätter für die beeindruckende Tagesschreiberei“. Schreibweise und Stil der Kosmiker werden übernommen und zur Schau gestellt, internes Wissen wird verraten:

Angesichts einer immer breiter werdenden Anteilnahme (interesse) an dem bewegten leben der nördlichen Stadtteile münchen wird das bedürfniss nach einer vermittelnden stimme (organ) im öffentlichen (publikum) immer reger. Der „schwab. beobachter“ hat es sich zur aufgabe gesetzt, auch weitere Kreise des volkes (mob) über die neue fühlweise und ihren ausdruk in kunst und schönem leben auf dem schwebenden zu halten. (S. 15)

Auch für Franziska zu Reventlow gibt es eine Annonce: „Standesperson sucht kost- und schlafgänger, bevorz. leisetreter. offerten unter nelly goldensterne“ (Männerrunde, S. 22) ebenso wie für die Kaulbachstraße: „in welcher verteilung pflegen die bewohner der kaulbachstrasse ihre nächte zuzubringen? Und wieviele combinationen ergeben sich daraus?“ (S. 23)

„Warte, Schwabing, warte. / Dich holt Jesus Bonaparte“ heißt der zweite Beobachter. Dieses Heft zielt auf Ludwig Derleth, einen Gegenspieler der Kosmiker. Er sieht einen „Christus imperator maximus“ an der Spitze einer neuen Weltordnung. Im dritten Beobachter wird in einer „Schwabinger Walpurgisnacht“ unter der Parole „Hie gut schwabing alle wege“ (S. 35) das kosmische Treiben persifliert. Ein viertes Heft stammt nicht mehr von Reventlow und Hessel, sondern vermutlich von Roderich Huch.

 


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Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Adelheid Schmidt-Thomé