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Alfred Andersch, 1974 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe).

Königinstraße 9: Wohnhaus Dr. Herzfeld-Wüsthoff

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München, Haussituation an der Ecke Königin- / Schönfeldstraße, um 1935 mit dem Haus des Deutschen Automobil-Clubs (DDAC), Königinstraße 11a (Bayerische Staatsbibliothek/Hoffmann).

Die „totale Introversion“ führt den Helden in Kirschen der Freiheit auf Fluchtwege mit dem Fahrrad „in den Park der Literatur und der Ästhetik“.[65] Mentor wird der 20 Jahre ältere Antiquar und Rezitator Dr. Günther Herzfeld-Wüsthoff (1893-1969), mit dem er in dessen Wohnung an der Königinstraße 9 zusammentrifft.

Von Herzfeld heißt es in den Kirschen der Freiheit“:

Jemand brachte mich zu Dr. Herzfeld, einem hochgewachsenen, asthenischen, schwarzhaarigen Mann mit gebogener Nase und funkelnden Gläsern. Hörte an manchen Abenden im kleinen Kreis bei ihm Shakespeare. [...] Erlebte bei Dr. Herzfeld zum erstenmal statt Ästhetik die Gespanntheit der Kunst, das, was mich selbst mit Unruhe erfüllte und Stimmungen hervorrief, die sich aus Ungeduld und Ekel mischten. Herzfeld verkörperte die deutsch-romantische Ur-Figur, halb orientalischer Jude, halb preußischer Gardeoffizier, als der er den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatte. Alles, nur kein Bohemien, sondern ein deutscher Künstler. Neben Shakespeare stand Kleist.[66]

Dem jungen Andersch, der sich damals, um 1935, an ersten Gedichten und Erzählungen versucht, rät Herzfeld-Wüsthoff eindringlich, sich von Rilke abzuwenden und lieber Goethe, Schiller und Ranke zu lesen. Möglicherweise riet Herzfeld-Wüsthoff auch zu dem damals in Deutschland verbotenen Thomas Mann, mit dem ihn eine besondere Bekanntschaft verband. Als junger Leutnant im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, hatte Herzfeld aus dem Feldlazarett einen Brief an Thomas Mann geschrieben. Zwei Passagen daraus übernahm der Autor in seine Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). Die eine, worin Herzfeld den „Gang durch den Tod“ als „selige Qual“[67] bezeichnet, hat wohl auch die Kampfszenen auf den letzten Seiten des Romans Der Zauberberg mit beeinflusst.[68] Die andere Stelle berichtet davon, dass den jungen „Kriegsoffizier“ eine schwere Verwundung zur „Bekanntschaft mit der Schönen Literatur“ gebracht habe; die „wahre Freude am Lesen habe er erst im Krieg gefunden“[69]; so wie ihm sei es vielen Soldaten gegangen.

Thomas Mann schätzte den jungen Mann so sehr, dass er ihn im Oktober 1918 bat, Taufpate seiner Tochter Elisabeth zu werden. Eine Grippe hinderte Herzfeld damals zwar an seinem persönlichen Erscheinen im Haus an der Poschingerstraße; aber im Gesang vom Kindchen (1919), dem in Hexametern abgefassten Hymnus auf die Umstände dieser Taufe, lässt Thomas Mann den jungen Mann neben dem zweiten Paten, dem Literaturprofessor Ernst Bertram, dennoch auftreten und preist das „reine, tapfere Wesen des jungen Feldoffiziers“[70] eindringlich.

 


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[65] KF (wie Anm. 1), S. 20.

[66] Ebda., S. 47.

[67] Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). Frankfurt a.M. 2009 (GKFA, Bd. 13.1, hinfort zitiert: Mann, Betrachtungen), S. 499f.

[68] Jonas, Klaus W. (1978): Antiquar und Poet: Günther Herzfeld-Wüsthoff. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe. Nr. 87 vom 31. Oktober 1978. Beilage: Aus dem Antiquariat. Nr. 10, S. A 357-A 365, hier S. A 360.

[69] Mann, Betrachtungen (wie Anm. 67), S. 502.

[70] Thomas Mann: Gesang vom Kindchen (1919). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. VIII. Frankfurt a.M. 1990, S. 1096.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer