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Advent im Kindergarten. Der Zweite von links: Gerd Scherm

Fragment Colmberg-Binzwangen und Rothenburg

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Binzwangen bei Colmberg auf der Frankenhöhe. Ein Fachwerkgehöft aus dem 17. Jahrhundert ist Schaffenszentrum des umtriebigen Künstlers und Schriftstellers.

Heimat finden

Ein Kreuzungspunkt
im Netzwerk des Lebens
Ein Ort, der unsere Zeichen trägt
an dem wir Hoffnungen bevorraten
und Zuversicht schöpfen
vor dem Hinausgehen in die Welt

Ein Ort, der uns Ruhe gibt
an dem wir Freunde treffen
und Visionen leben
Ein Ort, der so lebendig ist
und träumend still
mit Platz zum Erinnern

Kurz nach dem Umzug von Fürth auf die Frankenhöhe erinnerte ich mich mehr und mehr an meine Kindheit und Jugend. Vielleicht braucht es nicht nur die zeitliche, sondern auch die räumliche Distanz, um einen klaren Blick auf die eigene Vergangenheit zu bekommen. Je mehr ich schrieb, desto mehr Ereignisse und Personen tauchten in meinen Erinnerungen auf. Viele Geschehnisse kamen mir nun skurril vor, andere lösten Wehmut aus und wieder andere brachten mich zum Schmunzeln. Ich schickte der Stadtheimatpflegerin Barbara Ohm das Manuskript und sie schrieb: „Ich mag dieses Büchlein: Das liegt nicht nur am Inhalt, viel mehr noch macht das die Sprache aus, die Stimmungen nachvollziehbar macht, die Distanz wahrt und doch Nähe schafft. Ganz behutsam schreibt hier ein geborener Fürther, wie er das Fürth seiner Jugend erlebt hat. Mir gefällt das gut, weil ich viele Dinge erfahre, die ich niemals in den Quellen finden kann, Fakten, Ereignisse, Zeitstimmungen, die sich dem zugereisten Fürther verschließen. Alle diese Geschichten sind ein Lesevergnügen.“

Die erste Ausgabe 1997 trug den Titel Die Karpfenburg, die zweite, doppelt so umfangreiche von 2002 nannte ich Hoffen kostet nichts. Fast alle Geschichten erschienen auch nach und nach in den Fürther Nachrichten. Illustriert wurden die Bücher mit Fotos aus Familienalben und aus den Archiven der Fotografen Ferdinand Vitzethum und Fritz Wolkenstörfer.

Gesundheitlich bekam ich in jener Zeit mehr und mehr Probleme. Ich litt (und leide) an Arteriosklerose und meine Gehleistung nahm rapide ab. Je stärker die Einschränkungen wurden, desto mehr Raum nahmen nun Kopfreisen ein. Das führte letztendlich dazu, dass ich nach dreißig Jahren Anlauf und Stapeln von abgebrochenen Manuskripten endlich meinen ersten Roman vollenden konnte:

Der Nomadengott. Darin geht es, vereinfacht gesagt, um einen etwas anderen Auszug aus Ägypten, um einen sehr kleinen Gott und einen widerstrebenden Propheten. Es ist eine Parodie auf die allseits bekannte Geschichte, die hier ganz anders abläuft. Bereits nach der ersten Verlagsabsage beschloss ich, meinen Roman 2003 selbst zu produzieren. Es wurde der erste selbstverlegte Titel, der für den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar nominiert wurde und hinter Tintenherz von Cornelia Funke den zweiten Platz belegte. Der Nomadengott wurde auf der Leipziger Buchmesse 2004 mit dem BoD Autoren Award ausgezeichnet, erhielt zahlreiche Rezensionen im deutschsprachigen Raum und die Nürnberger Zeitung druckte ihn als täglichen Fortsetzungsroman. Bald meldete sich der Heyne Verlag bei mir und sagte, dass man den Roman gerne übernehmen würde. Die zweite Frage am Telefon lautete „Können Sie sich eine Fortsetzung vorstellen?“ Ich konnte. Es folgten die Romane Die Irrfahrer (2007) und Die Weltenbaumler (2008).

Zum bereits geplanten vierten Band der Nomadengott-Saga kam es (bisher) nicht, da ich meinen Arbeitsschwerpunkt aufs Theater und andere Projekte verlagerte. Inzwischen sind die drei Heyne-Titel vergriffen und in einer Neuausgabe beim Verlag p.machinery erschienen.

Einschub: Wenn das Schicksal zuschlägt.

Wenige Monate nach Erscheinen im extrem heißen Sommer 2003 bekam ich die Diagnose „Krebs“. Es folgte ein Wechselbad der Gefühle – einerseits trafen ständig neue positive Rezensionen und Reaktionen ein, andererseits empfand ich meine Situation als bedrückend. Für Januar 2004 planten die Ärzte eine Operation, die sich aufgrund meiner Vorerkrankungen jedoch als undurchführbar erwies. So ging ich durch die Mühlen einer langen täglichen Strahlentherapie. Vier Wochen nach deren Ende erlitt ich einen Herzinfarkt und landete in der Uniklinik Erlangen, wo ich drei Bypässe bekam. Es ging mir hundsmiserabel, ich nahm kaum etwas zu mir und ich wurde immer apathischer. Kurz vor Weihnachten konnte meine Frau das Ganze nicht länger ansehen und holte mich nach Hause. Langsam erholte ich mich, aber mein Kopf war wie leergefegt und ich zweifelte an meiner Fähigkeit jemals wieder literarisch schreiben zu können. In der Vergangenheit verfasste ich immer wieder satirische und auch paradoxe Minihörspiele und Texte, mit dieser kleinen überschaubaren Form wollte ich den Wiedereinstieg versuchen. Und er gelang. Im Herbst 2005 erschien dann das kleine Bändchen Das Brevier der allerletzten Wahrheiten.

Besonders freute mich, als Peter Horst Neumann, Direktor der Abteilung Literatur der Bayerische Akademie der Schönen Künste, über das Brevier schrieb: „Seit Hildesheimers Lieblosen Legenden hat keiner unser Bildungswissen so geistreich-vergnüglich auf den Kopf gestellt“ und mich einen „wunderbaren Satiriker“ nannte.

Ich war zurück!

Bei allen überregionalen Aktivitäten wurde meine unmittelbare Umgebung im westlichen Mittelfranken zentraler Schauplatz von Lesungen, Vorträgen und Ausstellungen. Direkt im Dorf Binzwangen machte ich im ehemaligen Dorfschulhaus mehrere Lesungen, auf der in Sichtweite gelegenen Burg Colmberg organisierte ich eine Lesereihe mit fränkischen Autoren.

Im Fränkischen Freilandmuseum in Bad Windsheim durfte ich mit meiner Frau Friederike über die Jahre immer wieder mit Lesungen Gast in pittoresken Schauplätzen sein – im großen Mittelalter-Haus, im Gasthaus Hirschen, im Jagdschlösschen und in der Unterschlauersbacher Mühle, die den idealen Rahmen bot für die Vorstellung meines dokumentarischen Episodenromans Die dunkle Mühle.

Links: Fränkisches Freiland Museum: Unterschlauersbacher Mühle; rechts: Konzeptausstellung „Die neun Kreise der Hexe Antra“

Rothenburg ob der Tauber bietet eine Vielzahl interessanter Veranstaltungsorte von denen ich im Lauf der Zeit etliche nutzen durfte. Herausragend war sicher die Konzeptausstellung „Die neun Kreise der Hexe Antra“ gemeinsam mit Otmar Alt und Jean-Marie Bottequin. Wir zeigten Bilder, Fotokunst, Grafik, Keramiken, Glasobjekte, magische Artefakte und Lyrik. Das Projekt entstand als Kooperation des Mittelalterlichen Kriminalmuseums mit dem Braunschweigischen Landesmuseum, wo die Ausstellung im Anschluss gezeigt wurde.

Achter Kreis: Vom Leben

Auf einem Auge gesehen
hineingeworfen
getrieben
hinweggenommen

Auf anderem Auge gesehen
hineintreten
gestalten
hinweggehen

Lasst uns Biber sein
und Burgen errichten
behauste Wesen
beheimatet am Lebensfluss

Lasst uns Spinnen sein
und Netze weben
verknüpfte Wesen
mit Schnittpunkten ohne Zahl

Lasst uns Vögel sein
und Nester bauen
befreite Wesen
von Horizont zu Horizont

Die Stadt Rothenburg selbst und das Taubertal thematisiert der Band Tauberflüstern, illustriert und herausgegeben von Kurt Neubauer mit je sechs Erzählungen von Gerd Berghofer, Anne Hassel, Gerd Scherm und Elmar Tannert. Das ansprechende, sinnliche Buch, erschienen im ars vivendi Verlag, greift alte Sagen und Legenden auf und bringt sie in eine neue Form.

Auf dem höchsten Punkt der Frankenhöhe befindet sich Schloss Schillingsfürst. Es ist immer noch im Besitz derer von Hohenlohe-Schillingsfürst und blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Hier ereigneten sich sehr unterschiedliche Dinge, die mich zu mehreren Texten inspirierten.

Überraschend und kurios zugleich ist sicher die Tatsache, dass hier der Ursprung der französischen Fremdenlegion liegt. Im Schloss gibt es seit 2015 ein eigenes Museum der Legion. Es erläutert mit vielen Schautafeln und Exponaten die Entstehung dieser sagenumwobenen Einheit von der Rekrutierung einer Truppe zur Unterstützung des französischen Königs 1792, über die Wandlung zur „Legion de Hohenlohe“, bis zur Gründung der bis heute existierenden Légion étrangère im Jahre 1831. Während sich dieses ungewöhnliche Museum im Erdgeschoss befindet, kann man im ersten Stock einen Franz Liszt-Raum besichtigen. Kardinal Gustav Adolf von Hohenlohe-Schillingsfürst war ein wichtiger Mann im Leben von Franz Liszt – er war sein Mäzen und Freund. Noch ein Stockwerk höher befindet sich der Festsaal des Schlosses, dem ich durch mehrere Veranstaltungen in angenehmer Weise verbunden bin. Einer der Höhepunkte für mich war dabei die Konzertlesung mit Angela Isidora Leal Rojas (Kolumbien), Violine, und Manuel de Roo (Niederlande), Gitarre, und mir mit Lyrik.

Von links: Gerd Scherm, Angela Isidora Leal Rojas und Manuel de Roo

 


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Verfasst von: Gerd Scherm

Externe Links:

Die neun Kreise der Hexe Antra

Die Nomadengott-Saga