Simon
... kann Silvesterparties echt nicht leiden. Oder etwa doch?
Reste-Silvester! Simon schlüpft in seine Daunenjacke und schüttelt den Kopf. Wie das schon klingt! Als würde man alles, was vom laufenden Jahr übrig ist – Essen, Getränke, Menschen – an einen Ort karren, es dort auf einen Haufen zusammenschmeißen, munter durchmischen und abwarten, was passiert. Simon zieht sich die Mütze über den Kopf und schultert seinen Rucksack. Darin hat er ein Walnuss-Ciabatta und eine Packung Wunderkerzen. Neuware, versteht sich. Simon wird das kommende Jahr nicht mit Resten aus dem vergangenen begrüßen. Es reicht, dass er sich selbst manchmal so fühlt, als sei er übrig und im hintersten Regal liegen geblieben. Kein Wunder, dass ihn sein Freund regelmäßig zum Reste-Silvester einlädt, der traditionellen Party für alle, die sich mal wieder viel zu spät mit der Frage „Und was machst du so an Silvester?“ beschäftigt haben und nicht wissen, was sie am letzten Abend des Jahres mit sich anfangen sollen. Simon zieht die Haustür ins Schloss und geht los. Er wendet sich nach rechts und stapft durch die verschneite Hedwig-Dransfeld-Allee. Aus den Fenstern der umliegenden Häuser fällt warmes Licht auf die Straße und Simon seufzt. Er wäre jetzt auch gerne im Warmen auf seiner Couch, einen Grog in der Hand und gute Musik in den Ohren.
Stattdessen pfeift der kalte Wind durch den Reißverschluss seiner Jacke und Simon friert ein bisschen. Warum hat er nicht einfach abgesagt? Hätte ihm nicht beizeiten eine hübsche Ausrede einfallen können? Ach was, Ausrede! Er hätte auch einfach eine Mail oder SMS des Inhalts „Kommen unmöglich. Lüge folgt.“ abschicken und sich spätestens um 00:10 Uhr ins Bett legen können. Simon grinst, während er bei der Tramhaltestelle Goethe-Institut die Dachauer Straße überquert und sich durch die Heideckstraße weiter seinen Weg bahnt.
Wer wohl alles da ist? Die üblichen Verdächtigen vermutlich: Das H-Pärchen (H wie haltbar, wie bei der zu Tode pasteurisierten, schier unkaputtbaren Milch)? Der Computer-Nerd Christof? Ein paar Arbeitskollegen von Bernd? Vermutlich. Und vermutlich auch die eine oder andere Single-Frau, mit der Bernd seinen Freund Simon wie jedes Mal verkuppeln will. Und wie jedes Mal ist Simon überhaupt nicht scharf darauf. Auf diesen langweiligen Small-Talk mit dumpfen Fragen à la „Und was machst du so im richtigen Leben?“, „Hast du eine Freundin?“, „Nein? Warum nicht? Stimmt was nicht mit dir?“ Was soll er darauf sagen? Die Wahrheit etwa? „Ja, mit mir stimmt was nicht. Seit meiner Trennung vor ein paar Jahren habe ich kein Verlangen mehr nach einer neuen Beziehung. Sollte mich ein diffuses Sehnsuchtsgefühl überkommen, ziehe ich meine Laufklamotten an und renne so lange, bis der Anfall vorüber ist.“
Simon kann sich gut vorstellen, was das für eine Wirkung auf seine Gesprächspartnerin hätte, kontaktfördernd wäre sie mit Sicherheit nicht. Er seufzt und muss daran denken, wie ihm seine Freundin vor ein paar Jahren an Silvester den Laufpass gegeben hat. Ein tolles Datum hatte sie sich dafür ausgesucht, das muss Simon ihr lassen. Und eine noch tollere Location: den Platz „zur schönen Aussicht“ vorm Residenztheater! Schon seit Wochen hatte es merklich zwischen ihnen gekriselt, aber in einer Blödheit, die nur Menschen in Paarbeziehungen befallen kann, hatten sie beschlossen, die vor Monaten gekauften Tickets nicht verfallen zu lassen und sich gemeinsam das Stück anzusehen. Man gab „Der eingebildete Kranke“ von Molière und obwohl die Inszenierung wirklich gut und das Ensemble in bester Spiellaune gewesen war, hatte Simon seinen bislang furchtbarsten Theaterabend erlebt. Er und C. hatten nebeneinander gesessen und trotz (oder gerade wegen) der räumlichen Enge im Zuschauerraum, hatte er die Distanz und das Ungesagte zwischen ihnen nie stärker empfunden, als in diesen zweieinhalb Stunden. Es hatte ihm regelrecht körperlichen Schmerz bereitet. In der Pause waren sie verlegen im Freien gestanden, C. hatte geraucht und sie hatten sich laut angeschwiegen.
So laut, dass Simon dachte, ihm platze nicht nur das Herz, sondern auch das Trommelfell. Die zweite Hälfte der Vorstellung hatte er damit verbracht, kalten Schweiß abzusondern und dem rasenden Klopfen seines hysterischen Herzens zu lauschen. Hysterisches Herz, das wäre ein toller Titel für einen Roman, denkt er und hustet kleine Atemwolken in die klirrend-kalte Nachtluft der Minerviusstraße. Simon wirft einen Blick auf seine Uhr. Wenn er ein bisschen aufs Tempo drückt, ist er bis 22 Uhr bei Bernd. Ausreichend früh, um seinen Freund nicht zu sehr zu enttäuschen, ausreichend spät, um nicht zu lang einen auf Party machen zu müssen. Simon beschleunigt seinen Schritt und stapft flott durch die Dom-Pedro-Straße. Ob der Kanal schon zugefroren ist? In der Trennungsnacht war das der Fall gewesen. Das weiß Simon genau. Er war nach dem Schlussvorhang wie in Trance zu Bernd gefahren, hatte sich haltlos betrunken und war in pseudo-selbstmörderischer Absicht über die schneebedeckte Eisfläche geschlittert. Er war wild entschlossen gewesen, einzubrechen und elendiglich zu erfrieren. Reichlich albern. Keine Frage.
Aber nachdem am Ende der Vorstellung nicht nur auf der Bühne der Vorhang gefallen war, war ihm das gar nicht so abwegig erschienen. Und die vier Biere, die ihm als Wegzehrung gedient hatten, hatten ihr übriges getan, um aus Simon ein lebensüberdrüssiges, wehleidiges Etwas zu machen. Furchtbar war das gewesen und Simon will gar nicht weiter darüber nachdenken. Er schüttelt die Arme aus, richtet den Oberkörper auf und atmet tief ein und aus. Dann biegt er von der Waisenhausstraße kommend in die Südliche Auffahrtsallee ein. Der Kanal ist tatsächlich zugefroren. Eine dunkle, an einigen Stellen mit Schnee bedeckte glatte Fläche. Vielleicht könnte er mit Bernd demnächst mal wieder Schlittschuhlaufen gehen. Natürlich erst, nachdem dieser seinen Neujahrsrausch ausgeschlafen hat. Sie könnten am späten Vormittag übers Eis flitzen und anschließend beim Weißwurstfrühstück Männergespräche führen. Oder sich in gegenseitigem Einvernehmen gemütlich anschweigen. Dazu waren sie in den letzten Monaten vor lauter Stress und Terminen überhaupt nicht gekommen. Die kurzen Treffen auf irgendwelchen Abendveranstaltungen waren zwar nett, reichten aber nicht aus, um sich über das Leben des anderen auf den neusten Stand zu bringen. Simon würde Bernd nachher einfach mal fragen. Apropos Bernd. Kaum biegt Simon in die Bernabeistraße ein, sieht er seinen Kumpel und drei weitere angetrunkene Gestalten schon auf dem Balkon stehen und ihm zuwinken. Er winkt zurück und wird von Bernd lautstark begrüßt: „Mensch, Simon! Wo bleibst du denn? Wenn du das nächste Mal noch später kommst, kannst du gleich das Neujahrsfrühstück mitbringen. Also ehrlich, Mann! Sieh zu, dass du deinen verknöcherten Arsch hier raufschwingst. Dann kriegst du auch noch was von meinem legendären Chili. Kannst von Glück sagen, dass noch was übrig ist, die ollen Fresssäcke hier haben das Zeug regelrecht eingeatmet.“
Kaum hat Simon das Haus betreten, wird er von seinem Kumpel auch schon fest in die Arme geschlossen und mit einem dampfend-heißen Chili auf die Couch verfrachtet. Im Wohnzimmer sind ungefähr zwölf Leute versammelt, die meisten kennt Simon noch vom letzten Jahr. Nur eine junge Frau scheint neu in der Runde zu sein. Junge Frau? Allein? Oh nein, Simon ahnt Schreckliches. Doch er bekämpft den Impuls, Bernd in der Küche zur Rede zu stellen, jetzt ist erst mal das Chili an der Reihe. Simon nickt den Anwesenden freundlich zu und beginnt zu essen. Während er genüsslich vor sich hinlöffelt, wogen die Partygäste um ihn herum. Die einen holen sich ein kühles Bier aus der Badewanne, die anderen stehen rauchend auf dem Balkon. Immer wieder setzt sich jemand zu ihm auf die Couch, um ein paar Worte zu wechseln oder auf dem Smartphone nachzusehen, auf welche Party man im Anschluss gehen könnte. Die zwei Stunden bis zum Jahreswechsel vergehen wie im Flug und – wenn Simon ehrlich ist – angenehm unaufgeregt. Um dreiviertel Zwölf gerät die Gesellschaft dann jäh in Bewegung. Man will das Feuerwerk am Kanal nicht verpassen! Schnell werden Sekt, Pappbecher und Silvesterraketen eingepackt, es werden Jacken, Mützen und Schals angelegt und schon ist man auf dem Weg nach draußen.
Unten am Kanal sind alle damit beschäftigt, sich einen guten Platz für die Silvesterraketen und Feuerwerksbatterien zu suchen. Bernd öffnet eine Sektflasche nach der anderen und Christof verteilt gefüllte Pappbecher an alle. Simon hat sich etwas abseits ein ruhiges Plätzchen gesucht, wo er das Brot und die Wunderkerzen auspackt. „Hallo! Ist bei dir noch ein Stehplatz frei? Oder wirst du auch gleich diese lauten Dinger anzünden? Dann stelle ich mich lieber woanders hin.“ Simon hebt den Kopf und erkennt die junge Frau, die ihm in Bernds Wohnung schon aufgefallen ist. „Wie? Oh, hallo. Klar ist bei mir noch ein Platz frei. Wird auch nicht laut, ich versprech’s. Seit meinem Bruder vor einigen Jahren ein ganzer Schuhkarton mit Silvesterkrachern um die Ohren geflogen ist, bin ich davon kuriert.“ – „Auweia, ich hoffe, deinem Bruder ist nichts passiert?“ – „Nein, er hat Glück gehabt. Aber er war stocksauer, dass sein gesamtes Taschengeld auf einen Schlag in die Luft geflogen ist. Eigentlich wollte er jeden Kracher einzeln abfackeln, damit er die ganze Nacht was davon hat.“ Simon grinst schief und die junge Frau lächelt ihn an. „Ok, dann bleibe ich gerne bei dir. Ich hab’s nämlich nicht so mit Silvester. Mir ist das alles zu laut und zu viel. Aber was soll ich machen, Bernd kann sehr überzeugend sein.“ Sie lacht. „Wem sagst du das? Ohne Bernd läge ich jetzt mit einem Grog auf der Couch und um kurz nach Mitternacht im Bett.“ – „Aber stattdessen stehst du hier und … äh, präparierst ein Brot mit Wunderkerzen?“ Richtig. Das tut er.
Simon blickt von seiner Tätigkeit auf und direkt in zwei neugierig-amüsierte Augen, die ihn fröhlich anblinzeln. Ablehnung entdeckt er in ihnen zum Glück nicht. Obwohl er die junge Frau gar nicht kennt und obwohl es fraglich ist, ob er ihr noch mal begegnet, will Simon nicht, dass sie ihn für einen Freak hält. Aber so schnell scheint sie ihre Urteile nicht zu fällen. Simon räuspert sich. „Ähm, ja, stimmt. Auf den Plakaten heißt es doch immer ‚Brot statt Böller‘. Naja, das hab ich wohl ein bisschen zu wörtlich genommen. Der Vorteil: es ist nicht teuer, sieht hübsch aus und macht keinen Lärm. Und wenn man die verkokelten Stellen abschneidet, hat man am Neujahrstag ein feines Frühstücksbrot.“ So. Jetzt ist es raus. Simon wartet auf eine Reaktion und vergräbt die Hände verlegen in den Jackentaschen. Auf dem Gesicht der jungen Frau breitet sich ein Grinsen aus. Dann zaubert sie ein Feuerzeug aus ihrer Hosentasche und sieht Simon fragend an. „Darf ich? Ich hab noch nie einen Brotböller gezündet.“ Simon nickt verblüfft und pünktlich zum Jahreswechsel sprühen die Wunderkerzen ihre Funken in die Nacht. „Na, wenn das kein gutes Timing ist! Frohes Neues!“, sagt die junge Frau und stößt lachend mit Simon an, der sich prompt am Sekt verschluckt und fürchterlich husten muss. Aber davon abgesehen, ist das Reste-Silvester bislang gar nicht so übel ...
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...
... kann Silvesterparties echt nicht leiden. Oder etwa doch?
Reste-Silvester! Simon schlüpft in seine Daunenjacke und schüttelt den Kopf. Wie das schon klingt! Als würde man alles, was vom laufenden Jahr übrig ist – Essen, Getränke, Menschen – an einen Ort karren, es dort auf einen Haufen zusammenschmeißen, munter durchmischen und abwarten, was passiert. Simon zieht sich die Mütze über den Kopf und schultert seinen Rucksack. Darin hat er ein Walnuss-Ciabatta und eine Packung Wunderkerzen. Neuware, versteht sich. Simon wird das kommende Jahr nicht mit Resten aus dem vergangenen begrüßen. Es reicht, dass er sich selbst manchmal so fühlt, als sei er übrig und im hintersten Regal liegen geblieben. Kein Wunder, dass ihn sein Freund regelmäßig zum Reste-Silvester einlädt, der traditionellen Party für alle, die sich mal wieder viel zu spät mit der Frage „Und was machst du so an Silvester?“ beschäftigt haben und nicht wissen, was sie am letzten Abend des Jahres mit sich anfangen sollen. Simon zieht die Haustür ins Schloss und geht los. Er wendet sich nach rechts und stapft durch die verschneite Hedwig-Dransfeld-Allee. Aus den Fenstern der umliegenden Häuser fällt warmes Licht auf die Straße und Simon seufzt. Er wäre jetzt auch gerne im Warmen auf seiner Couch, einen Grog in der Hand und gute Musik in den Ohren.
Stattdessen pfeift der kalte Wind durch den Reißverschluss seiner Jacke und Simon friert ein bisschen. Warum hat er nicht einfach abgesagt? Hätte ihm nicht beizeiten eine hübsche Ausrede einfallen können? Ach was, Ausrede! Er hätte auch einfach eine Mail oder SMS des Inhalts „Kommen unmöglich. Lüge folgt.“ abschicken und sich spätestens um 00:10 Uhr ins Bett legen können. Simon grinst, während er bei der Tramhaltestelle Goethe-Institut die Dachauer Straße überquert und sich durch die Heideckstraße weiter seinen Weg bahnt.
Wer wohl alles da ist? Die üblichen Verdächtigen vermutlich: Das H-Pärchen (H wie haltbar, wie bei der zu Tode pasteurisierten, schier unkaputtbaren Milch)? Der Computer-Nerd Christof? Ein paar Arbeitskollegen von Bernd? Vermutlich. Und vermutlich auch die eine oder andere Single-Frau, mit der Bernd seinen Freund Simon wie jedes Mal verkuppeln will. Und wie jedes Mal ist Simon überhaupt nicht scharf darauf. Auf diesen langweiligen Small-Talk mit dumpfen Fragen à la „Und was machst du so im richtigen Leben?“, „Hast du eine Freundin?“, „Nein? Warum nicht? Stimmt was nicht mit dir?“ Was soll er darauf sagen? Die Wahrheit etwa? „Ja, mit mir stimmt was nicht. Seit meiner Trennung vor ein paar Jahren habe ich kein Verlangen mehr nach einer neuen Beziehung. Sollte mich ein diffuses Sehnsuchtsgefühl überkommen, ziehe ich meine Laufklamotten an und renne so lange, bis der Anfall vorüber ist.“
Simon kann sich gut vorstellen, was das für eine Wirkung auf seine Gesprächspartnerin hätte, kontaktfördernd wäre sie mit Sicherheit nicht. Er seufzt und muss daran denken, wie ihm seine Freundin vor ein paar Jahren an Silvester den Laufpass gegeben hat. Ein tolles Datum hatte sie sich dafür ausgesucht, das muss Simon ihr lassen. Und eine noch tollere Location: den Platz „zur schönen Aussicht“ vorm Residenztheater! Schon seit Wochen hatte es merklich zwischen ihnen gekriselt, aber in einer Blödheit, die nur Menschen in Paarbeziehungen befallen kann, hatten sie beschlossen, die vor Monaten gekauften Tickets nicht verfallen zu lassen und sich gemeinsam das Stück anzusehen. Man gab „Der eingebildete Kranke“ von Molière und obwohl die Inszenierung wirklich gut und das Ensemble in bester Spiellaune gewesen war, hatte Simon seinen bislang furchtbarsten Theaterabend erlebt. Er und C. hatten nebeneinander gesessen und trotz (oder gerade wegen) der räumlichen Enge im Zuschauerraum, hatte er die Distanz und das Ungesagte zwischen ihnen nie stärker empfunden, als in diesen zweieinhalb Stunden. Es hatte ihm regelrecht körperlichen Schmerz bereitet. In der Pause waren sie verlegen im Freien gestanden, C. hatte geraucht und sie hatten sich laut angeschwiegen.
So laut, dass Simon dachte, ihm platze nicht nur das Herz, sondern auch das Trommelfell. Die zweite Hälfte der Vorstellung hatte er damit verbracht, kalten Schweiß abzusondern und dem rasenden Klopfen seines hysterischen Herzens zu lauschen. Hysterisches Herz, das wäre ein toller Titel für einen Roman, denkt er und hustet kleine Atemwolken in die klirrend-kalte Nachtluft der Minerviusstraße. Simon wirft einen Blick auf seine Uhr. Wenn er ein bisschen aufs Tempo drückt, ist er bis 22 Uhr bei Bernd. Ausreichend früh, um seinen Freund nicht zu sehr zu enttäuschen, ausreichend spät, um nicht zu lang einen auf Party machen zu müssen. Simon beschleunigt seinen Schritt und stapft flott durch die Dom-Pedro-Straße. Ob der Kanal schon zugefroren ist? In der Trennungsnacht war das der Fall gewesen. Das weiß Simon genau. Er war nach dem Schlussvorhang wie in Trance zu Bernd gefahren, hatte sich haltlos betrunken und war in pseudo-selbstmörderischer Absicht über die schneebedeckte Eisfläche geschlittert. Er war wild entschlossen gewesen, einzubrechen und elendiglich zu erfrieren. Reichlich albern. Keine Frage.
Aber nachdem am Ende der Vorstellung nicht nur auf der Bühne der Vorhang gefallen war, war ihm das gar nicht so abwegig erschienen. Und die vier Biere, die ihm als Wegzehrung gedient hatten, hatten ihr übriges getan, um aus Simon ein lebensüberdrüssiges, wehleidiges Etwas zu machen. Furchtbar war das gewesen und Simon will gar nicht weiter darüber nachdenken. Er schüttelt die Arme aus, richtet den Oberkörper auf und atmet tief ein und aus. Dann biegt er von der Waisenhausstraße kommend in die Südliche Auffahrtsallee ein. Der Kanal ist tatsächlich zugefroren. Eine dunkle, an einigen Stellen mit Schnee bedeckte glatte Fläche. Vielleicht könnte er mit Bernd demnächst mal wieder Schlittschuhlaufen gehen. Natürlich erst, nachdem dieser seinen Neujahrsrausch ausgeschlafen hat. Sie könnten am späten Vormittag übers Eis flitzen und anschließend beim Weißwurstfrühstück Männergespräche führen. Oder sich in gegenseitigem Einvernehmen gemütlich anschweigen. Dazu waren sie in den letzten Monaten vor lauter Stress und Terminen überhaupt nicht gekommen. Die kurzen Treffen auf irgendwelchen Abendveranstaltungen waren zwar nett, reichten aber nicht aus, um sich über das Leben des anderen auf den neusten Stand zu bringen. Simon würde Bernd nachher einfach mal fragen. Apropos Bernd. Kaum biegt Simon in die Bernabeistraße ein, sieht er seinen Kumpel und drei weitere angetrunkene Gestalten schon auf dem Balkon stehen und ihm zuwinken. Er winkt zurück und wird von Bernd lautstark begrüßt: „Mensch, Simon! Wo bleibst du denn? Wenn du das nächste Mal noch später kommst, kannst du gleich das Neujahrsfrühstück mitbringen. Also ehrlich, Mann! Sieh zu, dass du deinen verknöcherten Arsch hier raufschwingst. Dann kriegst du auch noch was von meinem legendären Chili. Kannst von Glück sagen, dass noch was übrig ist, die ollen Fresssäcke hier haben das Zeug regelrecht eingeatmet.“
Kaum hat Simon das Haus betreten, wird er von seinem Kumpel auch schon fest in die Arme geschlossen und mit einem dampfend-heißen Chili auf die Couch verfrachtet. Im Wohnzimmer sind ungefähr zwölf Leute versammelt, die meisten kennt Simon noch vom letzten Jahr. Nur eine junge Frau scheint neu in der Runde zu sein. Junge Frau? Allein? Oh nein, Simon ahnt Schreckliches. Doch er bekämpft den Impuls, Bernd in der Küche zur Rede zu stellen, jetzt ist erst mal das Chili an der Reihe. Simon nickt den Anwesenden freundlich zu und beginnt zu essen. Während er genüsslich vor sich hinlöffelt, wogen die Partygäste um ihn herum. Die einen holen sich ein kühles Bier aus der Badewanne, die anderen stehen rauchend auf dem Balkon. Immer wieder setzt sich jemand zu ihm auf die Couch, um ein paar Worte zu wechseln oder auf dem Smartphone nachzusehen, auf welche Party man im Anschluss gehen könnte. Die zwei Stunden bis zum Jahreswechsel vergehen wie im Flug und – wenn Simon ehrlich ist – angenehm unaufgeregt. Um dreiviertel Zwölf gerät die Gesellschaft dann jäh in Bewegung. Man will das Feuerwerk am Kanal nicht verpassen! Schnell werden Sekt, Pappbecher und Silvesterraketen eingepackt, es werden Jacken, Mützen und Schals angelegt und schon ist man auf dem Weg nach draußen.
Unten am Kanal sind alle damit beschäftigt, sich einen guten Platz für die Silvesterraketen und Feuerwerksbatterien zu suchen. Bernd öffnet eine Sektflasche nach der anderen und Christof verteilt gefüllte Pappbecher an alle. Simon hat sich etwas abseits ein ruhiges Plätzchen gesucht, wo er das Brot und die Wunderkerzen auspackt. „Hallo! Ist bei dir noch ein Stehplatz frei? Oder wirst du auch gleich diese lauten Dinger anzünden? Dann stelle ich mich lieber woanders hin.“ Simon hebt den Kopf und erkennt die junge Frau, die ihm in Bernds Wohnung schon aufgefallen ist. „Wie? Oh, hallo. Klar ist bei mir noch ein Platz frei. Wird auch nicht laut, ich versprech’s. Seit meinem Bruder vor einigen Jahren ein ganzer Schuhkarton mit Silvesterkrachern um die Ohren geflogen ist, bin ich davon kuriert.“ – „Auweia, ich hoffe, deinem Bruder ist nichts passiert?“ – „Nein, er hat Glück gehabt. Aber er war stocksauer, dass sein gesamtes Taschengeld auf einen Schlag in die Luft geflogen ist. Eigentlich wollte er jeden Kracher einzeln abfackeln, damit er die ganze Nacht was davon hat.“ Simon grinst schief und die junge Frau lächelt ihn an. „Ok, dann bleibe ich gerne bei dir. Ich hab’s nämlich nicht so mit Silvester. Mir ist das alles zu laut und zu viel. Aber was soll ich machen, Bernd kann sehr überzeugend sein.“ Sie lacht. „Wem sagst du das? Ohne Bernd läge ich jetzt mit einem Grog auf der Couch und um kurz nach Mitternacht im Bett.“ – „Aber stattdessen stehst du hier und … äh, präparierst ein Brot mit Wunderkerzen?“ Richtig. Das tut er.
Simon blickt von seiner Tätigkeit auf und direkt in zwei neugierig-amüsierte Augen, die ihn fröhlich anblinzeln. Ablehnung entdeckt er in ihnen zum Glück nicht. Obwohl er die junge Frau gar nicht kennt und obwohl es fraglich ist, ob er ihr noch mal begegnet, will Simon nicht, dass sie ihn für einen Freak hält. Aber so schnell scheint sie ihre Urteile nicht zu fällen. Simon räuspert sich. „Ähm, ja, stimmt. Auf den Plakaten heißt es doch immer ‚Brot statt Böller‘. Naja, das hab ich wohl ein bisschen zu wörtlich genommen. Der Vorteil: es ist nicht teuer, sieht hübsch aus und macht keinen Lärm. Und wenn man die verkokelten Stellen abschneidet, hat man am Neujahrstag ein feines Frühstücksbrot.“ So. Jetzt ist es raus. Simon wartet auf eine Reaktion und vergräbt die Hände verlegen in den Jackentaschen. Auf dem Gesicht der jungen Frau breitet sich ein Grinsen aus. Dann zaubert sie ein Feuerzeug aus ihrer Hosentasche und sieht Simon fragend an. „Darf ich? Ich hab noch nie einen Brotböller gezündet.“ Simon nickt verblüfft und pünktlich zum Jahreswechsel sprühen die Wunderkerzen ihre Funken in die Nacht. „Na, wenn das kein gutes Timing ist! Frohes Neues!“, sagt die junge Frau und stößt lachend mit Simon an, der sich prompt am Sekt verschluckt und fürchterlich husten muss. Aber davon abgesehen, ist das Reste-Silvester bislang gar nicht so übel ...
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...