https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbplaces/wasserm_sp_bsb_164.jpg
Radierung von Johann Lindner. Aus: Nord und Süd, 1903 (Bayerische Staatsbibliothek München/Porträtsammlung)

Fürth, Mathildenstraße 17

Im November 1887 zieht die mittlerweile siebenköpfige Familie Wassermann in die Mathildenstraße 17, in deren Hoftrakt sich die Fabrik des Vaters befindet, die „Wassermannsche Chatoullen-Schreinerei“. Der 15-jährige Jakob leidet weiterhin unter seiner strengen Stiefmutter, die jener von Engelhart Ratgeber aus dem gleichnamigen Roman von Jakob Wassermann äußerst ähnlich sieht dank ihrer geradezu märchenhaft bösen Züge:

Ihr ganzes Tun und Lassen war von rätselhaftem Neid durchflutet. Ihre Züge waren zerrissen von Unruhe, Unmut, Ungenügsamkeit und Ehrgeiz, ihr Blick war stechend, ihr Mund bitter und ärgerlich zusammengepresst. Sie war eine Natur, alles Wohlwollens bar, ohne sanftes Verweilen im Augenblick, ohne frauenhaftes Träumen.

Wegen der chronischen Erfolglosigkeit von Vater Ratgeber herrscht stete Geldnot, „die Sparwut der Stiefmutter überschritt jedes Maß, bei den Bekannten der Stadt sprach man offen davon, dass die Ratgeberschen Kinder hungern müssten.“ Ähnlich ergeht es auch Jakob Wassermann, sodass sich die Bekannten der Familie große Sorgen machen und erwirken, dass ein Wiener Onkel dem Jungen regelmäßig Geld zusendet – das er vor seiner Stiefmutter freilich wohl verborgen hält, auch weil er damit nicht nur Essen für die Geschwister, sondern auch Bücher kauft. Aus dieser Not wird Wassermann, so bekennt er in seiner Autobiografie Mein Weg als Deutscher und Jude, zum Erzähler. Denn Jakobs kleiner Bruder Hugo droht beständig, die geheimen Vorräte an die Stiefmutter zu verraten – und lässt sich nur mit guten Geschichten davon abhalten. In Engelhart Ratgeber schildert der Autor eine recht ähnliche Verbindung zwischen Engelhart und seinem kleinen Bruder Abel:

Engelhart hatte ihn wegen kleiner Verrätereien, durch die sich Abel bei der Stiefmutter ein Stück Brot oder ein gutes Wort erkaufte, vielfach zu fürchten, doch hatte er schließlich ein Mittel gefunden, durch das er den Bruder im Zaum halten und an sich fesseln konnte: er erzählte ihm allabendlich vor dem Einschlafen Geschichten, Märchen und Abenteuer, die er gelesen hatte, und als ihm der Vorrat ausging, fing er an, selbsterfundene Geschichten zu erzählen, und zwar solche, die er nicht zu Ende führte, sondern in schlauer Manier stets im spannendsten Moment mit der Zeitungsphrase abbrach: Fortsetzung folgt morgen.

In Mein Weg als Deutscher und Jude urteilt der Autobiograph:

Es war das Verfahren der Scheherasade ins Kleinbürgerliche übertragen; schlummernder Keim, befruchtet durch Zufall und Gefahr. Scheherasade erzählt, um ihr Leben zu retten, und während sie erzählt, wird sie zum Genius schlechthin; ich – nun, um mein Leben ging es nicht, aber das Fieber des Fabulierens ergriff auch mich ganz und gar und bestimmte Denken und Sein. Es dauerte nicht lange, bis es mir Bedürfnis wurde, die eine oder andere der nächtlich erzählten Geschichten aufzuschreiben.

Auch dieses Aufschreiben muss nachts geschehen, denn die Stiefmutter „sah die pure Tagedieberei darin und warf alle beschriebenen Blätter, deren sie habhaft werden konnte, ins Feuer“. Also sitzt der Fünfzehnjährige nachts am Fenster und schreibt – und bemerkt deshalb jenen Brand als Erster, der in der Wassermannschen Chatoullen-Fabrik ausbricht. Er schlägt Alarm, „und als ich den Vater mit entsetzten Mienen, halb angekleidet, die Stiegen hinuntersteigen sah, bildete ich mir ein, er werde durch dieses Unglück für seine Härten bestraft.“

 


Zur Station 7 von 9 Stationen


 

Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek

Verwandte Inhalte
Städteporträts
Städteporträts
Literarische Wege
Literarische Wege