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Fragment Oberpfalz, dunkle Mühle, Flossenbürg und mehr

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Parallel zu anderen Projekten begleitete mich ab 2005 ein sehr persönliches Thema. Über etliche Jahre beschäftigte ich mich intensiv mit der Geschichte der Familie meiner Frau Friederike Gollwitzer. Am Anfang dieser etwas anderen Ahnenforschung standen die Erinnerungen ihres 1868 geborenen Großvaters Karl, festgehalten auf altem Packpapier, gebrauchten Briefumschlägen und vergilbten Zetteln. Er stammte aus der Einöde Mohrenstein, einer Mühle unweit von Flossenbürg in der Oberpfalz. Ich verfolgte die Spuren der Vettern der weit verzweigten Familie und erschloss mir nach und nach eine ungewöhnliche Perspektive auf hundert Jahre deutsche Geschichte. Während der umfangreichen Recherche verbesserte sich die Quellenlage durch das Internet von Jahr zu Jahr. Gab es zu Beginn meiner Arbeit nur zwei, drei Hinweise auf Johannes Stark, den Physiknobelpreisträger von 1919, fand ich im World Wide Web ein Antiquariat, das seine persönlich diktierten Memoiren zu einem erschwinglichen Preis anbot. So konnte ich ein authentisches Kapitel über die Reise zur Nobelpreisverleihung schaffen, beschrieben aus der Perspektive von Johannes Stark, der eine „arische Physik“ vertrat und später spöttisch hinter der Hand „Reichsphysikführer“ genannt wurde.

Im Fährhafen von Saßnitz auf der Insel Rügen trafen sich fünf honorige Herren, die Mehrzahl von ihnen in Damenbegleitung. Alle fünf Männer hatten das gleiche Ziel: Stockholm. Wohl kaum einer der Mitreisenden ahnte, dass er sich in Gesellschaft der Elite der deutschen Wissenschaft befand, denn die Fünf, die sich dort zur gemeinsamen Reise verabredet hatten, waren alle Nobelpreisträger:

Max von Laue (Physik 1914), Richard Willstätter (Chemie 1915), Fritz Haber (Chemie 1918), Max Planck (Physik 1918) und Johannes Stark (Physik 1919). Aufgrund des Weltkriegs waren die Nobelpreisverleihungen ausgesetzt und von den maßgeblichen Stockholmer Stellen auf den Frühsommer 1920 verlegt worden.

Das Web wurde mehr und mehr meine beste Quelle und so verfolgte ich über Passagierlisten und Zensusunterlagen die Spur der Auswanderer der Familie bis nach Cleveland, Ohio. Dazwischen suchten wir in der realen Welt nach Erinnerungspunkten wie das Pfarrhaus in Berlin Dahlem, in dem der Theologe und Widerstandskämpfer Helmut Gollwitzer als Mitglied der bekennenden Kirche wirkte. Wichtige Anlaufstelle wurde immer wieder die „dunkle Mühle“ Mohrenstein. Die Mühle selbst ist zwar einem Wohnhaus gewichen, doch die Nachkommen betreiben immer noch Landwirtschaft und Viehzucht und pflegen ihre Fischweiher und Bienenstöcke.

Über die Recherche hinaus entwickelte sich ein lebendiger freundschaftlicher Kontakt, der bis heute anhält.

Meine Aufgabe war es, die vielen einzelnen Stränge und Verzweigungen unter einen Hut zu bekommen und so machte ich die Spurensuche selbst zum roten Faden, erzählte unsere Geschichte der Recherche mit allen Wegen und Abwegen und machte meine Frau und mich zur Klammer des Buchs.

Kontakte mit zwei Verlagen verliefen leider negativ, man verlangte nach „in der Geschichte handelnden Hauptpersonen“ und deren Interaktionen. Auch mit meiner Bezeichnung „dokumentarischer Episoden-Roman“ konnten die Lektoren nichts anfangen.

So beschloss ich, wieder einmal das Verfahren abzukürzen und das Buch 2011 selbst zu publizieren. Ende des Jahres erhielt ich die Nachricht, dass der Verleger Vito von Eichborn Die dunkle Mühle gerne herausgeben würde und so erschien der Roman im März 2012 als Buch des Monats in seiner Edition.

In seinem Vorwort schrieb er: „Ja, es stimmt, der Autor macht alles, was man nicht darf. Er hält sich an keine Gattung und bastelt ein Mosaik ganz unterschiedlicher Texte. Formal mischt er Briefe und ein Manuskript aus dem 19. Jahrhundert mit Erlebnissen zu verschiedenen Zeiten, legt einen heutigen Rahmen darum und springt inhaltlich durch Episoden eines Jahrhunderts. Und dennoch: Für den Leser wird dies zu einer Familiensaga, Dokument und Roman in einem. Und es gelingt ...“

 


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Verfasst von: Gerd Scherm

Externe Links:

Die dunkle Mühle