Hannah
... denkt nicht in Slogans. Ihr Territorium ist das Weiche, Undefinierbare, die Luft voller Kuchen, Kaffee und Doppeldeutigkeiten.
Hier in der Türkenstraße fielen die zwei jungen Frauen nicht weiter auf. Kaum ein Passant beachtete die Webtasche der einen, aus der eine mysteriöse Papierrolle ragte, oder den indianischen Schmuck der anderen. „Künstlerinnen“ mussten sie sein. Wahrscheinlich von der Akademie unten, dem Alter nach. Oder arbeitete die zweite in einem Juweliergeschäft in der Türken? Irgendetwas in ihrem Gesicht sah reifer aus, als das der ersteren, die Bewegungen ihrer Arme waren weniger kämpferisch, ihre Stimme überschlug sich nicht. Ihre Freundin hingegen kreischte begeistert: „Hanna, du MUSST einfach Vintage tragen! Das wäre so ein geiles Statement, voll green. Aber nicht so schicki-mickie Gärtnerplatz, sondern von irgendeinem Bauern. Landcharme. Retroökologie.“
Hannas Mundwinkel rangen sich ein Lächeln ab. Vintage. Retro. Bauernlook. Das sollte Hannas Hochzeitskleid werden. Sie wusste, dass die Projekte, die ihre Freundin dem Professor in der Akademie vorschlug, oft ähnliche Titel trugen. Was war wohl der Name des neuen, dessen Skizze sie heute in ihrer Tasche mit sich herumtrug? Bundestag goes Schlammschlacht. Blut an den Schaufenstern der Mächtigen. Sex, Haut, Fleisch und Fastfood. Hannas Freundin lebte in Slogans. Vielleicht war das der Unterschied zwischen ihnen. Hanna konnte nicht in Slogans denken. Da gab es zu viele Details, die nicht ausgelassen werden konnten, zu viel Unklarheiten, Undefinierbarkeiten, Hannas Gehirn war zu wirr. Sie konnte nicht am Café Soda vorbeigehen, ohne die Pärchen auf den Metallstühlen bis auf die Poren genau zu beobachten. Sie sah die glänzenden Ledermappen der Münchener Rück-Angestellten, die einen späten Mittagsespresso einnahmen, sie sah die Fasern in den Jeans der Schüler, die einen Zwischenstopp zwischen Schule und Shopping machten, sie sah rauh, glatt, porös, sanft, fest. Texturen, hätte Hannas Freundin das genannt. Aber für Hanna gab es keinen Oberbegriff. Nur Impressionen. Dunkelrote Chucks, Zimtgeruch, die spitze Schulter einer vorübereilenden Passantin, ihr Dutt, ihr Mantel. Das Gefühl in Hanna, eine Vibration, das Echo eines neuen Eindrucks.
Sie wusste, dass sie etwas verpasst hatte. Ihre Freundin hatte etwas gefragt. Hanna sagte „klar“ und hoffte, dass das die richtige Antwort war. „Okay, gut, das wird super“, sagte ihre Freundin. Hanna entspannte sich und nahm sich vor, nur noch auf den Boden zu schauen. Konzentration. „Ich stelle mir das so vor: Erdkreise, eure Familien ganz in der Mitte, eine Prozession, die Evolution eurer Liebe.“ Hannas Freundin sprach immer noch über Hannas Hochzeit. Sie war ihre Brautjungfer. Wen sonst hätte Hanna fragen sollen? Es war alles so schnell gegangen. Evolution einer Liebe? Was wollte Hannas Freundin aufführen? Hanna in den Kammerspielen, eine Diskokugel an der Decke, ein Poetryslammer auf der Bühne und ein Mann, der sie fragt, ob sie Künstlerin ist. „Ist das nicht offensichtlich?“, hätte sie ihm gerne ins Gesicht geschrien. „Habe ich es denn immer noch nicht geschafft, im siebten Semester, bin ich immer noch die alte Hanna? Hanna, die an die Kunstakademie will. Will, nie ist. Bin ich immer noch nicht angekommen?“ Sie war froh, dass sie das nicht gesagt hatte. Sie hatte „Ja“ gesagt. Sie hat ein Jahr lang „Ja“ gesagt. Immer wieder „Ja“ zu dem Mann, der sie gefragt hat. Der ihr zugehört hat. Der sie verstanden hat. Der sie zum Reden gebracht hat, sie, die Stille, Erwachsene, nie Übermütige. Sie liebte ihn. Er hielt sie für eine Künstlerin.
Die Steinplatten flogen unter ihren Füßen vorbei. Hanna dachte an den Spruch „Unter dem Pflaster liegt der Strand“. Sie konnte sich das gut vorstellen. Sie konnte sich den Geruch von warmen Sandkörnern, das Knirschen, das sanfte Raspeln an den Fußunterseiten in Erinnerung rufen. Sie sah sich selbst auf einem bunten Handtuch, Wellenrauschen im Hintergrund, Einschlafmusik, ein Zeichenblock auf den Knien, Sand zwischen den einzelnen Seiten, in den Augenwinkeln, im Haar, überall. Diese Stimmung einzufangen. Aber das hat sie noch nie gekonnt. Zu viel, um es auf einer Seite einzusperren, in einer Skulptur, einer Installation. Obwohl Hannas Bräutigam sie eine Künstlerin nannte, war Hanna keine. Das war ihr schon klar.
Die Steinplatten wichen der Bordsteinkante, Hanna und ihre Freundin überquerten die Schellingstraße, warteten an der roten Ampel und waren dann auf der anderen Straßenseite. Hanna zwang sich, weder die Gäste des briks noch die im Schall&Rauch anzusehen. Ihre Freundin hatte aufgehört zu reden und das machte ihr Sorgen. Sie wollte niemanden langweilen. Nicht ihre Brautjungfer. Ihre Künstlerfreundin. Ihr Beweis dafür, dass auch sie, Hanna, in der Kunstakademie studierte. Sie konnte sich die Gesichter ihrer Eltern ausmalen, wenn sie die Hochzeitszeremonie mit den gebatikten Schleiern der Brautgesellschaft, den ungebeizten Stühlen und den selbstgedichteten Schwüren erlebt hatten. Die milde Unterstützung für ihre Tochter würde echter Ehrfurcht weichen.
Die beiden bogen beim Hotel Hauser mit den zwei runden Türmchen um die Ecke in die Amalienstraße. Das Mittagessen kam näher, mit jedem Schritt, jedem Eindruck, dem Hanna sich zu entziehen versuchte. Noch einmal über die Straße und sie waren bei ihrem Mittagsessen angekommen, von Hannas Freundin ausgesucht. Pommesboutique. Fett bringt Energy. Energy bringt Brainstorming. Brainstorming wird die Hochzeit einer neuen Generation machen. Außerdem haben die Minigolf in der Boutique. Bringt Laune. Hannas Freundin will sich nicht nur irgendwo Burger reinhauen, sagte sie. Keine Kettenläden an der Leopold, sagte sie. Auf der Glastür standen Stichworte. „Freistunde.
Shopping-Pause. Öde Vorlesung. Büro Competition.“ Ein Sloganschnellimbiss. Wie aus der Gedankenwelt von Hannas Freundin entsprungen. Die grünen Wände waren ein exakter Kontrast zu den roten Zapfhähnen, aus denen statt Bier Majo und Ketchup floss. Hannas Freundin bestellte sich eine extrascharfe Currywurst, Hanna nach einiger Überlegung entschied sich für Majo. Sanft. Weiß. Langweilig? Hanna schmeckte es. Hannas Freundin begann wieder zu reden.
„Essen. Ihr wollt doch keine normale Torte, oder?“ Hanna dachte an die mehrstöckigen im Schaufenster vom Café Münchner Freiheit. Sie auf einer Torte? Daran hatte sie noch nicht gedacht. Aber sie konnte sich sogar dorthin beamen. Sie kann fühlen, wie ihre Highheels in Sahne versinken. Wie lange wird es dauern, bis sie auf eine feste Schicht treffen? Oder ist der ganze Kuchen Creme? Wird ihr Kleid wie eine Seerose um sie aufgefächert, bevor der Rock sich in Falten um ihre Taille legt? Füllen sich die Falten mit flüssiger weißer Schokolade? Ranken die Marzipanrosen ihre Brust hinauf?
Schließt sich der Zuckergussschleier um ihren Mund, ihre Augen, ihre Nase? Ertrinkt sie in ihrer eigenen Hochzeitstorte? Ihr Bräutigam hält sie fest. Kengleichglänzend, Gentleman im Marzipanfrack, zuckersüß. Er passte zu dieser Torte.
Hanna erschrak etwas bei diesem Gedanken. Sie wischte einen Majoklecks von dem Holzquader, an dem sie saßen und etwas von der weißen Soße blieb in den Ritzen hängen. Würde ihr Verlobter vielleicht eine Torte wollen? Sie hatte ihn nicht gefragt. Er hatte nur gelacht und ihr sämtliche Planungsarbeiten überlassen, nachdem ihre Freundin ihm ihre ersten Konzeptideen vorgestellt hatte. Würde er wirklich all diesen Slogans zustimmen, aus denen ihre Hochzeit laut ihrer Freundin bestand? Vintage, Retro, Bauernlook? Er mochte sie in ihren alten Pyjamahosen mit den biederen roten Streifen und dem passenden Hemd. Er mochte sie in dem knielangen Rock, den ihre Mutter ihr für das Vorstellungsgespräch bei der Akademie gekauft hatte. Hanna hat ihn damals im Hotel gelassen, sie wollte nicht durch München laufen, in einem Rock, den ihre Mutter zu Hause gekauft hatte, wollte nicht nach Landei, sondern nach Kulturgeist aussehen. Sie war in Jeans vor die Professoren getreten und die hatten sich nicht über sie lustig gemacht. Der Rock war im Schrank gehangen, bis ihr Freund ihn fand. „Zieh den doch öfter an“, hatte er gesagt und sie waren sonntags durch den Englischen Garten gelaufen, er im Poloshirt, sie ihm Rock. Das hatte ihr Spaß gemacht.
Hanna und ihre Freundin warfen ihre leeren Papierschalen in den Mülleimer bei der Tür und gingen weiter die Amalienstraße. Hannas Freundin war mit neuer Energy angefüllt und ihr Brainstorming lief auf Hochtouren. „Kirschtarte. Weingummis. Ich kenn da wen, der macht die selbst, wird dir bestimmt ‘nen gewaltigen Rabatt geben. Brezeln. Sashimi im Obatzda. Pflaumenfarbene Tischtücher vom Operndepot. Aprikosenfarbene Decken für die Gäste, es könnte ja kalt werden.“ Das war ein Seitenhieb, Hannas Freundin hätte es gerne gehabt, wenn Hanna im Winter geheiratet hätte, nicht mitten in der klassischen, spießigen Hochzeitssaison. Anscheinend hoffte sie nun, dass der Juni sich erbarmen würde, um ihrem Designkonzept zu entsprechen.
Während sie die Theresienstraße, konnte Hanna sich nicht helfen, zu denken: „Das ist meine Hochzeit. Wenn ich Sommer will, dann kann ich doch wohl Sommer haben.“ Natürlich kam gleich darauf wieder das Schuldgefühl hoch, sie wusste ja, dass ohne ihre Freundin die Hochzeit genauso blass und altbacken wie Hanna selbst werden würde. Keine Künstlerhochzeit. Hanna war schlecht mit Events. Da wäre sie auch nicht reingekommen. Sie war in Zeichnen. Bei den „Tag der offenen Akademie“-Veranstaltungen verirrte sich kaum einer zu ihr. Die gingen meistens zu ihrer Freundin, die Orgien in der Eingangshalle veranstaltete. Hanna wollte nicht, dass niemand zu ihrer Hochzeit kam. Sie wollte doch zeigen, dass sie erwachsen war. Nicht nur frühreif. Dass sie partytauglich war. Nicht nur steif.
Nach der Aquitaine-Vinothek – Hannas Freundin entschied sich gegen den grünen Veltliner, den Hanna zaghaft vorgeschlagen hatte – war ein Hutladen in der Fürstenstraße nächste Halt. Sie bogen in die kleine, gewundene Straße ein und Hanna fragte sich, woher ihre Freundin diese Energie nahm. Energy.
Der Hutladen war klein und voll und überlud Hannas Gehirn mit visuellen Eindrücken. Sie verstand, dass er das rechte Maß an Queen-meets-Alice im Wunderland hatte. Aber sie verstand auch, dass ihre Freundin sie nicht mit einer einfachen Tüllkreation davon kommen lassen würde. Hannas Freundin und die Verkäuferin tanzten um Hanna herum und steckten ihr Federn, Filz und grobe Holzteile ins Haar. Hanna wäre gerne im Laden gegenüber gewesen, der Reiterausrüstung verkaufte.
Sie sah sich hoch zu Ross, konnte den sanften, angenehm verschwitzen Rücken des Pferdes zwischen ihren Schenkeln fühlen, den Wind in ihrem Gesicht, freies Haar ohne jede Zierde hinter ihr, und schnell, schnell weg von hier.
Sollte sie einfach nicht heiraten? Hanna hatte Angst. Man hat doch normalerweise keine Lust einfach abzuhauen, wenn man seine Hochzeit plant, oder? Aber sie hatte keine Ahnung, was da auf sie zukam. Sie hatte das nicht gewollt. Sie sah in den Spiegel, den ihr ihre Freundin hinhält und sah jemanden, den sie nicht kannte. So künstlich. So verdammt künstlich. Sie ist einfach nicht zur Braut gemacht.
Plötzlich hatte Hanna es eilig. Sie riss sich die verschiedenen Haarteile vom Kopf und sagte: „Ich muss mir das nochmal überlegen.“ Ihre Freundin konnte nichts mehr sagen, da war Hanna schon vor der Tür und saugte sich Frischluft in die Lunge. Als sie hinter sich die Stimme der Freundin hörte „Was sollte das denn? Ich...“, rannte Hanna los. Die Kurve der Fürstenstraße ihr Schwung und sie rannte, so schnell sie konnte, dachte an das Pferd unter ihr, das nur sie fühlen konnte, rannte und ihre Haare freuten sich, den Käfigen entkommen zu sein.
Ein Auto bremste scharf. Die Hand der Freundin zog sie zurück. Aber sie wollte sich ja nicht umbringen. Wenn Hanna auf den Oskar-von-Miller-Ring hätte springen wollen, hätte sie es geschafft. Aber sie wollte noch nicht sterben. Sie wollte heiraten.
Silberne BMWs und weiße VWs rauschten haarscharf an ihr vorbei. Sie sah die Fahrer, nur durch eine spiegelnde Glaswand getrennt, aber doch in einer vollkommen anderen Welt. Die wussten nicht, dass Hanna gerade gemerkt hatte, dass es wahr war. Sie wollte heiraten. Das war nicht das Problem. Die Ampel wurde grün und Hanna schritt von einer neuen Energie gepackt über die Straße. Ihre Freundin zog sie mit sich. Sie verließen die Maxvorstadt traten ein in die Welt, in der Hanna, die Ehefrau existieren konnte. Im Laden auf der anderen Straßenseite standen zierliche, weißlackierte Beistelltische im Schaufenster neben staubig rosafarbenen Rosensträußen, künstlich. Aber Hanna konnte sich in einem Zimmer sehen, das genau so eingerichtet war. Sie würde gerade aus dem Garten kommen, an den Händen grüne Handschuhe, auf dem Kopf ein Sonnenhut, hochgekrempelte Jeans und eine gestärkte Bluse. Und sie wäre verheiratet, eindeutig. Für wen könnte sie sonst Scones backen? Hanna liebte ihren Verlobten. Und sie wollte ihn glücklich machen, so endlos glücklich.
Sie wusste, dass er das nicht wäre, wenn sie eine alternative Hochzeit feierten, genauso wenig wie sie selbst. Nein, Hanna musste etwas anderes planen. Es ging hier um ihre Ehe.
Sie musste das ohne ihre Freundin machen. Während Steine mit eingebauten Radios versuchten, sie in den home entertainment concept store zu locken, spielte Hanna mit dem Gedanken, ihre Freundin auf einen Kaffee im Erbshäuser einzuladen, in dem die letzten Innenminister und ihre Sekretärinnen einen späten Macchiato bestellten, um die originale Prinzregententorte hinuntergleiten zu lassen. Die Puderatmosphäre in dem Café hätte ihr sicherlich sämtliche Slogans aus dem Gehirn geblasen. Das war Hannas Territorium, das Weiche, Undefinierbare, die Luft voller Kuchen, Kaffee und Erinnerungen, Doppeldeutigkeiten. Aber Hanna wollte den Nachmittag nicht weiter verschwenden. Mein Gott, sie hatte die letzten vier Jahre damit verbracht, so wie ihre Freundin zu sein, so wie die Künstler, die durch die Akademie trabten auf ihren hohen Rössern, so wie die Professoren, die sie nicht mochten und – jetzt konnte sie es ja sagen – die sie nicht mochte.
Jetzt würde Hanna die Zeit nachholen, die sie verprasst hatte. Hanna raste die Kardinal-Döpfner-Straße entlang. Vorbei an dem hohen grauen Tor, durch das das trojanische Pferd gepasst hätte, vorbei an den Fenstern der Siemensmanager, vorbei an den zurechtgestutzten Buchsbäumchen in die Freiheit des Wittelsbacherplatzes. Durchatmen. Hannas Freundin zog die Luft durch ihre Nasenflügel ein und staubte dann echauffiert. „Willst du jetzt mal stehenbleiben und mir sagen, was los ist?“ Hanna schloss ihre Augen und wünschte, sie könnte sich in die Zukunft beamen, in eine dieser Rollen, deren Visionen sie so oft heimsuchten. „Hallo? Was soll das? Was ist los, verdammt noch mal?“, sagte ihre Freundin. Stark sein. Das musste sie jetzt.
„Ich werde im Sommer heiraten.“
„Das weiß ich doch“, begann Hannas Freundin.
„Ich werde im Sommer heiraten und die Gäste werden keine Decken bekommen, sondern auf Stühlen sitzen. Die Stühle werden nicht im Kreis aufgestellt, sondern in Reihen. Es wird Torte geben. Und grünen Veltliner.“
Hannas Freundin sah aus, als ob sie kein Wort dieser neuen Sprache verstand. Nach jedem Satz versuchte sie, Hanna ins Wort zu fallen, aber die hatte ihr einen Arm auf die Schulter gelegt und drückte sie, um ihr zu zeigen, dass sie noch nicht fertig war.
„Ich will kein Vintagekleid. Ich will mein eigenes, weißes Brautkleid, nicht secondhand, nicht umweltbewusst. Ich will mein Kleid.“
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte Hannas Freundin.
Hanna wusste nicht genau, was sie sagen sollte. „Du kannst meine Brautjungfer bleiben, wenn du willst.“ Aber Hannas Freundin schüttelte ihre Hand von ihrer Schulter und stolzierte über den Wittelsbacherplatz zum Odeonsplatz. Die Rolle mit ihren Projektskizzen wippte gefährlich und sie zurrte den Riemen der Tasche fester.
Hanna fuhr sich durchs Haar, verfing sich in ihren indianischen Ohrhängern und beschloss, dass eine Generalüberholung ihres Kleiderschranks und Schmuckköfferchens bevorstand. Sie würde ihren Verlobten auf einen Shoppingsamstag einladen. Wahrscheinlich würden sie wieder bei Lodenfrey landen und diesmal würden sie hineingehen. Und dann durch den Park spazieren. Aber ihre heutigen Besorgungen würde sie alleine erledigen. Das Kleid sollte eine Überraschung werden.
Hanna überquerte den Wittelsbacherplatz und bog rechts in die Brienner Straße. Sie plante: erst Laura Ashley, dann einen Kaffee im Café Luitpold und dann nach Hause. Sie wollte zeichnen, was sie jetzt fühlte. Denn sie war nun einmal eine Künstlerin.
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...
... denkt nicht in Slogans. Ihr Territorium ist das Weiche, Undefinierbare, die Luft voller Kuchen, Kaffee und Doppeldeutigkeiten.
Hier in der Türkenstraße fielen die zwei jungen Frauen nicht weiter auf. Kaum ein Passant beachtete die Webtasche der einen, aus der eine mysteriöse Papierrolle ragte, oder den indianischen Schmuck der anderen. „Künstlerinnen“ mussten sie sein. Wahrscheinlich von der Akademie unten, dem Alter nach. Oder arbeitete die zweite in einem Juweliergeschäft in der Türken? Irgendetwas in ihrem Gesicht sah reifer aus, als das der ersteren, die Bewegungen ihrer Arme waren weniger kämpferisch, ihre Stimme überschlug sich nicht. Ihre Freundin hingegen kreischte begeistert: „Hanna, du MUSST einfach Vintage tragen! Das wäre so ein geiles Statement, voll green. Aber nicht so schicki-mickie Gärtnerplatz, sondern von irgendeinem Bauern. Landcharme. Retroökologie.“
Hannas Mundwinkel rangen sich ein Lächeln ab. Vintage. Retro. Bauernlook. Das sollte Hannas Hochzeitskleid werden. Sie wusste, dass die Projekte, die ihre Freundin dem Professor in der Akademie vorschlug, oft ähnliche Titel trugen. Was war wohl der Name des neuen, dessen Skizze sie heute in ihrer Tasche mit sich herumtrug? Bundestag goes Schlammschlacht. Blut an den Schaufenstern der Mächtigen. Sex, Haut, Fleisch und Fastfood. Hannas Freundin lebte in Slogans. Vielleicht war das der Unterschied zwischen ihnen. Hanna konnte nicht in Slogans denken. Da gab es zu viele Details, die nicht ausgelassen werden konnten, zu viel Unklarheiten, Undefinierbarkeiten, Hannas Gehirn war zu wirr. Sie konnte nicht am Café Soda vorbeigehen, ohne die Pärchen auf den Metallstühlen bis auf die Poren genau zu beobachten. Sie sah die glänzenden Ledermappen der Münchener Rück-Angestellten, die einen späten Mittagsespresso einnahmen, sie sah die Fasern in den Jeans der Schüler, die einen Zwischenstopp zwischen Schule und Shopping machten, sie sah rauh, glatt, porös, sanft, fest. Texturen, hätte Hannas Freundin das genannt. Aber für Hanna gab es keinen Oberbegriff. Nur Impressionen. Dunkelrote Chucks, Zimtgeruch, die spitze Schulter einer vorübereilenden Passantin, ihr Dutt, ihr Mantel. Das Gefühl in Hanna, eine Vibration, das Echo eines neuen Eindrucks.
Sie wusste, dass sie etwas verpasst hatte. Ihre Freundin hatte etwas gefragt. Hanna sagte „klar“ und hoffte, dass das die richtige Antwort war. „Okay, gut, das wird super“, sagte ihre Freundin. Hanna entspannte sich und nahm sich vor, nur noch auf den Boden zu schauen. Konzentration. „Ich stelle mir das so vor: Erdkreise, eure Familien ganz in der Mitte, eine Prozession, die Evolution eurer Liebe.“ Hannas Freundin sprach immer noch über Hannas Hochzeit. Sie war ihre Brautjungfer. Wen sonst hätte Hanna fragen sollen? Es war alles so schnell gegangen. Evolution einer Liebe? Was wollte Hannas Freundin aufführen? Hanna in den Kammerspielen, eine Diskokugel an der Decke, ein Poetryslammer auf der Bühne und ein Mann, der sie fragt, ob sie Künstlerin ist. „Ist das nicht offensichtlich?“, hätte sie ihm gerne ins Gesicht geschrien. „Habe ich es denn immer noch nicht geschafft, im siebten Semester, bin ich immer noch die alte Hanna? Hanna, die an die Kunstakademie will. Will, nie ist. Bin ich immer noch nicht angekommen?“ Sie war froh, dass sie das nicht gesagt hatte. Sie hatte „Ja“ gesagt. Sie hat ein Jahr lang „Ja“ gesagt. Immer wieder „Ja“ zu dem Mann, der sie gefragt hat. Der ihr zugehört hat. Der sie verstanden hat. Der sie zum Reden gebracht hat, sie, die Stille, Erwachsene, nie Übermütige. Sie liebte ihn. Er hielt sie für eine Künstlerin.
Die Steinplatten flogen unter ihren Füßen vorbei. Hanna dachte an den Spruch „Unter dem Pflaster liegt der Strand“. Sie konnte sich das gut vorstellen. Sie konnte sich den Geruch von warmen Sandkörnern, das Knirschen, das sanfte Raspeln an den Fußunterseiten in Erinnerung rufen. Sie sah sich selbst auf einem bunten Handtuch, Wellenrauschen im Hintergrund, Einschlafmusik, ein Zeichenblock auf den Knien, Sand zwischen den einzelnen Seiten, in den Augenwinkeln, im Haar, überall. Diese Stimmung einzufangen. Aber das hat sie noch nie gekonnt. Zu viel, um es auf einer Seite einzusperren, in einer Skulptur, einer Installation. Obwohl Hannas Bräutigam sie eine Künstlerin nannte, war Hanna keine. Das war ihr schon klar.
Die Steinplatten wichen der Bordsteinkante, Hanna und ihre Freundin überquerten die Schellingstraße, warteten an der roten Ampel und waren dann auf der anderen Straßenseite. Hanna zwang sich, weder die Gäste des briks noch die im Schall&Rauch anzusehen. Ihre Freundin hatte aufgehört zu reden und das machte ihr Sorgen. Sie wollte niemanden langweilen. Nicht ihre Brautjungfer. Ihre Künstlerfreundin. Ihr Beweis dafür, dass auch sie, Hanna, in der Kunstakademie studierte. Sie konnte sich die Gesichter ihrer Eltern ausmalen, wenn sie die Hochzeitszeremonie mit den gebatikten Schleiern der Brautgesellschaft, den ungebeizten Stühlen und den selbstgedichteten Schwüren erlebt hatten. Die milde Unterstützung für ihre Tochter würde echter Ehrfurcht weichen.
Die beiden bogen beim Hotel Hauser mit den zwei runden Türmchen um die Ecke in die Amalienstraße. Das Mittagessen kam näher, mit jedem Schritt, jedem Eindruck, dem Hanna sich zu entziehen versuchte. Noch einmal über die Straße und sie waren bei ihrem Mittagsessen angekommen, von Hannas Freundin ausgesucht. Pommesboutique. Fett bringt Energy. Energy bringt Brainstorming. Brainstorming wird die Hochzeit einer neuen Generation machen. Außerdem haben die Minigolf in der Boutique. Bringt Laune. Hannas Freundin will sich nicht nur irgendwo Burger reinhauen, sagte sie. Keine Kettenläden an der Leopold, sagte sie. Auf der Glastür standen Stichworte. „Freistunde.
Shopping-Pause. Öde Vorlesung. Büro Competition.“ Ein Sloganschnellimbiss. Wie aus der Gedankenwelt von Hannas Freundin entsprungen. Die grünen Wände waren ein exakter Kontrast zu den roten Zapfhähnen, aus denen statt Bier Majo und Ketchup floss. Hannas Freundin bestellte sich eine extrascharfe Currywurst, Hanna nach einiger Überlegung entschied sich für Majo. Sanft. Weiß. Langweilig? Hanna schmeckte es. Hannas Freundin begann wieder zu reden.
„Essen. Ihr wollt doch keine normale Torte, oder?“ Hanna dachte an die mehrstöckigen im Schaufenster vom Café Münchner Freiheit. Sie auf einer Torte? Daran hatte sie noch nicht gedacht. Aber sie konnte sich sogar dorthin beamen. Sie kann fühlen, wie ihre Highheels in Sahne versinken. Wie lange wird es dauern, bis sie auf eine feste Schicht treffen? Oder ist der ganze Kuchen Creme? Wird ihr Kleid wie eine Seerose um sie aufgefächert, bevor der Rock sich in Falten um ihre Taille legt? Füllen sich die Falten mit flüssiger weißer Schokolade? Ranken die Marzipanrosen ihre Brust hinauf?
Schließt sich der Zuckergussschleier um ihren Mund, ihre Augen, ihre Nase? Ertrinkt sie in ihrer eigenen Hochzeitstorte? Ihr Bräutigam hält sie fest. Kengleichglänzend, Gentleman im Marzipanfrack, zuckersüß. Er passte zu dieser Torte.
Hanna erschrak etwas bei diesem Gedanken. Sie wischte einen Majoklecks von dem Holzquader, an dem sie saßen und etwas von der weißen Soße blieb in den Ritzen hängen. Würde ihr Verlobter vielleicht eine Torte wollen? Sie hatte ihn nicht gefragt. Er hatte nur gelacht und ihr sämtliche Planungsarbeiten überlassen, nachdem ihre Freundin ihm ihre ersten Konzeptideen vorgestellt hatte. Würde er wirklich all diesen Slogans zustimmen, aus denen ihre Hochzeit laut ihrer Freundin bestand? Vintage, Retro, Bauernlook? Er mochte sie in ihren alten Pyjamahosen mit den biederen roten Streifen und dem passenden Hemd. Er mochte sie in dem knielangen Rock, den ihre Mutter ihr für das Vorstellungsgespräch bei der Akademie gekauft hatte. Hanna hat ihn damals im Hotel gelassen, sie wollte nicht durch München laufen, in einem Rock, den ihre Mutter zu Hause gekauft hatte, wollte nicht nach Landei, sondern nach Kulturgeist aussehen. Sie war in Jeans vor die Professoren getreten und die hatten sich nicht über sie lustig gemacht. Der Rock war im Schrank gehangen, bis ihr Freund ihn fand. „Zieh den doch öfter an“, hatte er gesagt und sie waren sonntags durch den Englischen Garten gelaufen, er im Poloshirt, sie ihm Rock. Das hatte ihr Spaß gemacht.
Hanna und ihre Freundin warfen ihre leeren Papierschalen in den Mülleimer bei der Tür und gingen weiter die Amalienstraße. Hannas Freundin war mit neuer Energy angefüllt und ihr Brainstorming lief auf Hochtouren. „Kirschtarte. Weingummis. Ich kenn da wen, der macht die selbst, wird dir bestimmt ‘nen gewaltigen Rabatt geben. Brezeln. Sashimi im Obatzda. Pflaumenfarbene Tischtücher vom Operndepot. Aprikosenfarbene Decken für die Gäste, es könnte ja kalt werden.“ Das war ein Seitenhieb, Hannas Freundin hätte es gerne gehabt, wenn Hanna im Winter geheiratet hätte, nicht mitten in der klassischen, spießigen Hochzeitssaison. Anscheinend hoffte sie nun, dass der Juni sich erbarmen würde, um ihrem Designkonzept zu entsprechen.
Während sie die Theresienstraße, konnte Hanna sich nicht helfen, zu denken: „Das ist meine Hochzeit. Wenn ich Sommer will, dann kann ich doch wohl Sommer haben.“ Natürlich kam gleich darauf wieder das Schuldgefühl hoch, sie wusste ja, dass ohne ihre Freundin die Hochzeit genauso blass und altbacken wie Hanna selbst werden würde. Keine Künstlerhochzeit. Hanna war schlecht mit Events. Da wäre sie auch nicht reingekommen. Sie war in Zeichnen. Bei den „Tag der offenen Akademie“-Veranstaltungen verirrte sich kaum einer zu ihr. Die gingen meistens zu ihrer Freundin, die Orgien in der Eingangshalle veranstaltete. Hanna wollte nicht, dass niemand zu ihrer Hochzeit kam. Sie wollte doch zeigen, dass sie erwachsen war. Nicht nur frühreif. Dass sie partytauglich war. Nicht nur steif.
Nach der Aquitaine-Vinothek – Hannas Freundin entschied sich gegen den grünen Veltliner, den Hanna zaghaft vorgeschlagen hatte – war ein Hutladen in der Fürstenstraße nächste Halt. Sie bogen in die kleine, gewundene Straße ein und Hanna fragte sich, woher ihre Freundin diese Energie nahm. Energy.
Der Hutladen war klein und voll und überlud Hannas Gehirn mit visuellen Eindrücken. Sie verstand, dass er das rechte Maß an Queen-meets-Alice im Wunderland hatte. Aber sie verstand auch, dass ihre Freundin sie nicht mit einer einfachen Tüllkreation davon kommen lassen würde. Hannas Freundin und die Verkäuferin tanzten um Hanna herum und steckten ihr Federn, Filz und grobe Holzteile ins Haar. Hanna wäre gerne im Laden gegenüber gewesen, der Reiterausrüstung verkaufte.
Sie sah sich hoch zu Ross, konnte den sanften, angenehm verschwitzen Rücken des Pferdes zwischen ihren Schenkeln fühlen, den Wind in ihrem Gesicht, freies Haar ohne jede Zierde hinter ihr, und schnell, schnell weg von hier.
Sollte sie einfach nicht heiraten? Hanna hatte Angst. Man hat doch normalerweise keine Lust einfach abzuhauen, wenn man seine Hochzeit plant, oder? Aber sie hatte keine Ahnung, was da auf sie zukam. Sie hatte das nicht gewollt. Sie sah in den Spiegel, den ihr ihre Freundin hinhält und sah jemanden, den sie nicht kannte. So künstlich. So verdammt künstlich. Sie ist einfach nicht zur Braut gemacht.
Plötzlich hatte Hanna es eilig. Sie riss sich die verschiedenen Haarteile vom Kopf und sagte: „Ich muss mir das nochmal überlegen.“ Ihre Freundin konnte nichts mehr sagen, da war Hanna schon vor der Tür und saugte sich Frischluft in die Lunge. Als sie hinter sich die Stimme der Freundin hörte „Was sollte das denn? Ich...“, rannte Hanna los. Die Kurve der Fürstenstraße ihr Schwung und sie rannte, so schnell sie konnte, dachte an das Pferd unter ihr, das nur sie fühlen konnte, rannte und ihre Haare freuten sich, den Käfigen entkommen zu sein.
Ein Auto bremste scharf. Die Hand der Freundin zog sie zurück. Aber sie wollte sich ja nicht umbringen. Wenn Hanna auf den Oskar-von-Miller-Ring hätte springen wollen, hätte sie es geschafft. Aber sie wollte noch nicht sterben. Sie wollte heiraten.
Silberne BMWs und weiße VWs rauschten haarscharf an ihr vorbei. Sie sah die Fahrer, nur durch eine spiegelnde Glaswand getrennt, aber doch in einer vollkommen anderen Welt. Die wussten nicht, dass Hanna gerade gemerkt hatte, dass es wahr war. Sie wollte heiraten. Das war nicht das Problem. Die Ampel wurde grün und Hanna schritt von einer neuen Energie gepackt über die Straße. Ihre Freundin zog sie mit sich. Sie verließen die Maxvorstadt traten ein in die Welt, in der Hanna, die Ehefrau existieren konnte. Im Laden auf der anderen Straßenseite standen zierliche, weißlackierte Beistelltische im Schaufenster neben staubig rosafarbenen Rosensträußen, künstlich. Aber Hanna konnte sich in einem Zimmer sehen, das genau so eingerichtet war. Sie würde gerade aus dem Garten kommen, an den Händen grüne Handschuhe, auf dem Kopf ein Sonnenhut, hochgekrempelte Jeans und eine gestärkte Bluse. Und sie wäre verheiratet, eindeutig. Für wen könnte sie sonst Scones backen? Hanna liebte ihren Verlobten. Und sie wollte ihn glücklich machen, so endlos glücklich.
Sie wusste, dass er das nicht wäre, wenn sie eine alternative Hochzeit feierten, genauso wenig wie sie selbst. Nein, Hanna musste etwas anderes planen. Es ging hier um ihre Ehe.
Sie musste das ohne ihre Freundin machen. Während Steine mit eingebauten Radios versuchten, sie in den home entertainment concept store zu locken, spielte Hanna mit dem Gedanken, ihre Freundin auf einen Kaffee im Erbshäuser einzuladen, in dem die letzten Innenminister und ihre Sekretärinnen einen späten Macchiato bestellten, um die originale Prinzregententorte hinuntergleiten zu lassen. Die Puderatmosphäre in dem Café hätte ihr sicherlich sämtliche Slogans aus dem Gehirn geblasen. Das war Hannas Territorium, das Weiche, Undefinierbare, die Luft voller Kuchen, Kaffee und Erinnerungen, Doppeldeutigkeiten. Aber Hanna wollte den Nachmittag nicht weiter verschwenden. Mein Gott, sie hatte die letzten vier Jahre damit verbracht, so wie ihre Freundin zu sein, so wie die Künstler, die durch die Akademie trabten auf ihren hohen Rössern, so wie die Professoren, die sie nicht mochten und – jetzt konnte sie es ja sagen – die sie nicht mochte.
Jetzt würde Hanna die Zeit nachholen, die sie verprasst hatte. Hanna raste die Kardinal-Döpfner-Straße entlang. Vorbei an dem hohen grauen Tor, durch das das trojanische Pferd gepasst hätte, vorbei an den Fenstern der Siemensmanager, vorbei an den zurechtgestutzten Buchsbäumchen in die Freiheit des Wittelsbacherplatzes. Durchatmen. Hannas Freundin zog die Luft durch ihre Nasenflügel ein und staubte dann echauffiert. „Willst du jetzt mal stehenbleiben und mir sagen, was los ist?“ Hanna schloss ihre Augen und wünschte, sie könnte sich in die Zukunft beamen, in eine dieser Rollen, deren Visionen sie so oft heimsuchten. „Hallo? Was soll das? Was ist los, verdammt noch mal?“, sagte ihre Freundin. Stark sein. Das musste sie jetzt.
„Ich werde im Sommer heiraten.“
„Das weiß ich doch“, begann Hannas Freundin.
„Ich werde im Sommer heiraten und die Gäste werden keine Decken bekommen, sondern auf Stühlen sitzen. Die Stühle werden nicht im Kreis aufgestellt, sondern in Reihen. Es wird Torte geben. Und grünen Veltliner.“
Hannas Freundin sah aus, als ob sie kein Wort dieser neuen Sprache verstand. Nach jedem Satz versuchte sie, Hanna ins Wort zu fallen, aber die hatte ihr einen Arm auf die Schulter gelegt und drückte sie, um ihr zu zeigen, dass sie noch nicht fertig war.
„Ich will kein Vintagekleid. Ich will mein eigenes, weißes Brautkleid, nicht secondhand, nicht umweltbewusst. Ich will mein Kleid.“
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte Hannas Freundin.
Hanna wusste nicht genau, was sie sagen sollte. „Du kannst meine Brautjungfer bleiben, wenn du willst.“ Aber Hannas Freundin schüttelte ihre Hand von ihrer Schulter und stolzierte über den Wittelsbacherplatz zum Odeonsplatz. Die Rolle mit ihren Projektskizzen wippte gefährlich und sie zurrte den Riemen der Tasche fester.
Hanna fuhr sich durchs Haar, verfing sich in ihren indianischen Ohrhängern und beschloss, dass eine Generalüberholung ihres Kleiderschranks und Schmuckköfferchens bevorstand. Sie würde ihren Verlobten auf einen Shoppingsamstag einladen. Wahrscheinlich würden sie wieder bei Lodenfrey landen und diesmal würden sie hineingehen. Und dann durch den Park spazieren. Aber ihre heutigen Besorgungen würde sie alleine erledigen. Das Kleid sollte eine Überraschung werden.
Hanna überquerte den Wittelsbacherplatz und bog rechts in die Brienner Straße. Sie plante: erst Laura Ashley, dann einen Kaffee im Café Luitpold und dann nach Hause. Sie wollte zeichnen, was sie jetzt fühlte. Denn sie war nun einmal eine Künstlerin.
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...