Marissa und Tobias
... streifen durch die Nacht und merken, dass man manchmal auf ein Taxi verzichten sollte und Kopfhörer im Club nicht gut aussehen. Und dass es verdammt anstrengend ist, Träume zu verwirklichen.
Als Tobias in die Vierer-WG in der Barerstraße gezogen ist, hat er gedacht, es würde lustig werden. Jetzt sitzt Marissa heulend auf seiner abgewetzten Ledercouch, hektisch rauchend und das zugekleisterte Gesicht ganz verschmiert.
„Weißt du, weißt du, er sieht mich nicht!“, schluchzt sie.
„Der ist es gar nicht wert, wenn er nicht sieht, wie toll du bist!“, würde Tobias gern sagen, wirklich gern sagen, weil er tatsächlich irgendwie auf Marissa steht, elfenhaft findet er sie in ihrer verhungerten Schönheit, mit diesen riesigen dunklen Augen im mageren Gesichtchen. Das Problem an der Sache ist, dass sie überhaupt keinen Kerl meint, von dem sie abgewiesen oder sitzengelassen oder sonst was wurde, nein, Marissa hat sich in den Kopf gesetzt, als Schauspielerin durchzustarten. Deshalb lauert sie einem Regisseur auf, der oft die Amalienstraße entlang spaziert, weil er in einem seiner Interviews mal gesagt hat, Talent, ja, Talent käme niemals unentdeckt an ihm vorbei. Nun ist ihm Marissa schon unzählige Male über den Weg gelaufen, erzählt sie Tobias, und er hat keinerlei Anstalten gemacht, sie zu entdecken. Also hatte sie beschlossen, zu investieren. In Silikonbrüste. Die sehen komisch aus, weil Marissa kurvenlos ist wie ein Stöckchen, nur würde Tobias ihr das natürlich niemals sagen. Genützt hat es ihr nichts. Auch mit den neuen Brüsten würdigte der Regisseur sie keines Blickes, deshalb hockt sie im Moment flennend bei Tobias.
„Lass uns heut’ Abend auf die Piste gehen“, nuschelt der tröstend im Bettbrunner Dialekt. Da kommt er her – ein Dorf mit 260 verzeichneten Einwohnern, wo jeder jeden kennt und jeder weiß, wer sonntagmorgens in die Kirche pilgert, um vom heiligen Salvator Mundi Beistand zu erbitten. Tobias, Sohn gläubiger Eltern, schlaksiger Heroin-Chic, ohne jemals etwas genommen zu haben, dessen lange dünne Beine in Skinny Jeans und Cowboystiefeln stecken, pilgerte nicht. Er probte lieber mit seiner Band „We fuck your asses“ in der Garage seines Kumpels Peter, bis er beschloss, dass eine Garage in einem Haus in einem Ort direkt im Wald gelegen unausreichend war für seine künstlerischen Bemühungen. Tobias wollte berühmt werden, deshalb zog er nach München.
„Lass uns heut Abend auf die Piste gehen? Was soll denn der Scheiß! Lass uns heut Abend auf die Piste gehen! Kann ich mir in die Haare schmieren! Gefühlloser Klotz!“ Marissas ganzer Körper zuckt, so sehr muss sie schluchzen, nur ihre Brüste bleiben reglos.
Tobias zuckt mit den Schultern: „Tja mei, weiß ja auch nicht ...“ sagt er. Das ist eine Antwort, die seiner Erfahrung nach immer passt.
Schließlich putzt sich Marissa die Nase und schnieft: „Wo willste denn hin?“
Tobias macht „Äh ...“ Und dann sofort: „Atomic!“
Marissa starrt ihn entgeistert an, dabei weiß Tobias gar nicht, was er ihr da eigentlich vorschlägt, sondern erinnert sich lediglich daran, dass der Club vor Jahren, als er mit seiner Band „We fuck your asses“ einen Trip nach München gemacht hatte, ein verdammt cooler Geheimtipp gewesen war.
„Also ... hm ... nich’?“
„Du ...“, Marissa zieht die Augenbrauen hoch, ihr verheultes Gesicht sieht süß aus dabei, „das is’ echt abtörnend ...“
Sie will ins P1, da ist sie schon mal mit Jimi am Tisch gesessen, erzählt sie. Tobias fragt: „Jimi?“
„Na, Jimi Blue!“
„Jimi Blue wer denn bitte?“
„Ochsenknecht! Bist du irgendwie ... äh ... du lebst echt hinterm Mond!“
„Ah, ach ja, toll ...“ Zögernd nickt Tobias, was soll’s, dann eben P1, wenn sie unbedingt will.
„Ich mach’ mich kurz fertig“, sagt Marissa und braucht über eine Stunde, schließlich angelt sie ein Paar hochhackige schwarze Lackpumps aus dem Schuhhaufen im Flur, wirft ihrem Spiegelbild im Aufzug einen letzten, kritischen Blick zu und nickt zufrieden.
„Das ist mein Stammcafé“, sagt Tobias, als sie am Barer 61 vorbeikommen, sind nur ein paar Meter von der Wohnung aus. Er trinkt dort Americano, Kaffee schwarz, manchmal verstehen die Bedienungen nicht, was er mit Americano meint und bringen trotzdem ein Kännchen Milch mit, das sind aber dann die neuen, die alten wissen Bescheid. Vor allem die Sonnentage sind gut, Tobias wandert zusammen mit seinem Laptop und der Sonne die Tische im Freien entlang, um die Ecke und wenn die Sonne ganz weg ist, geht auch Tobias. In der Regel sitzt ihm auf seiner Wanderstrecke ein Mann im Weg, der noch öfter da ist als er und auch einen Laptop dabei hat. Er trinkt Cappuccino und bekommt den meist serviert, ohne bestellen zu müssen. Tobias vermutet, dass er reich ist, oder berühmt und nickt ihm hin und wieder schüchtern zu.
„Einmal war hier ein Hündchen, das ein schwarzes T-Shirt mit einem Totenkopf aus Strasssteinen anhatte! Das ist zu mir her und hat mir die Hand abgeschleckt“, erzählt er jetzt und verschweigt, dass das Vieh halb nackt und echt hässlich war. Beziehungsweise „rührend hässlich“ verbessert er sich in Gedanken, der Hund selbst kann schließlich nichts dafür. „Wie süß!“ Marissa strahlt. „Ich hätte auch gern einen Hund, einen Bichon Frise, aber der dämliche Vermieter erlaubt es nicht.“
Sie laufen die Schellingstraße entlang und hören Geschrei von weiter weg, wüste Beschimpfungen. Marissa kichert. „Das sind die Beiden!“, sagt sie, „kennst du die schon?“ Und als Tobias verneint: „Die rennen hier immer rum und streiten. Zwei braungebrannte Männer mit langer blonder Mähne und neonfarbenen Hot Pants. Total verrückt! Ich trau mich nie, sie direkt anzuschauen, weil ich Angst habe, sie beschimpfen dann mich. Aber ich muss lächeln, wenn ich sie sehe. Das sind diese kleinen Dinge, weißt du ...“ Tobias späht nach blonden Mähnen, kann aber niemanden entdecken und das Geschrei wird leiser. Plötzlich winkt Marissa und brüllt: „Taxi!“
„Wieso Taxi?“, fragt Tobias, „du hast gesagt, es ist nicht weit!“
„Oh bitte! Tobias!“ entgegnet sie abfällig, doch der Hochmut vergeht ihr mit einem Blick in ihre Geldbörse, als das Taxi bei der Prinzregentenstraße hält. Nicht schlimm, Marissa quietscht leise voller Vorfreude und zieht
Tobias an der Hand hinter sich her, sie sei schon ewig nicht mehr unterwegs gewesen, sagt sie und dass sie ihm nun schon zeigen werde, wie es aussähe in der Welt, in der sie eigentlich lebt und leben will. Tut sie nicht, denn die Türsteher weisen sie ab – was für eine Schmach und das, obwohl Marissa aufstampft und sich entrüstet, ins P1 käme mittlerweile jeder Depp, also was soll der Mist! Der Ausbruch nützt leider wenig, vielmehr sorgt er dafür, dass die Türsteher ihr prophezeien, sie brauche nicht zu glauben, dass sie hier jemals wieder einen Fuß reinsetzen dürfe.
Marissa schnappt nach Luft und fängt an zu lachen, nein, trocken zu schluchzen und zu flehen bis Tobias sie packt und sanft aber bestimmt wegschiebt. „Ist doch egal“, murmelt er, „nimm es nicht so ernst, die merken sich das nie im Leben.“
Jetzt laufen sie die Maximilianstraße entlang beziehungsweise Marissa stöckelt und schreit Tobias an, das wäre alles seine Schuld mit seinen bescheuerten Cowboystiefeln und Tobias schreit zurück, die seien stylisch und Marissa habe absolut keine Ahnung, woraufhin Marissa schreit: „Stylisch? Ja, in Bettbrunn vielleicht, verdammte Scheiße!“
Im Übrigen sind sie nun doch auf dem Weg ins Atomic – Marissa mag das gar nicht aussprechen – zu Fuß, weil sie sich kein weiteres Taxi leisten können. Marissas Geld steckt in ihren Brüsten, das von Tobias in seinem Umzug und bis er in München Geld verdient, kann es noch dauern. Schließlich hat er sich geschworen, ausnahmslos und zwar wirklich ausnahmslos Geld mit seiner Musik zu machen! Lieber am Existenzminimum dahinleben als seinen Traum zu verraten. Die Bandmitglieder hat er mittlerweile zusammen, über Zettel an den Türen der Unitoiletten, geprobt haben sie aber noch nie. Hauptsache der Name passt. Und da hatten sich unerwartete Probleme aufgetan. Tobias’ ehemalige Kollegen aus Bettbrunn weigerten sich, den Namen „We fuck your asses“ freizugeben, weshalb er sich zuerst „We fuck you all“ überlegte, dann jedoch, weil er ja aus dem Underground auftauchen und Geld verdienen wollte, den seriöseren Namen „Tell us some stories“ wählte, Abkürzung „Tuss“, was er witzig fand.
Zu wenig Geld für ein Taxi also, „Kannst du mich wenigstens Huckepack nehmen?“, quäkt Marissa, Tobias kann und spürt, wie sich die Silikonballons unter ihrer Lederjacke an seinen Rücken pressen. Marissa schimpft unentwegt, es hätte an Tobias’ „Tuss“-T-Shirt, das er sich in der vergangenen Woche hatte drucken lassen und nun mit Stolz trug, gelegen und Tobias schnauzt zurück: „Ich dachte, es wären meine Scheiß-Schuhe gewesen!“
Alles, der gesamte Tobias sei es gewesen, mault Marissa, er habe ihr nur was Gutes tun wollen, wo sie so geheult hätte, brüllt Tobias und strauchelt, beide kippen zur Seite auf den Asphalt, Tobias auf Marissa drauf, ihre riesigen, dunklen Augen aufgerissen und die mit Lipgloss verklebten Lippen zu einem spitzen Schrei verformt, er möchte sie küssen, jetzt, hier, da kreischt ihm Marissa ins Gesicht: „Auaaaa, du Arsch! Das tut schweineweh!“
Er rollt von ihr runter, atmet tief ein und aus, steht auf und klopft sich den Dreck von der Hose, reicht Marissa die Hand und zieht sie ebenfalls hoch. Wo ist dieser Moment plötzlich hin? Jetzt bleibt nur Marissas bestrumpftes Bein unter dem dünnen Seidenkleid, aufgeschürft vom Hintern bis zum Knöchel, blutend.
„Woah, Kacke!“, stöhnt Marissa. Tobias fragt, ob sie ins Krankenhaus möchte, darauf sie: „Nein, tanzen, bitte, was ist denn so schwer dran, tanzen einfach, ja?“
Also weiter und ob sie denn keine Schmerzen spüre, fragt Tobias.
„Ach, was spüren wir denn überhaupt noch?“, erwidert sie.
Das Atomic ist gesteckt voll. Tobias quetscht sich zur Bar um Bier zu holen für sich, für Marissa, die kopfschüttelnd in einer Ecke stehen bleibt, „Das darf ich keinem erzählen, echt!“ Das Blut ist getrocknet und lässt ihre zerrissene Strumpfhose an ihrem Bein festkleben.
„Einer hat versucht, alle seine Gedanken aufzuschreiben, aber das hat nicht geklappt. Er meinte, er hätte zwei Wörter geschrieben und dann wären hundert neue Ideen in seinem Kopf gewesen. Verwirrung.“
„Ja, wirklich?“, hört Tobias das Gespräch neben sich mit, dreht sich zur Seite, zwei pickelige Jungs mit um den Hals hängenden, riesigen Kopfhörern stehen da, die Kopfhörer auf ihre Palästinenserschals gebettet, was ist denn das für eine Mode mit diesen Kopfhörern! Kinder! Kindergarten, hier! Die Leute auf der Tanzfläche schwitzen und stinken, während sie sich hin und herschieben zur Musik ohne Rhythmus – um wirklich zu tanzen, ist es zu voll.
Tobias quetscht sich an einem Typen vorbei, der möglichst verhalten auf den Boden kotzt, ein Mädchen rafft hastig die Jacken zusammen, die in der Nähe liegen. Der Typ schaut belämmert und trinkt sein Bier weiter. Tobias sieht Marissa eingeklemmt an der Wand stehen, sie ruft „Auszeit!“ und beide winden sich durch die Meute hin zur Bank gegenüber den Toiletten. Er gibt ihr eine Flasche Augustiner und erzählt, als er das letzte Mal hier und aufm Klo gewesen sei und sich hätte schnäuzen müssen, da sei einer auf ihn zugekommen und habe gesagt: „Gib mir auch was, okay? Ich seh’ doch, dass du was hast! Ich seh’s doch! Witzig, oder?“ „Ja, witzig“, sagt Marissa und nach einem Schluck Bier: „Morgen werd’ ich zu diesem Arschloch-Regisseur gehen, seinen Kopf hochreißen und ihm ins Gesicht sagen: Talent! Sehen Sie? Talent! Was hältst du davon?“
Tobias zuckt mit den Schultern. Auf der Tanzfläche, das T-Shirt klebt ihm an den Schultern, umarmt er Marissas zierlichen Körper und schreit ihr ins Ohr: „Dich umarmen und sagen, ist alles gut, aber das ist es ja irgendwie nicht, ich weiß nicht, was ich sagen soll!“ Marissa lacht und schreit zurück: „Nichts, sag nichts.“
Später hocken sie erschöpft nebeneinander und warten auf die U-Bahn, Marienplatz, die erste an diesem Tag. Tobias wippt mit seinen Cowboystiefeln. Er trägt die Jacke offen, damit jeder den „Tuss“-Aufdruck auf seinem T-Shirt sieht. „Hast recht“, murmelt er, „im Atomic isses echt scheiße geworden.“
Marissa steht auf, geht ein paar Schritte und starrt auf die Schienen. „Ist dir das schon aufgefallen? Zwischen den Kohlen sind so kleine Mäuse! Ich hab’ mich total gefreut, als ich das zum ersten Mal gesehen habe.“
Tobias grinst, „Nee, echt niedlich!“
Dann springt die Anzeige um, die U-Bahn fährt ein und Marissa sagt, „Naja, egal“, Tobias schreit und reißt den Arm nach vorne, bevor sie sich fallen lässt...
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...
... streifen durch die Nacht und merken, dass man manchmal auf ein Taxi verzichten sollte und Kopfhörer im Club nicht gut aussehen. Und dass es verdammt anstrengend ist, Träume zu verwirklichen.
Als Tobias in die Vierer-WG in der Barerstraße gezogen ist, hat er gedacht, es würde lustig werden. Jetzt sitzt Marissa heulend auf seiner abgewetzten Ledercouch, hektisch rauchend und das zugekleisterte Gesicht ganz verschmiert.
„Weißt du, weißt du, er sieht mich nicht!“, schluchzt sie.
„Der ist es gar nicht wert, wenn er nicht sieht, wie toll du bist!“, würde Tobias gern sagen, wirklich gern sagen, weil er tatsächlich irgendwie auf Marissa steht, elfenhaft findet er sie in ihrer verhungerten Schönheit, mit diesen riesigen dunklen Augen im mageren Gesichtchen. Das Problem an der Sache ist, dass sie überhaupt keinen Kerl meint, von dem sie abgewiesen oder sitzengelassen oder sonst was wurde, nein, Marissa hat sich in den Kopf gesetzt, als Schauspielerin durchzustarten. Deshalb lauert sie einem Regisseur auf, der oft die Amalienstraße entlang spaziert, weil er in einem seiner Interviews mal gesagt hat, Talent, ja, Talent käme niemals unentdeckt an ihm vorbei. Nun ist ihm Marissa schon unzählige Male über den Weg gelaufen, erzählt sie Tobias, und er hat keinerlei Anstalten gemacht, sie zu entdecken. Also hatte sie beschlossen, zu investieren. In Silikonbrüste. Die sehen komisch aus, weil Marissa kurvenlos ist wie ein Stöckchen, nur würde Tobias ihr das natürlich niemals sagen. Genützt hat es ihr nichts. Auch mit den neuen Brüsten würdigte der Regisseur sie keines Blickes, deshalb hockt sie im Moment flennend bei Tobias.
„Lass uns heut’ Abend auf die Piste gehen“, nuschelt der tröstend im Bettbrunner Dialekt. Da kommt er her – ein Dorf mit 260 verzeichneten Einwohnern, wo jeder jeden kennt und jeder weiß, wer sonntagmorgens in die Kirche pilgert, um vom heiligen Salvator Mundi Beistand zu erbitten. Tobias, Sohn gläubiger Eltern, schlaksiger Heroin-Chic, ohne jemals etwas genommen zu haben, dessen lange dünne Beine in Skinny Jeans und Cowboystiefeln stecken, pilgerte nicht. Er probte lieber mit seiner Band „We fuck your asses“ in der Garage seines Kumpels Peter, bis er beschloss, dass eine Garage in einem Haus in einem Ort direkt im Wald gelegen unausreichend war für seine künstlerischen Bemühungen. Tobias wollte berühmt werden, deshalb zog er nach München.
„Lass uns heut Abend auf die Piste gehen? Was soll denn der Scheiß! Lass uns heut Abend auf die Piste gehen! Kann ich mir in die Haare schmieren! Gefühlloser Klotz!“ Marissas ganzer Körper zuckt, so sehr muss sie schluchzen, nur ihre Brüste bleiben reglos.
Tobias zuckt mit den Schultern: „Tja mei, weiß ja auch nicht ...“ sagt er. Das ist eine Antwort, die seiner Erfahrung nach immer passt.
Schließlich putzt sich Marissa die Nase und schnieft: „Wo willste denn hin?“
Tobias macht „Äh ...“ Und dann sofort: „Atomic!“
Marissa starrt ihn entgeistert an, dabei weiß Tobias gar nicht, was er ihr da eigentlich vorschlägt, sondern erinnert sich lediglich daran, dass der Club vor Jahren, als er mit seiner Band „We fuck your asses“ einen Trip nach München gemacht hatte, ein verdammt cooler Geheimtipp gewesen war.
„Also ... hm ... nich’?“
„Du ...“, Marissa zieht die Augenbrauen hoch, ihr verheultes Gesicht sieht süß aus dabei, „das is’ echt abtörnend ...“
Sie will ins P1, da ist sie schon mal mit Jimi am Tisch gesessen, erzählt sie. Tobias fragt: „Jimi?“
„Na, Jimi Blue!“
„Jimi Blue wer denn bitte?“
„Ochsenknecht! Bist du irgendwie ... äh ... du lebst echt hinterm Mond!“
„Ah, ach ja, toll ...“ Zögernd nickt Tobias, was soll’s, dann eben P1, wenn sie unbedingt will.
„Ich mach’ mich kurz fertig“, sagt Marissa und braucht über eine Stunde, schließlich angelt sie ein Paar hochhackige schwarze Lackpumps aus dem Schuhhaufen im Flur, wirft ihrem Spiegelbild im Aufzug einen letzten, kritischen Blick zu und nickt zufrieden.
„Das ist mein Stammcafé“, sagt Tobias, als sie am Barer 61 vorbeikommen, sind nur ein paar Meter von der Wohnung aus. Er trinkt dort Americano, Kaffee schwarz, manchmal verstehen die Bedienungen nicht, was er mit Americano meint und bringen trotzdem ein Kännchen Milch mit, das sind aber dann die neuen, die alten wissen Bescheid. Vor allem die Sonnentage sind gut, Tobias wandert zusammen mit seinem Laptop und der Sonne die Tische im Freien entlang, um die Ecke und wenn die Sonne ganz weg ist, geht auch Tobias. In der Regel sitzt ihm auf seiner Wanderstrecke ein Mann im Weg, der noch öfter da ist als er und auch einen Laptop dabei hat. Er trinkt Cappuccino und bekommt den meist serviert, ohne bestellen zu müssen. Tobias vermutet, dass er reich ist, oder berühmt und nickt ihm hin und wieder schüchtern zu.
„Einmal war hier ein Hündchen, das ein schwarzes T-Shirt mit einem Totenkopf aus Strasssteinen anhatte! Das ist zu mir her und hat mir die Hand abgeschleckt“, erzählt er jetzt und verschweigt, dass das Vieh halb nackt und echt hässlich war. Beziehungsweise „rührend hässlich“ verbessert er sich in Gedanken, der Hund selbst kann schließlich nichts dafür. „Wie süß!“ Marissa strahlt. „Ich hätte auch gern einen Hund, einen Bichon Frise, aber der dämliche Vermieter erlaubt es nicht.“
Sie laufen die Schellingstraße entlang und hören Geschrei von weiter weg, wüste Beschimpfungen. Marissa kichert. „Das sind die Beiden!“, sagt sie, „kennst du die schon?“ Und als Tobias verneint: „Die rennen hier immer rum und streiten. Zwei braungebrannte Männer mit langer blonder Mähne und neonfarbenen Hot Pants. Total verrückt! Ich trau mich nie, sie direkt anzuschauen, weil ich Angst habe, sie beschimpfen dann mich. Aber ich muss lächeln, wenn ich sie sehe. Das sind diese kleinen Dinge, weißt du ...“ Tobias späht nach blonden Mähnen, kann aber niemanden entdecken und das Geschrei wird leiser. Plötzlich winkt Marissa und brüllt: „Taxi!“
„Wieso Taxi?“, fragt Tobias, „du hast gesagt, es ist nicht weit!“
„Oh bitte! Tobias!“ entgegnet sie abfällig, doch der Hochmut vergeht ihr mit einem Blick in ihre Geldbörse, als das Taxi bei der Prinzregentenstraße hält. Nicht schlimm, Marissa quietscht leise voller Vorfreude und zieht
Tobias an der Hand hinter sich her, sie sei schon ewig nicht mehr unterwegs gewesen, sagt sie und dass sie ihm nun schon zeigen werde, wie es aussähe in der Welt, in der sie eigentlich lebt und leben will. Tut sie nicht, denn die Türsteher weisen sie ab – was für eine Schmach und das, obwohl Marissa aufstampft und sich entrüstet, ins P1 käme mittlerweile jeder Depp, also was soll der Mist! Der Ausbruch nützt leider wenig, vielmehr sorgt er dafür, dass die Türsteher ihr prophezeien, sie brauche nicht zu glauben, dass sie hier jemals wieder einen Fuß reinsetzen dürfe.
Marissa schnappt nach Luft und fängt an zu lachen, nein, trocken zu schluchzen und zu flehen bis Tobias sie packt und sanft aber bestimmt wegschiebt. „Ist doch egal“, murmelt er, „nimm es nicht so ernst, die merken sich das nie im Leben.“
Jetzt laufen sie die Maximilianstraße entlang beziehungsweise Marissa stöckelt und schreit Tobias an, das wäre alles seine Schuld mit seinen bescheuerten Cowboystiefeln und Tobias schreit zurück, die seien stylisch und Marissa habe absolut keine Ahnung, woraufhin Marissa schreit: „Stylisch? Ja, in Bettbrunn vielleicht, verdammte Scheiße!“
Im Übrigen sind sie nun doch auf dem Weg ins Atomic – Marissa mag das gar nicht aussprechen – zu Fuß, weil sie sich kein weiteres Taxi leisten können. Marissas Geld steckt in ihren Brüsten, das von Tobias in seinem Umzug und bis er in München Geld verdient, kann es noch dauern. Schließlich hat er sich geschworen, ausnahmslos und zwar wirklich ausnahmslos Geld mit seiner Musik zu machen! Lieber am Existenzminimum dahinleben als seinen Traum zu verraten. Die Bandmitglieder hat er mittlerweile zusammen, über Zettel an den Türen der Unitoiletten, geprobt haben sie aber noch nie. Hauptsache der Name passt. Und da hatten sich unerwartete Probleme aufgetan. Tobias’ ehemalige Kollegen aus Bettbrunn weigerten sich, den Namen „We fuck your asses“ freizugeben, weshalb er sich zuerst „We fuck you all“ überlegte, dann jedoch, weil er ja aus dem Underground auftauchen und Geld verdienen wollte, den seriöseren Namen „Tell us some stories“ wählte, Abkürzung „Tuss“, was er witzig fand.
Zu wenig Geld für ein Taxi also, „Kannst du mich wenigstens Huckepack nehmen?“, quäkt Marissa, Tobias kann und spürt, wie sich die Silikonballons unter ihrer Lederjacke an seinen Rücken pressen. Marissa schimpft unentwegt, es hätte an Tobias’ „Tuss“-T-Shirt, das er sich in der vergangenen Woche hatte drucken lassen und nun mit Stolz trug, gelegen und Tobias schnauzt zurück: „Ich dachte, es wären meine Scheiß-Schuhe gewesen!“
Alles, der gesamte Tobias sei es gewesen, mault Marissa, er habe ihr nur was Gutes tun wollen, wo sie so geheult hätte, brüllt Tobias und strauchelt, beide kippen zur Seite auf den Asphalt, Tobias auf Marissa drauf, ihre riesigen, dunklen Augen aufgerissen und die mit Lipgloss verklebten Lippen zu einem spitzen Schrei verformt, er möchte sie küssen, jetzt, hier, da kreischt ihm Marissa ins Gesicht: „Auaaaa, du Arsch! Das tut schweineweh!“
Er rollt von ihr runter, atmet tief ein und aus, steht auf und klopft sich den Dreck von der Hose, reicht Marissa die Hand und zieht sie ebenfalls hoch. Wo ist dieser Moment plötzlich hin? Jetzt bleibt nur Marissas bestrumpftes Bein unter dem dünnen Seidenkleid, aufgeschürft vom Hintern bis zum Knöchel, blutend.
„Woah, Kacke!“, stöhnt Marissa. Tobias fragt, ob sie ins Krankenhaus möchte, darauf sie: „Nein, tanzen, bitte, was ist denn so schwer dran, tanzen einfach, ja?“
Also weiter und ob sie denn keine Schmerzen spüre, fragt Tobias.
„Ach, was spüren wir denn überhaupt noch?“, erwidert sie.
Das Atomic ist gesteckt voll. Tobias quetscht sich zur Bar um Bier zu holen für sich, für Marissa, die kopfschüttelnd in einer Ecke stehen bleibt, „Das darf ich keinem erzählen, echt!“ Das Blut ist getrocknet und lässt ihre zerrissene Strumpfhose an ihrem Bein festkleben.
„Einer hat versucht, alle seine Gedanken aufzuschreiben, aber das hat nicht geklappt. Er meinte, er hätte zwei Wörter geschrieben und dann wären hundert neue Ideen in seinem Kopf gewesen. Verwirrung.“
„Ja, wirklich?“, hört Tobias das Gespräch neben sich mit, dreht sich zur Seite, zwei pickelige Jungs mit um den Hals hängenden, riesigen Kopfhörern stehen da, die Kopfhörer auf ihre Palästinenserschals gebettet, was ist denn das für eine Mode mit diesen Kopfhörern! Kinder! Kindergarten, hier! Die Leute auf der Tanzfläche schwitzen und stinken, während sie sich hin und herschieben zur Musik ohne Rhythmus – um wirklich zu tanzen, ist es zu voll.
Tobias quetscht sich an einem Typen vorbei, der möglichst verhalten auf den Boden kotzt, ein Mädchen rafft hastig die Jacken zusammen, die in der Nähe liegen. Der Typ schaut belämmert und trinkt sein Bier weiter. Tobias sieht Marissa eingeklemmt an der Wand stehen, sie ruft „Auszeit!“ und beide winden sich durch die Meute hin zur Bank gegenüber den Toiletten. Er gibt ihr eine Flasche Augustiner und erzählt, als er das letzte Mal hier und aufm Klo gewesen sei und sich hätte schnäuzen müssen, da sei einer auf ihn zugekommen und habe gesagt: „Gib mir auch was, okay? Ich seh’ doch, dass du was hast! Ich seh’s doch! Witzig, oder?“ „Ja, witzig“, sagt Marissa und nach einem Schluck Bier: „Morgen werd’ ich zu diesem Arschloch-Regisseur gehen, seinen Kopf hochreißen und ihm ins Gesicht sagen: Talent! Sehen Sie? Talent! Was hältst du davon?“
Tobias zuckt mit den Schultern. Auf der Tanzfläche, das T-Shirt klebt ihm an den Schultern, umarmt er Marissas zierlichen Körper und schreit ihr ins Ohr: „Dich umarmen und sagen, ist alles gut, aber das ist es ja irgendwie nicht, ich weiß nicht, was ich sagen soll!“ Marissa lacht und schreit zurück: „Nichts, sag nichts.“
Später hocken sie erschöpft nebeneinander und warten auf die U-Bahn, Marienplatz, die erste an diesem Tag. Tobias wippt mit seinen Cowboystiefeln. Er trägt die Jacke offen, damit jeder den „Tuss“-Aufdruck auf seinem T-Shirt sieht. „Hast recht“, murmelt er, „im Atomic isses echt scheiße geworden.“
Marissa steht auf, geht ein paar Schritte und starrt auf die Schienen. „Ist dir das schon aufgefallen? Zwischen den Kohlen sind so kleine Mäuse! Ich hab’ mich total gefreut, als ich das zum ersten Mal gesehen habe.“
Tobias grinst, „Nee, echt niedlich!“
Dann springt die Anzeige um, die U-Bahn fährt ein und Marissa sagt, „Naja, egal“, Tobias schreit und reißt den Arm nach vorne, bevor sie sich fallen lässt...
Den ganzen Spaziergang auf der Karte verfolgen ...