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18.10.2024, 15:00 Uhr
Marion Zechner
Neustart Freie Szene – Literatur
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© Heike Ulrich Fotowork

„Einer muss immer schweigen“. Von Marion Zechner

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Bild von Sang Hyun Cho von Pixabay

Manchmal ist es ein einziger Moment, der die Realität ins Wanken bringt. Der alles in Zweifel zieht, was bisher geschah. Der ein erreichtes Ziel infrage stellt und wünschen lässt, man wäre einem bestimmten Menschen nicht begegnet. So geht es der Ich-Erzählerin, einer ambitionierten Nachwuchs-Anwältin, als ihr soeben freigesprochener Mandant, für dessen Unschuldsbeweis sie monatelang gekämpft hat, ihr auf der Heimfahrt im Auto ein ominöses Geständnis macht. 

Mit dem folgenden Text beteiligt sich Marion Zechner an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge finden Sie HIER.

*

Es ist heiß im Gerichtssaal. Und still. Obwohl so viele Zuschauer anwesend sind, wie ich es noch nie bei einem Prozess erlebt habe. Schon gar nicht, wenn ich selbst als Verteidigerin aufgetreten bin. Mir ist schummrig, als wäre es meine eigene Freiheit, die auf dem Spiel steht. Die Bluse klebt an meinem Rücken. Die Bügel meines BH pressen sich ins Fleisch, als wüssten sie, dass ich Halt brauche. Paul hingegen steht unbeteiligt neben mir, als hätte er mit all dem hier nichts zu tun. Als wäre es ihm völlig egal, ob er die nächsten Jahre auf der einen oder der anderen Seite der Gefängnismauern verbringt. Auf einmal: der Urteilsspruch – so beiläufig, dass ich den Moment beinahe verpasse: „Der Angeklagte wird freigesprochen, die Kosten des Verfahrens übernimmt die Staatskasse.“
Im Saal aufgeregtes Gemurmel. Paul lässt sich zurück auf seinen Sitz sinken. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, er hat nicht verstanden, was das bedeutet. Ich greife nach seinem Arm. Er erhebt sich schwerfällig. Wie ein Kalb, das seinem Herrn bereitwillig zur Schlachtbank folgt, lässt er sich von mir aus dem Gerichtsgebäude führen, während ich ihn bestmöglich vor den Fragen und Blicken der Anwesenden abschirme.

Kurz darauf sitzen wir in meinem Golf.
„Wo ist sie?“, fragt Paul.
„Bei mir in der Wohnung.“
„Geht's ihr gut?“
„Klar. Ich werde sie vermissen.“
„Sie lügen“, sagt Paul. „Aber danke fürs Aufpassen.“
Ich strecke ihm die Marlboroschachtel hin, die ich heute Morgen am Kiosk vor dem Gerichtsgebäude gekauft habe. Paul zieht eine Kippe heraus.
„Unschuldig!“, sage ich. „Jetzt haben Sie es Schwarz auf Weiß!“
Er atmet, als würde er eine Kerze auspusten.
„Was?“, frage ich.
Er schweigt, zur Abwechslung mal.
„Fangen Sie jetzt nicht wieder damit an!“ Keine Antwort.
„Hören Sie auf damit!“ Er nimmt einen tiefen Zug.
„Die Zigarette ist aus“, sage ich. Er bläst Kringel aus unsichtbarem Rauch.
„Mit Feuer kann ich leider nicht dienen“, sage ich. Er schnippt unsichtbare Asche auf den Schalthebel. 
„Wollen wir du sagen? Jetzt, wo ich nicht mehr Ihr Mandant bin. Ich bin Paul.“
Ich zögere. Der Prozess ist vorbei. Ich darf ich sein, so viel ich will.
„Von mir aus.“ Ich starte den Motor.
„Wo fahren wir hin?“
„Feiern.“
„Warum?“
„Weil es konsequent ist“, erkläre ich. „Nach einem Sieg geht man feiern. Das wolltest du doch – ein Mal im Leben konsequent sein, erinnerst du dich?“
„Weißt du auch, was ich weiter gesagt habe?“, fragt er.
„Nein, keine Ahnung.“ Ich konzentriere mich auf den Seitenstreifen, der im Dunkeln weiß leuchtet. Auf der anderen Seite führt die Böschung in die Tiefe. Ich spüre Pauls Blick auf mir.
„Du lügst.“
„Stimmt. Du hast gesagt: Wenn ich endlich konsequent wäre, dann wäre ich jetzt mal tot.“
„Tot“, wiederholt er, als wäre es das letzte Wort eines Witzes vor der Pointe, „oder Afd-Wähler.“
„Wie?“
Er winkt ab.
„Erklär' es mir!“
„Das ist bereits die Erklärung.“
„Gut. Dann brauche ich eine Erklärung für die Erklärung!“
Ohne ihn anzusehen spüre ich, dass er lächelt.
„Die habe ich dir schon damals gegeben.“
„Ich habe es schon damals nicht kapiert.“
Er seufzt. „Dabei ist es so einfach: Es geht darum, die Komplexität der Welt auf ein Minimum zu reduzieren. Jeder Mensch strebt nach einem klaren Ziel. Nimm zum Beispiel dich selbst. Wenn du morgens in deinen Kalender schaust, weißt du exakt, was du am Abend erlebt haben wirst. Das gibt dir einen Rahmen für den Tag, verstehst du?“
Ich schüttle den Kopf. „Du lügst schon wieder. Aber macht nichts. Dann sage ich es dir. Du willst deine Zeit sinnvoll nutzen, deinen Beitrag leisten, für Gerechtigkeit sorgen, einen Ausgleich schaffen dafür, dass das Leben es so gut mit dir meint.“
„Kann sein.“
„Siehst du. Ich verstehe das. Ich verstehe das wirklich.“
„Kann sein.“
„Und ich?“, fragt er. „Was könnte für einen wie mich ein Ziel sein?“
„Keine Ahnung. Tot sein ja wohl nicht – ist so schwer vereinbar mit dem Leben."
„Also doch Afd-Wähler?“, fragt er.
„Meinen Sie nicht, es gibt noch was dazwischen?“
„Wir waren beim du!“
Ich hatte gehofft, er merkt es nicht.
„Wusstest du, dass er Afd-Wähler war? Der Markowitz?“, fragt er.
„Woher wissen Sie es?“
„Du weißt es auch.“
„Es stand groß in der Zeitung.“
„Konsequent“, sagt er.
„Was?“
„Dass du zum Sie zurückkehrst, wenn dir jemand unsympathisch wird.“
Wieder seufzt er.
„Ich finde mich selbst auch unsympathisch. Aber soll ich mich deswegen siezen?“
„Da hast du auch wieder Recht“, sage ich.
„Siehst du“, sagt er. „Jetzt werde ich dir wieder sympathischer, und du springst zurück zum du. Das ist konsequent. Konsequenz ist sympathisch.“
„Und warum findest du dich unsympathisch?“
„Ich bin inkonsequent“, sagt er.
„Du hast den ganzen Prozess hindurch geschwiegen“, widerspreche ich.
„Außer dir gegenüber.“
„Gut“, sage ich. „Anderes Beispiel: Du bleibst beim du, wenn du es einmal entschieden hast.“
„Nur, wenn ich verknallt bin.“
Es ruckelt, aber ich habe das Lenkrad gleich wieder im Griff. Hat er das gerade wirklich gesagt? Es ist zu kurvig für einen Seitenblick.
„Es gab mal eine Frau in meinem Leben.“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich es hören will.
„Keine Sorge“, sagt er, „es geht mir nicht um die Frau. Auch wenn es eine besondere Frau war. Ihre Augen waren so grün wie die von dieser Katze. Sie war die einzige Person, mit der ich gesprochen habe … Egal. Jedenfalls sagte sie eines Tages zu mir, sie trinke nur zentrifugierte Säfte. Ich hatte Orangensaft selbst gepresst, weil ich dachte … egal … es geht auch nicht um Saft. Jedenfalls, ich habe sie gefragt: Was heißt zentrifugiert? Ihre Antwort beschäftigte mich monatelang. Bis zum Prozess, genau genommen. Sie sagte: „Für einen Dummen bist du zu gebildet. Für einen Gebildeten zu dumm. Das ist dein Dilemma.“
„Aha“, sage ich. Ich habe keine Lust mehr auf Kreisverkehre. „Sie hatte Recht“, fährt Paul unterdessen fort. „Ich kann dir aus dem Stand heraus sagen, wie viele Einwohner Sydney hat oder wann Einstein gestorben ist oder wie man Amygdala buchstabiert. Aber ich wusste nicht, was zentrifugiert heißt.“
„Wo ist das Problem?“, frage ich. „Kein Mensch braucht Zentrifugen im Alltag. Außer Physiker vielleicht. Und Saftneurotikerinnen.“
„Sie war nicht neurotisch!“
Pauls Stimme klingt nach einer Überdosis Helium. Nur noch zwei Ampeln. Die Erste: rot. Paul holt ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche und lässt es klicken. Ich sage nichts dazu.
„Ich habe ihr viel zu verdanken.“
„Der Frau?“
„Der Katze. Sie hat mich drauf gebracht.“
„Worauf?“
„An dem Abend mit dem Saft ist es mir klar geworden. Was mir fehlte, war eine klare Identität.“
„Und?“
„Ich dachte, Ehemann wär mal ein guter Anfang. Also hab ich sie gefragt.“
„Die Katze?“
„Die Frau. Wir saßen im Auto und wollten zur Tanke, was zu trinken holen.“
„Zentrifugierten Saft?“, frage ich. Humor ist der stabile Boden, den dieses Gespräch zweifellos braucht. Aber Paul bleibt ernst.
Willst du meine Frau sein, habe ich gefragt.“
„Und?“
„Sie hat gesagt: „Siehst du. Wieder dein Dilemma: Zu verrückt für die Normalität. Und zu normal für die Klapse.“ Dann ist sie ausgestiegen. Kurz darauf ist diese Katze auf den Beifahrersitz gesprungen.“
„Und du?“
„Ich bin sitzen geblieben und habe über Alternativ-Identitäten nachgedacht.“
„Nichts einfacher als das“, sage ich, während ich in meine Straße einbiege. „Such dir einen Gott und tu, was er verlangt. Und schon musst du dir über alles andere keine Gedanken mehr machen.“
„Ich habe keinen Gott.“
„Dann nimm doch einen von diesen Gesundheitsgurus, die sind gerade in. Du könntest zum Beispiel Veganer werden.“
„Das sind sie doch heute alle.“
„Dann vielleicht Selbstmordattentäter.“
„Auch.“
Ich überlege.
„Du könntest wieder schweigen.“
„Ich könnte zur Abwechslung die Wahrheit sagen.“
„Welche von den Vielen?“
Mir ist plötzlich ein bisschen flau. Ein Parkplatz direkt vor meiner Haustür. Ich stelle den Motor ab.
„Vielleicht verschieben wir das mit dem Feiern“, sage ich. „Ich bin müde. Ich bringe dir die Katze runter.“
Ich schnalle mich ab und öffne die Fahrertür.
„Wusstest du, dass Täter und Opfer immer auf unsichtbare Weise miteinander verbunden sind?“, fragt er. Plötzlich bin ich sehr wach.
„Moment! … Soll das heißen … heißt das …“
Er schaut mir direkt ins Gesicht. Seine Augen schimmern im Licht der Straßenlaterne.
„Diese Katze … sie hat mich angeschaut mit ihren grünen Augen, und dann kam dieser Typ. Ich wusste nicht, dass er berühmt ist. Er wollte sie zurück. Da kam mir die Idee.“
Mein Herz klopft plötzlich sehr schnell.
Was gibt es Konsequenteres als den Tod?, habe ich gedacht.“ 
„Du meinst, du hast … du hast ihn ...“
„Ehemann oder Mörder, beides eine klare Sache … und dann hab ich es nicht geschafft.“
Langsam gewinne ich die Kontrolle über meinen Atem zurück.
„Also, hast du ihn doch nicht … ?“
Er legt einen Zeigefinger auf die Lippen.
„Schweigen", sagt er, „ist der einzige Ort ist, wo sich die Wahrheit verstecken kann.“

**

Marion Zechner, geboren in München, Mutter zweier Kinder, arbeitet als Sozialpädagogin und systemische Therapeutin bei einem bayerischen Suchthilfeträger. Neben Schreibwerkstätten (u.a. an der Bundesakademie Wolfenbüttel) absolvierte sie das Fernstudium Prosaschreiben bei der Textmanufaktur. Kurzgeschichten von ihr erschienen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Mit einem Ausschnitt aus ihrem Romandebüt Bewölkt aber trocken war sie für den Irseer Pegasus nominiert und gewann den österreichischen Literaturpreis Schreiberei.