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Larissa

... findet Spuren im Gesicht und eine Brücke zwischen zwei Menschen.

 

Die Straßen sind heute besonders leer. Ruhe breitet sich überall in der Luft aus und sogar die dicken Schneeflocken fallen still und unbemerkt auf den Boden. Larissa schaut in den Autospiegel nach hinten und genießt ihren Lieblingsausblick: das Maximilianeum. Eine 15 cm frische, weiße Schneedecke liegt wie eine Mütze auf dem Dach und die Weihnachtsketten rechts und links hängen lässig nach unten wie goldenes Haar. Die Fensterläden zwinkern ihr halboffen zu. „Frohe Weihnachten“ glaubt sie aus dem riesigen, einladenden Holztor zu hören. Dieses Gebäude hat für Larissa etwas: eine Seele. Jedes Mal beim Vorbeifahren nimmt es für sie unterschiedliche Gestalt an, abhängig von der Uhr- und der Jahreszeit. Sie hat immer das Gefühl, es würde ihr gleich Geschichten und Geheimnisse der Stadt verraten.

“Das Gebäude lebt. Es hat eine eigene Seele”, sagte Larissa eines Tages ihrer besten Freundin, als sie ihr von der Maximiliansbrücke den traumhaften Sonnenuntergang zeigte, der sich in den riesigen Fensterläden des Gebäudes spiegelte.

“So ein Quatsch. Seele. Was soll das?”, schaute sie Larissa entsetzt entgegen. Verständnislos.

Jetzt grinst Larissa bei der Erinnerung. Sie schaut dabei zur Straße, die obwohl sie leer ist, ihre volle Aufmerksamkeit verlangt. Heute ist Weihnachten. Ihr Sohn ist zum Papa gegangen und ihr Freund zu seinen Eltern.

Sie wollte was anderes: keine Geschenke, kein großes Essen. Nicht mal was Aufregendes war ihr im Sinne. Nur was anderes. Was Erfülltes. Sie biegt Richtung Isartor ab. Der Feuerzangenbowlestand hat schon zu. Nur ein paar Leute schlendern entlang des Tals und genießen so wie sie die bunten, geschlossenen Läden und die weihnachtliche Dekoration. Es kann nicht mehr weit sein. Als sie rechts in die Hochbrückenstraße fährt, ist ihr alles klar. Eine Schlange Menschen von über 200 Meter führt sie zum Ziel. Sie parkt gleich dort wo sie ist, und geht weiter zu Fuß. Sie schaut jede einzelne Person an und lächelt ihr zu “Guten Abend, Frohe Weihnachten!”

Es ist eiskalt. Die nassen Schneeflocken kleben schon überall an ihren angerissenen Jacken und an den erschöpften Gesichtern, aber ihre Augen erwidern ihr den Gruß. Leuchtend. Warm.

“Kalt, heute?”, sagt sie grundlos, um die Stille zu brechen, während sie weiter läuft.

“Oh, nein. Der Abend ist wunderschön!” Eine alte Dame greift sich fest an Larissas Arm und lächelt ihr zurück. Ein Lächeln, das dem eines kleinen Kindes gleicht: zahnlos und ungezwungen.

“Ein warmes Essen, Musik,... leuchtende Augen. Sind sie auch dabei?”

Larissa bleibt stehen. Die alte Dame lässt sie nicht los und schaut sie wie gefesselt an. Ihr Gesicht ist eine Karte voller Spuren, die sich in tiefen Ebenen verlieren, und ihre blauen Augen springen heraus wie Brücken zwischen zwei Welten. Geheimnisvoll.

“Ja. Ich helfe heute dort aus.”

Die alte Dame nimmt zügig die zwei Tüten, die am Boden liegen.

“Dann, gehen wir”, fordert sie mit sicherem Ton und dreht sich zu Larissa, um zu gehen. Sie läuft langsam, krumm, wie wenn es sich die Last des Lebens auf ihrem Körper gemütlich gemacht hätte.

“Hallo Angie!”

“Schön dich zu sehen, Angie.”

“Frisch wie immer, Angie.”

Jeder scheint sie zu kennen. Staubige, vernebelte Blicke grüßen sie. Sie schaut schräg hoch zu jedem zurück, so gut wie ihr Körper es erlaubt, und lächelt sie an. Glücklich ist sie. Sie strahlt. Die Treppe des Hofbräuhauses ist für sie eine Herausforderung, aber wie ein kleines Kind nimmt sie jede Stufe einzeln und spielend an.

“Und hopp”, lacht sie, “und ... hopp” ansteckend. Larissa fängt an, sich selbst an den Rhythmus und an das Lachen anzupassen. Alles drum herum verschwindet. Die Zeit bleibt im Jetzt stehen und die Sicht begrenzt sich auf jede einzelne Stufe. Ein Mann öffnet den Damen die Tür zum Saal.

“Wow, ich möchte dort sitzen. Genau dort.”

Zehn ewig lange Tischreihen stehen dekoriert für 1000 Obdachlose vor ihnen. Rechts, auf der Bühne lädt der Tannenbaum mit roten Kugeln ein, näher zu kommen. Genau neben dem Baum will sie sitzen. Larissa schaut nach unten zu ihr. Tränen suchen ihre Wege und glätten nahrhaft ihr Gesicht. Verjüngend.

“Ich möchte meine Augen in den Kugeln leuchten sehen, wenn es dunkel ist und die Kerzen angezündet sind.”

Sie nimmt als erstes Platz. Der Saal ist noch leer. Allein sitzt sie da. Larissa dreht sich um und geht zu den anderen 100 Helfern, die sich für diesen Weg, Weihnachten zu feiern, entschieden haben.

“Und falls ihr als Samariter gekommen seid, um diesen Menschen zu helfen oder sie sogar zu ändern, dann seid ihr hier am falschen Platz”, sagt der Vorsitzende des Obdachlosen Männervereins, gefühlvoll, aber bestimmt.

“Aber wenn ihr hier seid, um mit diesen Menschen zu feiern und zu lachen, so wie sie sind und gewählt haben zu leben, dann danke ich euch von Herzen und freue mich auf diesen wunderschönen Abend.”

Larissas Augen treffen Angies. Eine wortlose Verbindung baut sich zwischen beiden auf. Die alte Dame senkt ihren Kopf, einverstanden. Sie faltet nachdenklich ihre Hände vor ihrem Schoß und sie spürt die vielen unausgesprochen Fragen in Larissas Blick.

Bald füllen sich alle Tische. Kein Stuhl bleibt frei. Jeder sucht und möchte bekannte Gesichter finden. Viele kommen aber nicht: der harte und eisige Winter hat sie sich einverleibt. Sie lachen. Sie essen. Sie trinken. Sie umarmen sich und heulen, wie jeder normale Mensch. Vielleicht intensiver, ausdruckvoller. Larissa rennt durch die engen Reihen mit Gläsern und Tellern in beiden Händen. Niemand drängelt. Jeder wartet ruhig und genügsam mit dem Bier in der Hand. Die Musik der zwei Blondinen auf der Bühne heitert ihren Blick und das Vergessene auf. Das Bier unterstützt sie auch dabei. Der verrauchte geruchvolle Raum wird auf einmal still. Eine Stille, die nicht mal an einem heiligen Platz zu spüren möglich wäre. Das Licht mäßigt sich.

Der Bischof auf der Bühne entzündet die Kerzen am Baum. Seine Hände bewegen sich langsam, von einer zur anderen, und gibt damit den Menschen Zeit, Reue oder Liebe in sich selbst zu finden.

“Lasst uns Weihnachten feiern.” Im Schatten erkennt man eine kleine krumme Frau, die sich dem Mikrofon nähert. Ihre leuchtenden Augen schauen den Kugeln zu, in denen sie sich spiegeln. Jeder schaut hin. Jeder lässt sich von ihrer sanften melodischen Stimme in eine Welt mitreißen, begleitet von ihrem tiefen Blick, der jeden zum Träumen führt. Vertrauensvoll und klar.

Larissa schaut über den Saal und glaubt nicht, was sie sieht. Tausende von Herzen klopfen im Rhythmus, fast störend laut. Niemand zweifelt.

Larissa will nicht mehr laufen: jeder Schritt hallt nach. Sie setzt sich neben einen Mann. Er bückt sich zu ihr, “Die ist Angie”, nippt weiter an seinem Bier.

“Früher war sie Staatsanwältin. Niemand weiß, warum sie diesen Weg eingeschlagen hat. Ihre Vergangenheit ist geheimnisvoller als die Geschichten, die sie erzählt. Geschichten aus dieser Stadt, die dich am Glauben festhalten.”

“Wo wohnt sie?”, fragt Larissa gerührt, aber sie hört ihn kaum noch. Angies Stimme weckt eine Verbindung zu ihr, die kraftvoll alle ihre Sinne zu ihr zieht.

Lächelnd sagt sie: “unter einer Brücke, von der du die schönsten Sonnenuntergänge der Stadt sehen kannst.” Und eine Stimme erzählt ihr dort Geschichten. Geschichten, die sich abhängig von Uhr- und Jahreszeit immer wieder neu erfinden.


Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...

Verfasst von: © Catalina Marzorati-Strauß, 2011

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