Adalbertstraße 12 (Studentenzimmer 1) und 15 (Buchhandlung Steinicke)
In der nahen Akademiestraße finden sich gleich zwei Adressen mit Brecht-Bezug. Im Herbst 1917 begann Brecht in München ein Studium der Medizin und Theaterwissenschaft. Nach einem ersten Logis bei einer Tante seines Freundes und späteren Bühnenbildners Caspar Neher (1897-1962) in der Maximilianstraße 43 fand er von Ende November 1917 bis April 1918 seine erste eigene Wohnung in der Adalbertstraße 12/I direkt hinter der Universität [Abb. 5].[5] Durch das Studium „in Laboratorium, Universität und Theater“ geriet er freilich so sehr in ein „System von Verspätungen“, dass er, wie er freimütig an einen Freund schrieb, schon morgens früh um 6 Uhr „nahezu vierundzwanzig Stunden Verspätung habe. [...] Nächstens stehe ich in der Frühe einfach nicht mehr auf. [...] Das Leben ist eine Rutschbahn.“[6] Das Schlusswort aus Wedekinds Hochstapler-Drama Der Marquis von Keith (1901) zeigt, wie sehr Brecht sich damals bereits Wedekinds Texte zu eigen gemacht hatte.
Mit Wedekind traf Brecht damals wiederholt zusammen, so im Seminar des „Theaterprofessors“ Artur Kutscher im Herbst 1917,[7] als Wedekind sein Drama Herakles vorlas, bei Wedekinds letzter öffentlicher Lesung am 10. Januar 1918 in der Bonbonniere an der Neuturmstraße 5[8] und zuletzt in der Buchhandlung von Georg („Papa“) Steinicke, Adalbertstraße 15/0 (heute Neubau, Mario Pizzeria) [Abb. 6a/b].[9]
Abb. 6a: Adalbertstraße 15 (Neubau). Foto: Dirk Heißerer. Abb. 6b: Adalbertstraße 15 (Neubau), Gedenktafel (Eberhard Luttner, 1972) für Georg Steinicke (1877-1939), den Buchhändler und Betreiber einer Kleinkunstbühne. Foto: Dirk Heißerer.
Anlass war dort am 29. Januar 1918, wenige Wochen vor Wedekinds Tod am 9. März 1918, die „Abschiedsfeier des Kutscher-Seminars“,[10] wie seinem Nachruf in den Augsburger Nachrichten zu entnehmen ist. Darin bekannte der 20-jährige Student, wie sehr er sich von Wedekind hatte anregen lassen und wie ihn der mehr als 30 Jahre Ältere in seiner Vitalität beeindruckt habe: „Er las zweieinhalb Stunden, ohne auszusetzen, ohne ein einziges Mal die Stimme zu senken – und was für eine starke, eherne Stimme war das! […] Er schien nicht sterblich.“[11] Die Nachricht vom Tode Wedekinds traf Brecht umso überraschender, schien Wedekind bei Steinicke doch noch „völlig gesund“[12] gewesen zu sein. Damals habe Wedekind, wie sich Brecht erinnert, „angeregt“ gewirkt, habe „auf unseren Zuruf drei seiner schönsten Lieder zur Laute“ gesungen, und zwar „ziemlich spät nach Mitternacht. Bevor ich nicht gesehen habe, wie man ihn begräbt, kann ich seinen Tod nicht fassen. Er gehörte mit Tolstoi und Strindberg zu den großen Erziehern des neuen Europa. Sein größtes Werk war seine Persönlichkeit.“[13]
Zur Station 4 von 11 Stationen
[5] Vgl. Jesse, Horst: Brecht in München. München 1994, S. 9; Heißerer, Dirk/Jung, Joachim: Bertolt Brecht. In: Dies.: Ortsbeschreibung. Tafeln und Texte in Schwabing. Ein Erinnerungsprojekt. München 1998, S. 19; Heißerer, Dirk: Trommeln in der Nacht. Brecht in München. In: Ders.: Wo die Geister wandern. Literarische Spaziergänge in Schwabing. München 2008, S. 278-284, hier S. 279.
[6] B. Brecht: Postkarte an Heinz Hagg, München, 23. November 1917. In: GBA (Anm. 1) 28, Nr. 23, S. 38.
[7] Bertolt Brecht: Frank Wedekind [12.03.1918]. In: GBA (Anm. 1) 21, Schriften 1, S. 35f.; vgl. Hecht, Werner: Brecht Chronik. 1898-1956. Frankfurt/M. 1997, S. 52 (zum 29. Januar 1918).
[8] Vgl. Heißerer, Dirk: Die lachende Dame. Brecht und Heinrich Mann bei Wedekinds letzter Lesung. In: Dreigroschenheft (Augsburg), Jg. 22, H. 3/2015, S. 13-17. Die Veranstaltung ist nicht in Hechts Brecht Chronik (vgl. Anm. 7) aufgeführt.
[9] Vgl. Hecht: Brecht Chronik (Anm. 7).
[10] Bertolt Brecht: Frank Wedekind (Anm. 7), S. 36.
[11] Ebenda, S. 36f.
[12] Ebenda, S. 36.
[13] Ebenda.
In der nahen Akademiestraße finden sich gleich zwei Adressen mit Brecht-Bezug. Im Herbst 1917 begann Brecht in München ein Studium der Medizin und Theaterwissenschaft. Nach einem ersten Logis bei einer Tante seines Freundes und späteren Bühnenbildners Caspar Neher (1897-1962) in der Maximilianstraße 43 fand er von Ende November 1917 bis April 1918 seine erste eigene Wohnung in der Adalbertstraße 12/I direkt hinter der Universität [Abb. 5].[5] Durch das Studium „in Laboratorium, Universität und Theater“ geriet er freilich so sehr in ein „System von Verspätungen“, dass er, wie er freimütig an einen Freund schrieb, schon morgens früh um 6 Uhr „nahezu vierundzwanzig Stunden Verspätung habe. [...] Nächstens stehe ich in der Frühe einfach nicht mehr auf. [...] Das Leben ist eine Rutschbahn.“[6] Das Schlusswort aus Wedekinds Hochstapler-Drama Der Marquis von Keith (1901) zeigt, wie sehr Brecht sich damals bereits Wedekinds Texte zu eigen gemacht hatte.
Mit Wedekind traf Brecht damals wiederholt zusammen, so im Seminar des „Theaterprofessors“ Artur Kutscher im Herbst 1917,[7] als Wedekind sein Drama Herakles vorlas, bei Wedekinds letzter öffentlicher Lesung am 10. Januar 1918 in der Bonbonniere an der Neuturmstraße 5[8] und zuletzt in der Buchhandlung von Georg („Papa“) Steinicke, Adalbertstraße 15/0 (heute Neubau, Mario Pizzeria) [Abb. 6a/b].[9]
Abb. 6a: Adalbertstraße 15 (Neubau). Foto: Dirk Heißerer. Abb. 6b: Adalbertstraße 15 (Neubau), Gedenktafel (Eberhard Luttner, 1972) für Georg Steinicke (1877-1939), den Buchhändler und Betreiber einer Kleinkunstbühne. Foto: Dirk Heißerer.
Anlass war dort am 29. Januar 1918, wenige Wochen vor Wedekinds Tod am 9. März 1918, die „Abschiedsfeier des Kutscher-Seminars“,[10] wie seinem Nachruf in den Augsburger Nachrichten zu entnehmen ist. Darin bekannte der 20-jährige Student, wie sehr er sich von Wedekind hatte anregen lassen und wie ihn der mehr als 30 Jahre Ältere in seiner Vitalität beeindruckt habe: „Er las zweieinhalb Stunden, ohne auszusetzen, ohne ein einziges Mal die Stimme zu senken – und was für eine starke, eherne Stimme war das! […] Er schien nicht sterblich.“[11] Die Nachricht vom Tode Wedekinds traf Brecht umso überraschender, schien Wedekind bei Steinicke doch noch „völlig gesund“[12] gewesen zu sein. Damals habe Wedekind, wie sich Brecht erinnert, „angeregt“ gewirkt, habe „auf unseren Zuruf drei seiner schönsten Lieder zur Laute“ gesungen, und zwar „ziemlich spät nach Mitternacht. Bevor ich nicht gesehen habe, wie man ihn begräbt, kann ich seinen Tod nicht fassen. Er gehörte mit Tolstoi und Strindberg zu den großen Erziehern des neuen Europa. Sein größtes Werk war seine Persönlichkeit.“[13]
Zur Station 4 von 11 Stationen
[5] Vgl. Jesse, Horst: Brecht in München. München 1994, S. 9; Heißerer, Dirk/Jung, Joachim: Bertolt Brecht. In: Dies.: Ortsbeschreibung. Tafeln und Texte in Schwabing. Ein Erinnerungsprojekt. München 1998, S. 19; Heißerer, Dirk: Trommeln in der Nacht. Brecht in München. In: Ders.: Wo die Geister wandern. Literarische Spaziergänge in Schwabing. München 2008, S. 278-284, hier S. 279.
[6] B. Brecht: Postkarte an Heinz Hagg, München, 23. November 1917. In: GBA (Anm. 1) 28, Nr. 23, S. 38.
[7] Bertolt Brecht: Frank Wedekind [12.03.1918]. In: GBA (Anm. 1) 21, Schriften 1, S. 35f.; vgl. Hecht, Werner: Brecht Chronik. 1898-1956. Frankfurt/M. 1997, S. 52 (zum 29. Januar 1918).
[8] Vgl. Heißerer, Dirk: Die lachende Dame. Brecht und Heinrich Mann bei Wedekinds letzter Lesung. In: Dreigroschenheft (Augsburg), Jg. 22, H. 3/2015, S. 13-17. Die Veranstaltung ist nicht in Hechts Brecht Chronik (vgl. Anm. 7) aufgeführt.
[9] Vgl. Hecht: Brecht Chronik (Anm. 7).
[10] Bertolt Brecht: Frank Wedekind (Anm. 7), S. 36.
[11] Ebenda, S. 36f.
[12] Ebenda, S. 36.
[13] Ebenda.