„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (1)

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Öffentlicher Bücherschrank in München. Foto von Mike Berwanger auf Pixabay

München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In seiner neuen Kolumne hier im Literaturportal Bayern träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...

Mit der Kolumne „München-Träume“ beteiligt sich Nikolai Vogel an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Stabi in der Stadt!

 

Kürzlich sah ich in der Stadt so einen Bücherschrank, also so einen im öffentlichen Raum, aus dem man Lektüre mitnehmen kann, oder auch dazustellen, und in denen tatsächlich manchmal sehr interessante Funde möglich sind, neben vielen zerlesenen Millionensellern, die schon bessere Tage gesehen haben. Das Wetter war schön, Schäfchenwolken am Himmel, und ich schmökerte ein bisschen, stellte aber alles zurück und klappte die Glastüre wieder zu.

Jetzt gehe ich durch die Stadt. Sie haben neue Regale aufgestellt. Hier in Untergiesing hie und da. Ich muss natürlich schauen, was da zu lesen ist, und komme langsam nur voran. Ich gehe über die Wittelsbacher Brücke und finde die Telefonbücher der letzten Jahrzehnte. So viele Leute, die nicht mehr existieren, die Nummern mag es noch geben, die Menschen dazu sind hier verzeichnet, aufbewahrt, als würden sie noch warten – auf unseren Anruf. Ich komme auf den Gärtnerplatz. Keine Autos, kein Verkehr, nur Lesende. Viktualienmarkt, Marienplatz – die Bücher gehen nicht aus! Lebensmittel, Lektüre, Glockenspiel … Und vor der Oper Librettos satt!

Jetzt stehe ich auf dem Odeonsplatz und staune wirklich. Hier sind die Großformate. Schwere Kunstbände, Atlanten, Zettels Traum und Zeitungen, Tag für Tag, zurück bis fast zur Erfindung des Papiers. Jede in ihrem Halter mit Griff, wie man sie aus den Cafés kennt. Und Stühle! Menschen sitzen mit übereinandergeschlagenen Beinen da und blättern voller Ruhe und Bequemlichkeit, tauchen ein in die Vergangenheit.

Auf der Ludwigstraße geht es zu wie auf dem Stachus – also so sagt man doch? Von hier scheint es sich auszubreiten. Die Regale viele Meter hoch, es stehen allerhand Leitern herum und Menschen reichen sich gegenseitig Bücher zu. Ich sehe Bilderbücher, Lyrikbände, dicke Wälzer, Sammlerkataloge, Comics und vielbändige Werkausgaben, die sich freuen, endlich nicht mehr stramm nebeneinander aufgereiht zu sein. Da schiebt sich ein Gegenwartsroman dazwischen und ein Kochbuch, und etliche Teile sind schon ganz woanders hin. Goethe neben einem Ratgeber zur Pubertät.

Man habe beschlossen, die Bücher wieder in die Stadt zu bringen, erfahre ich. Die Speicherbibliothek in Garching sei aufgelöst und umgewidmet. Zu einsam wären die Bücher dort gewesen, zu verlassen, zu selten in der Hand. Und immer wieder seien auch welche verschwunden, nicht, weil sie nicht mehr da waren, sondern nur, weil sie, falsch zurückgestellt, sich nie wieder auffinden haben lassen. Zugegeben, dieses Problem war früher größer, aber auch die umfangreichen Magazinbestände hier im Altbau der großen Bibliothek sind jetzt im öffentlichen Raum draußen auf den Straßen. Das Chaos übernehme irgendwann jede Ordnung. Das Gesetz der Entropie verlange, dass Bücher auch durcheinander stehen.

Freilich, die Ordnung fehlte zunächst, nun, da die Bücher wandern. Fertig gelesen werden sie zurückgestellt, wo sich gerade eine Lücke auftut, das spart auch Wege, und viel bedeutender: die Regalreihen leben jetzt, es ergeben sich immer neue Nachbarschaften. Und wir bekämen dabei eine Art Schwarmintelligenz. Das jeweils Gesuchte finde sich bestimmt. Wir fragen, wir reden miteinander und kommen so ins Gespräch, erzählen uns, was wir zuletzt gelesen haben.

Ich will jetzt lesen, greife ins Regal. Borges‘ Fiktionen stehen hier, direkt daneben Valentin. Ein gutes Omen, denke ich –

– und wache auf ...

 

 

Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Zuletzt erschien sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht im gutleut Verlag (2019). Vom 18. März bis 26. April 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube.

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