Joe Hurts
... eigentlich Hans Hurtzmayer, Mitte vierzig, alleinstehend, Musikliebhaber.
Der alte Mann sank mit einem Nicken in sich zusammen. Joe atmete aus. Er entspannte sich und genoss die Musik.
*
Joe war früh losgegangen. Es war nicht weit zur Philharmonie, aber er hatte gern Reserve, Freiraum für Unerwartetes.
Bevor er die Wohnungstür schloss, ging er in Gedanken den Abend durch. Geld, Schlüssel, Instrumentenkoffer. Er hatte alles dabei. Es würde ein schöner Abend werden, niemand würde ihm diesen Genuss nehmen.
Er liebte die Morassistraße, sein Zimmer mit Kochnische, Bad und Balkon. Hinten raus, ruhig, rein. Dreimal die Woche kam Aga zum Putzen.
Er nahm die Treppe, der Schweißgeruch im Aufzug ekelte ihn. Er bog aus dem Hausgang auf die Straße. Der Backstein des Deutschen Patentamts ragte himmelwärts. Er wandte sich links, ging an der Bar vorbei ein paar Schritte zur Ampel. Rot.
Geduld. Die Schwester der Zeit. Das hatte er früh gelernt: Geduld. Als Kind hatte Joe oft warten müssen. Bis seine Mutter morgens nach Hause kam, bis sie nachmittags aufstand, bis die fremden Onkels gingen.
Nur Onkel Karl blieb ihm konstant. Onkel Karl war ein früh pensionierter Feldwebel und bewohnte als Hausmeister den trockeneren Teil des Kellers. Er zeigte Joe seine schwarzen Schätze, wie sie sich drehten und Melodien atmeten. Wenn Joe kam, legte er auf, erzählte ihm von der Musik und von Kameradschaft. Die Musik öffnete Joes Herz. Onkel Karl öffnete den Verschluss seiner Nikon und machte Fotos. Joe auf dem Sofa, verzückt, mal im Pyjama oder in Unterhosen. Nie nackt und nie mit Anfassen.
Eines Tages war Onkel Karl verschwunden. Die Nachbarn tuschelten. Irgendwas mit Kindern und Fotos.
Seine Mutter hatte keine Geduld. Nicht mit ihren Freiern, nicht mit ihm. Zum Achtzehnten setzte sie ihn vor die Tür. Ohne Worte, ohne Schlüssel.
Joe erinnerte sich an keinen Vater, nur an Onkel Karls Geschichten und meldete sich zur Bundeswehr. Zucht und Ordnung. Er sog auf, was seiner Mutter fremd war: Erziehung. Er blieb Einzelgänger, ausgesondert von seinen Kameraden. Seine Leidenschaft wurde das Schießen. Erregung, Konzentration, Erlösung. Joe kam in eine Sondereinheit, wurde Scharfschütze.
Die Ampel schaltete auf grün, Joe querte die Zweibrückenstraße, zur Isar strömende Touristen lärmten vorbei. Motten, angezogen vom Schillern der Museumsinsel in ihren Reiseführern.
Der Inder hatte geöffnet, Kardamom und Masala strömten in den Nachmittag. Joe trat ins Dämmerlicht, nahm sich einen Stuhl mit Blick auf die Straße. Aus der Küche löste sich eine hagere Gestalt, Glatze, Augenringe. Balancierte ein schmales Tablett mit zwei Tassen.
„Wie isses, Joe?“
„Wie immer, Mohan.“
Er kannte den Sohn zugewanderter Inder vom Bund. Der traurige Koch mit der dunklen Haut, ohne Freunde, wie Joe. Sie teilten den Geruch der Außenseiter, Zigaretten und stillen Respekt voreinander. Mohan hatte ihm die Wohnung besorgt und den ersten Job.
Er setzte sich neben ihn. Schweigend sahen sie ins Sommerflimmern, rauchten, tranken Tee. Joe erhob sich, sah wie Mohan seinen Koffer fixierte, nickte. „Danke, Mohan.“
Joe sah das Müllersche Volksbad durch die schweren Kastanien, ging über die Steinsdorfstraße. Noch eine Stunde.
Auf der Ludwigsbrücke wehte Kühle vom Fluss. Vom Bad roch es unsicher nach Chlor. Er sah den Abend in der Sauna, erinnerte sich an Sandra. Sein fettfreier Körper hatte sie angezogen. Sie glänzte ihn an mit ihren Augen, er lud sie auf einen Chai zu Mohan ein, sie nahm ihn mit ins Bett. Joe war ungeübt, er hatte sich nie viel um Frauen gekümmert. Sandra kümmerte sich um ihn.
Sie war Sportstudentin, jobbte in der Philharmonie, sperrte Türen auf, kontrollierte Karten und sperrte Türen zu. Für Geld. Klassik sagte ihr nichts, der Beat ihres mp3-Players schirmte sie ab.
Sie bekam, was sie wollte, seinen Körper. Er wollte ihren und nahm sich mehr: ihre Schlüssel. Er kopierte sie, alle. Joe war befriedigt. Die Philharmonie stand ihm offen.
Und Sandras Wohnung. Sie teilte zwei Zimmer, Küche, Bad mit ihrer Freundin Laura, die beim Sex wie eine Gummiente fiepte. Er ging ungern mit zu Sandra, das Quieken im Nebenzimmer störte seinen Rhythmus. Lieber buchte er ein Zimmer in der Nähe der Philharmonie. Dort verausgabten sie sich nach den Konzerten.
Nach einem halben Jahr wechselte sie ihn gegen einen Bodybuilder aus. Joes Gefühle blieben intakt, seine Männlichkeit bekam einen Riss. Er blieb ruhig, suchte ein Café in Sandras Straße und wartete, bis die Wohnung sturmfrei war. Er nutzte die Kopie ihres Schlüssels und spritzte ihr Anabolika in den Joghurt. Als sie anfing den dunklen Flaum auf ihrer Oberlippe zu rasieren und in den Stimmbruch kam, war sein Stolz gekittet. Der Muskelklotz brachte inzwischen lieber die Ente zum Quietschen.
Joe stand an der Rosenheimer Straße, der Gasteig drohte vor ihm wie ein rostiger Eisberg. Die Kulturvollzugsanstalt. Ihn störte das Äußere nicht, innen fand er, was er suchte. Lange vor dem Zwischenspiel mit Sandra war er Dauergast in den Konzerten, diskutierte mit dem musikomanen Urgestein über Dirigentenfehler, Verbrechen an der Akustik und die drohende Erhöhung der Abonnementpreise. Joe fühlte Heimat. Liebe fühlte er für die Musik, Gefühle für Menschen leistete er sich nicht. In seinem Beruf kam er besser ohne aus.
Nur die Huster. Sie störten die Harmonie. Er hasste sie. Das machte ihn wütend und hilflos, er konnte das Gefühl nicht kontrollieren. Dafür hasste er sie auch. An den schönsten Stellen begannen sie ein Räuspern sostenuto und endeten in einem fulminanten Stickhusten.
Joe trat ins Foyer, suchte den Weg zu Block R. Hier war er fremd, keine Gefahr erkannt zu werden. Steile Treppen, nackter Beton, der höchste Rang.
Hier saßen Studenten und Puristen, ohne Abendgarderobe und ohne Sicht auf den Schweiß beperlten Nacken des Dirigenten. Die Dame an der Tür sah ihn erwartungsfroh an, er eilte an ihr vorbei, eine Entschuldigung lächelnd. An der Herrentoilette hielt er an, sah sich unbeobachtet, sperrte die schmale Stahltür in der Wand gegenüber auf, schob sich durch den Spalt und ließ die Tür leise zugleiten. Er lauschte ins Dunkel der steilen Treppe, die am perfekten Ort endete. Ein Balkon, bestückt mit Scheinwerfern, kaum einzusehen. Er war früh dran, noch waren wenige Zuhörer auf den Rängen, schwirrten vor Aufregung. Der erste Abend mit Lorin Maazel am Pult: Tschaikowskys Konzert für Violine und Orchester, Joe liebte es.
Er öffnete die Tür einen Spalt und schob sie unmerklich auf. Der Saal füllte sich, er konnte die Vorfreude hier oben greifen. Millimeter für Millimeter öffnete er die Tür, erst beim zweiten Gong hatte er sie so weit offen, das er sich flach auf den Balkon schlängeln konnte.
Er entriegelte den lackschwarzen Kasten und klappte den Deckel lautlos zurück. Kaltgeschmiedetes Aluminium schimmerte matt. Ein finnisches Sako, präzise und tödlich.
Der dritte Gong, Joe atmete tief ein, nahm das Gewehr aus dem Koffer, schraubte den Schalldämpfer auf den Lauf und setzte das Zielfernrohr auf den Schaft. Zuletzt legte er die Patrone in den Schlitten. Ein Ziel, ein Versuch, eine Patrone.
Applaus brandete und verebbte, als die Musiker Platz nahmen, die Stimmen ihrer Instrumente justierten und in kurzer Folge Dirigent und Solistin auf die Bühne kamen. Verbeugung, Platz, Ruhe.
Joe blickte auf und sah ihn gleich: Reihe zwölf, Tränensäcke, dunkler Anzug.
Der Hustenmann. Joe hatte mit Geduld gelitten und gelauscht, bis er ihn aus der Masse herausgehört hatte. Der Hustenmann keuchte und räusperte nicht lauter als die anderen, aber sein Stakkato übertraf alle an Eindringlichkeit und Ausdauer. Heute war sein Abschiedskonzert.
Joe spannte das Schlagstück, schloss die Augen und legte an. Die Violinen begannen unmerklich, ab dem dritten Takt setzten die anderen Streicher ein, im siebten die Holzbläser. Das Blech stimmte in Takt vierzehn ein, das Allegro moderato steigerte sich, bis nach zwanzig Takten die Solovioline das Thema erlösend aufnahm. Die anderen Instrumente traten zurück. Ein Wechselspiel begann, das Orchester unterstrich die Violine, antwortete ihr, stachelte sie an, holte ein, überholte, fiel zurück. Lorin Maazel war Leidenschaft, trieb die Musiker zu immer neuen Höhepunkten. Wieder nahmen sich die Instrumente zurück, brachen erneut aus, bis der Triumph in der neunten Minute abbrach und die Violine solo und nahezu lautlos im Raum schwebte. Der Zauber Tschaikowskys, für Joe eine Naturgewalt, für den Hustenmann das Zeichen für seinen Einsatz. Er keuchte erst verhalten, etwas löste sich, er bellte in sein Taschentuch.
Der Zauber starb. Joe visierte durch die Optik, zielte einen Millimeter neben das Einstecktuch, atmete ein, atmete halb aus, hielt die Luft an und drückte ab.
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...
... eigentlich Hans Hurtzmayer, Mitte vierzig, alleinstehend, Musikliebhaber.
Der alte Mann sank mit einem Nicken in sich zusammen. Joe atmete aus. Er entspannte sich und genoss die Musik.
*
Joe war früh losgegangen. Es war nicht weit zur Philharmonie, aber er hatte gern Reserve, Freiraum für Unerwartetes.
Bevor er die Wohnungstür schloss, ging er in Gedanken den Abend durch. Geld, Schlüssel, Instrumentenkoffer. Er hatte alles dabei. Es würde ein schöner Abend werden, niemand würde ihm diesen Genuss nehmen.
Er liebte die Morassistraße, sein Zimmer mit Kochnische, Bad und Balkon. Hinten raus, ruhig, rein. Dreimal die Woche kam Aga zum Putzen.
Er nahm die Treppe, der Schweißgeruch im Aufzug ekelte ihn. Er bog aus dem Hausgang auf die Straße. Der Backstein des Deutschen Patentamts ragte himmelwärts. Er wandte sich links, ging an der Bar vorbei ein paar Schritte zur Ampel. Rot.
Geduld. Die Schwester der Zeit. Das hatte er früh gelernt: Geduld. Als Kind hatte Joe oft warten müssen. Bis seine Mutter morgens nach Hause kam, bis sie nachmittags aufstand, bis die fremden Onkels gingen.
Nur Onkel Karl blieb ihm konstant. Onkel Karl war ein früh pensionierter Feldwebel und bewohnte als Hausmeister den trockeneren Teil des Kellers. Er zeigte Joe seine schwarzen Schätze, wie sie sich drehten und Melodien atmeten. Wenn Joe kam, legte er auf, erzählte ihm von der Musik und von Kameradschaft. Die Musik öffnete Joes Herz. Onkel Karl öffnete den Verschluss seiner Nikon und machte Fotos. Joe auf dem Sofa, verzückt, mal im Pyjama oder in Unterhosen. Nie nackt und nie mit Anfassen.
Eines Tages war Onkel Karl verschwunden. Die Nachbarn tuschelten. Irgendwas mit Kindern und Fotos.
Seine Mutter hatte keine Geduld. Nicht mit ihren Freiern, nicht mit ihm. Zum Achtzehnten setzte sie ihn vor die Tür. Ohne Worte, ohne Schlüssel.
Joe erinnerte sich an keinen Vater, nur an Onkel Karls Geschichten und meldete sich zur Bundeswehr. Zucht und Ordnung. Er sog auf, was seiner Mutter fremd war: Erziehung. Er blieb Einzelgänger, ausgesondert von seinen Kameraden. Seine Leidenschaft wurde das Schießen. Erregung, Konzentration, Erlösung. Joe kam in eine Sondereinheit, wurde Scharfschütze.
Die Ampel schaltete auf grün, Joe querte die Zweibrückenstraße, zur Isar strömende Touristen lärmten vorbei. Motten, angezogen vom Schillern der Museumsinsel in ihren Reiseführern.
Der Inder hatte geöffnet, Kardamom und Masala strömten in den Nachmittag. Joe trat ins Dämmerlicht, nahm sich einen Stuhl mit Blick auf die Straße. Aus der Küche löste sich eine hagere Gestalt, Glatze, Augenringe. Balancierte ein schmales Tablett mit zwei Tassen.
„Wie isses, Joe?“
„Wie immer, Mohan.“
Er kannte den Sohn zugewanderter Inder vom Bund. Der traurige Koch mit der dunklen Haut, ohne Freunde, wie Joe. Sie teilten den Geruch der Außenseiter, Zigaretten und stillen Respekt voreinander. Mohan hatte ihm die Wohnung besorgt und den ersten Job.
Er setzte sich neben ihn. Schweigend sahen sie ins Sommerflimmern, rauchten, tranken Tee. Joe erhob sich, sah wie Mohan seinen Koffer fixierte, nickte. „Danke, Mohan.“
Joe sah das Müllersche Volksbad durch die schweren Kastanien, ging über die Steinsdorfstraße. Noch eine Stunde.
Auf der Ludwigsbrücke wehte Kühle vom Fluss. Vom Bad roch es unsicher nach Chlor. Er sah den Abend in der Sauna, erinnerte sich an Sandra. Sein fettfreier Körper hatte sie angezogen. Sie glänzte ihn an mit ihren Augen, er lud sie auf einen Chai zu Mohan ein, sie nahm ihn mit ins Bett. Joe war ungeübt, er hatte sich nie viel um Frauen gekümmert. Sandra kümmerte sich um ihn.
Sie war Sportstudentin, jobbte in der Philharmonie, sperrte Türen auf, kontrollierte Karten und sperrte Türen zu. Für Geld. Klassik sagte ihr nichts, der Beat ihres mp3-Players schirmte sie ab.
Sie bekam, was sie wollte, seinen Körper. Er wollte ihren und nahm sich mehr: ihre Schlüssel. Er kopierte sie, alle. Joe war befriedigt. Die Philharmonie stand ihm offen.
Und Sandras Wohnung. Sie teilte zwei Zimmer, Küche, Bad mit ihrer Freundin Laura, die beim Sex wie eine Gummiente fiepte. Er ging ungern mit zu Sandra, das Quieken im Nebenzimmer störte seinen Rhythmus. Lieber buchte er ein Zimmer in der Nähe der Philharmonie. Dort verausgabten sie sich nach den Konzerten.
Nach einem halben Jahr wechselte sie ihn gegen einen Bodybuilder aus. Joes Gefühle blieben intakt, seine Männlichkeit bekam einen Riss. Er blieb ruhig, suchte ein Café in Sandras Straße und wartete, bis die Wohnung sturmfrei war. Er nutzte die Kopie ihres Schlüssels und spritzte ihr Anabolika in den Joghurt. Als sie anfing den dunklen Flaum auf ihrer Oberlippe zu rasieren und in den Stimmbruch kam, war sein Stolz gekittet. Der Muskelklotz brachte inzwischen lieber die Ente zum Quietschen.
Joe stand an der Rosenheimer Straße, der Gasteig drohte vor ihm wie ein rostiger Eisberg. Die Kulturvollzugsanstalt. Ihn störte das Äußere nicht, innen fand er, was er suchte. Lange vor dem Zwischenspiel mit Sandra war er Dauergast in den Konzerten, diskutierte mit dem musikomanen Urgestein über Dirigentenfehler, Verbrechen an der Akustik und die drohende Erhöhung der Abonnementpreise. Joe fühlte Heimat. Liebe fühlte er für die Musik, Gefühle für Menschen leistete er sich nicht. In seinem Beruf kam er besser ohne aus.
Nur die Huster. Sie störten die Harmonie. Er hasste sie. Das machte ihn wütend und hilflos, er konnte das Gefühl nicht kontrollieren. Dafür hasste er sie auch. An den schönsten Stellen begannen sie ein Räuspern sostenuto und endeten in einem fulminanten Stickhusten.
Joe trat ins Foyer, suchte den Weg zu Block R. Hier war er fremd, keine Gefahr erkannt zu werden. Steile Treppen, nackter Beton, der höchste Rang.
Hier saßen Studenten und Puristen, ohne Abendgarderobe und ohne Sicht auf den Schweiß beperlten Nacken des Dirigenten. Die Dame an der Tür sah ihn erwartungsfroh an, er eilte an ihr vorbei, eine Entschuldigung lächelnd. An der Herrentoilette hielt er an, sah sich unbeobachtet, sperrte die schmale Stahltür in der Wand gegenüber auf, schob sich durch den Spalt und ließ die Tür leise zugleiten. Er lauschte ins Dunkel der steilen Treppe, die am perfekten Ort endete. Ein Balkon, bestückt mit Scheinwerfern, kaum einzusehen. Er war früh dran, noch waren wenige Zuhörer auf den Rängen, schwirrten vor Aufregung. Der erste Abend mit Lorin Maazel am Pult: Tschaikowskys Konzert für Violine und Orchester, Joe liebte es.
Er öffnete die Tür einen Spalt und schob sie unmerklich auf. Der Saal füllte sich, er konnte die Vorfreude hier oben greifen. Millimeter für Millimeter öffnete er die Tür, erst beim zweiten Gong hatte er sie so weit offen, das er sich flach auf den Balkon schlängeln konnte.
Er entriegelte den lackschwarzen Kasten und klappte den Deckel lautlos zurück. Kaltgeschmiedetes Aluminium schimmerte matt. Ein finnisches Sako, präzise und tödlich.
Der dritte Gong, Joe atmete tief ein, nahm das Gewehr aus dem Koffer, schraubte den Schalldämpfer auf den Lauf und setzte das Zielfernrohr auf den Schaft. Zuletzt legte er die Patrone in den Schlitten. Ein Ziel, ein Versuch, eine Patrone.
Applaus brandete und verebbte, als die Musiker Platz nahmen, die Stimmen ihrer Instrumente justierten und in kurzer Folge Dirigent und Solistin auf die Bühne kamen. Verbeugung, Platz, Ruhe.
Joe blickte auf und sah ihn gleich: Reihe zwölf, Tränensäcke, dunkler Anzug.
Der Hustenmann. Joe hatte mit Geduld gelitten und gelauscht, bis er ihn aus der Masse herausgehört hatte. Der Hustenmann keuchte und räusperte nicht lauter als die anderen, aber sein Stakkato übertraf alle an Eindringlichkeit und Ausdauer. Heute war sein Abschiedskonzert.
Joe spannte das Schlagstück, schloss die Augen und legte an. Die Violinen begannen unmerklich, ab dem dritten Takt setzten die anderen Streicher ein, im siebten die Holzbläser. Das Blech stimmte in Takt vierzehn ein, das Allegro moderato steigerte sich, bis nach zwanzig Takten die Solovioline das Thema erlösend aufnahm. Die anderen Instrumente traten zurück. Ein Wechselspiel begann, das Orchester unterstrich die Violine, antwortete ihr, stachelte sie an, holte ein, überholte, fiel zurück. Lorin Maazel war Leidenschaft, trieb die Musiker zu immer neuen Höhepunkten. Wieder nahmen sich die Instrumente zurück, brachen erneut aus, bis der Triumph in der neunten Minute abbrach und die Violine solo und nahezu lautlos im Raum schwebte. Der Zauber Tschaikowskys, für Joe eine Naturgewalt, für den Hustenmann das Zeichen für seinen Einsatz. Er keuchte erst verhalten, etwas löste sich, er bellte in sein Taschentuch.
Der Zauber starb. Joe visierte durch die Optik, zielte einen Millimeter neben das Einstecktuch, atmete ein, atmete halb aus, hielt die Luft an und drückte ab.
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...