München: Alfred Andersch, „Die Kirschen der Freiheit“
- Neustätterstraße 6: Wohnhaus Familie Andersch
- Dom-Pedro-Platz 5: Christuskirche
- Neustätterstraße – Marsplatz: Schulweg zum Wittelsbacher Gymnasium
- Trambahnhaltestelle „Albrechtstraße“
- Volkartstraße 68: Volkartshof (richtig: Volkartbierhalle)
- KZ-Gedenkstätte Dachau
- Paul-Heyse-Straße 26: Verlag J. F. Lehmann
- Feldherrnhalle mit „Drückebergergässlein“
- Königinstraße 9: Wohnhaus Dr. Herzfeld-Wüsthoff
- Nymphenburger Kanal: Nördliche und Südliche Auffahrtsallee
- Ein Kirschbaum in Italien (bei Viterbo)
Der Spaziergang hat eine Länge von ca. 12 km und dauert ca. 2,5 Std. (reine Laufzeit, ohne Station 6 und 11).
Die Bedeutung des Münchner Autors Alfred Andersch (1914-1980) für die deutsche Nachkriegsliteratur ist kaum zu überschätzen. Er war Mitbegründer der Gruppe 47 sowie Herausgeber der Zeitschriften Der Ruf (1946) und Texte und Zeichen (1955-1957). Als Rundfunkredakteur verhalf er von 1948 bis 1958 in den Abendstudios der Sender Frankfurt, Hamburg und Stuttgart durch die neue Form des „Radio-Essay“ einer ganzen literarischen Generation zu Brot und Ruhm, von Ingeborg Bachmann über Günter Eich zu Wolfgang Koeppen und Arno Schmidt bis zu den ‚Schülern‘ Anderschs wie Hans Magnus Enzensberger, Helmut Heißenbüttel und Martin Walser.
Was die eigenen Bücher angeht, so sind vor allem der autobiographische Bericht Die Kirschen der Freiheit (1952), die Romane Sansibar oder der letzte Grund (1957), Die Rote (1962) und Winterspelt (1974) zu nennen, allesamt Fluchtgeschichten aus unerträglich gewordenen Verhältnissen oder Modellsituationen eines anderen Lebens, weit verbreitet zudem durch die Verfilmungen von Helmut Käutner (Die Rote, 1962), Eberhard Fechner (Winterspelt 1944, 1978) und Bernhard Wicki (Sansibar oder der letzte Grund, 1987). Einige der in München spielenden sogenannten Franz-Kien-Geschichten – Franz Kien ist die autobiographische Maske Anderschs – wie Alte Peripherie (1963), Die Inseln unter dem Winde (1971) oder Der Vater eines Mörders (1980) werden auf literarischen Spaziergängen durch Neuhausen und die Maxvorstadt thematisiert.
Doch der Autor Alfred Andersch hat in der Literaturstadt München keine große Lobby. Eine Gedenktafel sucht man hier vergebens. In Moosach, im Gewerbegebiet an der Dachauer Straße, gibt es immerhin seit 1990 den Alfred-Andersch-Weg, der zusammen mit dem Hans-Beimler-Weg ein Viereck bildet. (Hans Beimler aus München, 20 Jahre älter als Andersch, war kommunistischer Reichstagsabgeordneter, konnte aus Dachau fliehen und kam 1936 im Spanischen Bürgerkrieg ums Leben; Andersch gedenkt ihm in den Kirschen der Freiheit und in seiner späten „Seesack“-Autobiographie (1977).[1]). Andersch ist in München somit buchstäblich ‚ausgelagert‘, noch dazu sind sein Werk und seine moralische Integrität in jüngster Zeit besonders heftig umstritten. Dabei haben die Zweifel an Anderschs Texten längst Tradition. Die Diskussionen um Die Kirschen der Freiheit setzten gleich nach dem Erscheinen des Berichtes 1952 ein und halten bis heute an. Bestimmte anfangs das Tabuthema Desertion die Diskussion,[2] so hat sich heute die Frage dahin verlagert, wie die genauen Umstände dieser Desertion zu beurteilen sind und ob es überhaupt eine gewesen ist.[3]
Mit „Anderschens Märchen“ hat sich 1986 Anderschs einstiger Klassenkamerad am Wittelsbacher Gymnasium, der spätere Jurist Otto Gritschneder, befasst.[4] Der Schriftstellerkollege W. G. Sebald kritisierte Andersch erstmals 1993 und in einem Essay 1999 dafür, dass er seine „Literatur als Mittel zur Begradigung des Lebenslaufs“[5] nutze, und warf ihm sowohl stilistische als auch moralische Verfehlungen vor. Diese kritischen Einwände, die sich auf Anderschs Haft im KZ Dachau (vgl. Station 6), auf seine Ehe (1935) mit der sog. ‚Halbjüdin‘ Angelika Albert, die Scheidung von ihr (1943) und die tödliche Gefährdung ihrer jüdischen Mutter Ida, geb. Hamburger noch während des ‚Dritten Reichs‘ sowie auf seine Desertion (vgl. Station 11) beziehen, wurden in jüngster Zeit bestätigt und dienten als Beleg dafür, wie eigenwillig und moralisch verwerflich Andersch seine literarische Existenz, sein Erscheinungsbild nach 1945 durch die fragwürdige Inszenierung von Sachverhalten ebenso wie durch das Verschweigen konkreter Tatsachen bewusst aufgebaut habe.[6]
Diese jüngste Kritik an Anderschs Moral hatte in München gravierende Folgen für die öffentliche Erinnerung an den Autor: Ein 2008 geplantes Alfred-Andersch-Denkmal wurde 2010 storniert! Dabei hatten nach einem Antrag des Bezirksausschusses Neuhausen-Nymphenburg (BA 09) vom März 2008 die „Arbeitsgruppe Gedenktafeln“ im Juni und der Ältestenrat des Münchner Stadtrats im Juli 2008 noch „einhellig“ die Auffassung vertreten, dass Alfred Andersch ein Denkmal in München verdient habe; als Standort wurde das neue Kulturzentrum „Trafo“ in Neuhausen, Sitz der Stadtbücherei und der Geschichtswerkstatt, an der Nymphenburgerstraße 171 genannt.[7] Doch im November 2010 kam die „Arbeitsgruppe Gedenktafeln“ aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über Andersch, besonders mit Blick auf sein angeblich opportunistisches Verhalten gegenüber seiner „halbjüdischen“ ersten Ehefrau, zu dem Schluss, der Ältestenrat möge sich noch einmal mit dem Thema befassen. Bevor es aber dazu kam, zog der BA 09 seinen Antrag auf ein Andersch-Denkmal wieder zurück.[8] Der unliebsam gewordene Autor sollte fortan wohl besser verschwiegen werden.
Das war 1994, zu Anderschs 90. Geburtstag, noch ganz anders gewesen. Damals war im Hildebrandhaus, dem Sitz der Stadtbibliothek Monacensia, die Ausstellung Alfred Andersch und München. Begegnungen mit einer Stadt eröffnet worden. Der Andersch-Biograph Stephan Reinhardt hielt den Festvortrag, im Begleitprogramm gab es Lesungen, einen literarischen Spaziergang und im Vortragssaal der Stadtbibliothek am Gasteig ein Gespräch mit Zeitzeugen, dem Verleger Heinz Friedrich, dem streitbaren Juristen Otto Gritschneder und dem Journalisten Erich Kuby, alle drei inzwischen verstorben.
Zum 100. Geburtstag Anderschs 2014 fand in München keine Ausstellung mehr statt; immerhin präsentierte die Stadtbibliothek zusammen mit dem Thomas-Mann-Forum München einen Vortrag über Anderschs Beziehung zu Thomas Mann.[9] Eine Andersch-Ausstellung gab es damals in Zürich.[10] Andersch hatte seit 1958 in der Schweiz gelebt, war seit 1972 Schweizer Staatsbürger und starb 1980 in dem Tessiner Bergdorf Berzona bei Locarno.
Doch die Ächtung Anderschs in München sollte kein Dauerzustand bleiben. All die nachweisbaren Fehler Anderschs in seinem Leben und seinen Schriften mindern keineswegs sein Lebensthema der „Wagnis Freiheit“.[11] Die von Andersch in seiner Literatur bewahrten Erkenntnisse, vom topographischen Bezug bis zu den lebens- und zeitgeschichtlichen Sachverhalten, sind, bei aller Fragwürdigkeit, bestimmt vom poetologischen Prinzip der „Offenen Figuren“[12], das hinter alles und jedes, auch hinter sich selbst, eher ein Fragezeichen als ein Ausrufezeichen setzt. Es lohnt sich daher, der literarischen Topographie Anderschs in München einmal nachzufragen und nachzugehen.
Spaziergang starten: Station 1 von 11 Stationen
Literaturspaziergang Alfred Andersch als PDF-Druckversion
[1] Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht (1952). Zürich 1971 (hinfort zitiert: KF), S. 44. Ders.: Der Seesack. Aus einer Autobiographie. In: Das Alfred Andersch Lesebuch. Hg. von Gerd Haffmans. Mit Lebensdaten und einer Bibliographie. Zürich 1979 (hinfort zitiert: Andersch, Lesebuch), S. 83-101, hier S. 94.
[2] Vgl. die Rezensionen zur Erstausgabe. In: Stephan, Winfried (Hg.) (1992): Über Die Kirschen der Freiheit von Alfred Andersch. Frankfurt a. M. (hinfort zitiert: Stephan, Über Die Kirschen der Freiheit), S. 47-190.
[3] Döring, Jörg; Seubert, Rolf (2014): Der berühmteste Deserteur der Wehrmacht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 151 vom 3. Juli, S. 12; vgl. Döring, Jörg (2015): Alfred Andersch desertiert. Fahnenflucht und Literatur (1944-1952). Berlin.
[4] Gritschneder, Otto (1986): Anderschens Märchen. In: Ders.: Weitere Randbemerkungen. München, S. 443ff.; u.d.T. „Anderschens Märchen oder: Die Wahrheit über den Vater eines Mörders“ auch in: bpv (Bayerischer Philologen Verband), 3/88, S. 24.
[5] W. G. Sebald: Der Schriftsteller Alfred Andersch. In: Ders. (2001): Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch (1999). Frankfurt a. M., S. 111-147, hier S. 144; vgl. Döring, Jörg; Seubert, Rolf (2008): Behält der Literaturpfaffe doch das letzte Wort? [Zur Sebald-Debatte]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 193 vom 19. August, S. 39.
[6] Vgl. Reinhardt, Stephan (1990): Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich (hinfort zitiert: Reinhardt, Andersch), S. 55f., 81f.; Römer, Felix (2010): Alfred Andersch abgehört. Kriegsgefangene „Anti-Nazis“ im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 58, Heft 4, S. 563-598; Tuchel, Johannes (2008): Alfred Andersch im Nationalsozialismus. In: Marcel Korolnik und Annette Korolnik-Andersch (Hg.): Sansibar ist überall. Alfred Andersch – seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. München (hinfort zitiert: Tuchel, Andersch im Nationalsozialismus), S. 31-41; Döring, Jörg (Hg.) (2011): Alfred Andersch revisited. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Berlin u.a. (hinfort zitiert Döring, Alfred Andersch revisited).
[7] Dittrich, Gustav (2014): Alfred Andersch nachgefragt. Triumphe, Umwege und Irrungen des vor 100 Jahren in Neuhausen geborenen Schriftstellers. In: Neuhauser Werkstatt-Nachrichten. Historische Zeitschrift für Neuhausen, Nymphenburg und Gern. Heft 33 (hinfort zitiert: Dittrich, Alfred Andersch nachgefragt), S. 69-73, hier S. 73; vgl. https://www.muenchen-transparent.de/antraege/1399715.
[8] Auskünfte von Jennifer Becker, Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Büro der Referatsleitung, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, vom 17. und 18. August 2017. Als damals neueste wissenschaftliche Erkenntnisse wurden der Aufsatz von Felix Römer (wie Anm. 6) und eine Tagung im Frankfurter Literaturhaus vom November 2011 über den Opportunismus in der Literatur angegeben; die Beiträge sind in dem Band Döring, Alfred Andersch revisited (wie Anm. 6) versammelt worden.
[9] Heißerer, Dirk (2014): „Die Stimme des Wissens und loyaler Intelligenz“. Alfred Andersch und die unveröffentlichten Politischen Dokumente Thomas Manns. Vortrag in der Münchner Stadtbibliothek Am Gasteig, 5. Februar.
[10] Erismann, Peter (Hg.) (2014): „Sie macht etwas im Raum, ich in der Zeit“. Gisela und Alfred Andersch. Zürich, Museum Strauhof, 11. Dezember 2013 bis 2. März.
[11] Vgl. Heißerer, Dirk (1996): Wagnis Freiheit. Literarische Desertion im 20. Jahrhundert. In: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 14 (hinfort zitiert: Heißerer, Wagnis Freiheit), S. 247-258, zu Andersch im Abschnitt IV Anti-Helden, S. 254-258.
[12] Vgl. Heißerer, Dirk (1994): Offene Figuren. Essay zu den Hörspielen von Alfred Andersch. Bayerischer Rundfunk Hörspiel, Sendung vom 6. Februar (hinfort zitiert: Heißerer, Offene Figuren), Ts. S. 1-26.
- Neustätterstraße 6: Wohnhaus Familie Andersch
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- Ein Kirschbaum in Italien (bei Viterbo)
Der Spaziergang hat eine Länge von ca. 12 km und dauert ca. 2,5 Std. (reine Laufzeit, ohne Station 6 und 11).
Die Bedeutung des Münchner Autors Alfred Andersch (1914-1980) für die deutsche Nachkriegsliteratur ist kaum zu überschätzen. Er war Mitbegründer der Gruppe 47 sowie Herausgeber der Zeitschriften Der Ruf (1946) und Texte und Zeichen (1955-1957). Als Rundfunkredakteur verhalf er von 1948 bis 1958 in den Abendstudios der Sender Frankfurt, Hamburg und Stuttgart durch die neue Form des „Radio-Essay“ einer ganzen literarischen Generation zu Brot und Ruhm, von Ingeborg Bachmann über Günter Eich zu Wolfgang Koeppen und Arno Schmidt bis zu den ‚Schülern‘ Anderschs wie Hans Magnus Enzensberger, Helmut Heißenbüttel und Martin Walser.
Was die eigenen Bücher angeht, so sind vor allem der autobiographische Bericht Die Kirschen der Freiheit (1952), die Romane Sansibar oder der letzte Grund (1957), Die Rote (1962) und Winterspelt (1974) zu nennen, allesamt Fluchtgeschichten aus unerträglich gewordenen Verhältnissen oder Modellsituationen eines anderen Lebens, weit verbreitet zudem durch die Verfilmungen von Helmut Käutner (Die Rote, 1962), Eberhard Fechner (Winterspelt 1944, 1978) und Bernhard Wicki (Sansibar oder der letzte Grund, 1987). Einige der in München spielenden sogenannten Franz-Kien-Geschichten – Franz Kien ist die autobiographische Maske Anderschs – wie Alte Peripherie (1963), Die Inseln unter dem Winde (1971) oder Der Vater eines Mörders (1980) werden auf literarischen Spaziergängen durch Neuhausen und die Maxvorstadt thematisiert.
Doch der Autor Alfred Andersch hat in der Literaturstadt München keine große Lobby. Eine Gedenktafel sucht man hier vergebens. In Moosach, im Gewerbegebiet an der Dachauer Straße, gibt es immerhin seit 1990 den Alfred-Andersch-Weg, der zusammen mit dem Hans-Beimler-Weg ein Viereck bildet. (Hans Beimler aus München, 20 Jahre älter als Andersch, war kommunistischer Reichstagsabgeordneter, konnte aus Dachau fliehen und kam 1936 im Spanischen Bürgerkrieg ums Leben; Andersch gedenkt ihm in den Kirschen der Freiheit und in seiner späten „Seesack“-Autobiographie (1977).[1]). Andersch ist in München somit buchstäblich ‚ausgelagert‘, noch dazu sind sein Werk und seine moralische Integrität in jüngster Zeit besonders heftig umstritten. Dabei haben die Zweifel an Anderschs Texten längst Tradition. Die Diskussionen um Die Kirschen der Freiheit setzten gleich nach dem Erscheinen des Berichtes 1952 ein und halten bis heute an. Bestimmte anfangs das Tabuthema Desertion die Diskussion,[2] so hat sich heute die Frage dahin verlagert, wie die genauen Umstände dieser Desertion zu beurteilen sind und ob es überhaupt eine gewesen ist.[3]
Mit „Anderschens Märchen“ hat sich 1986 Anderschs einstiger Klassenkamerad am Wittelsbacher Gymnasium, der spätere Jurist Otto Gritschneder, befasst.[4] Der Schriftstellerkollege W. G. Sebald kritisierte Andersch erstmals 1993 und in einem Essay 1999 dafür, dass er seine „Literatur als Mittel zur Begradigung des Lebenslaufs“[5] nutze, und warf ihm sowohl stilistische als auch moralische Verfehlungen vor. Diese kritischen Einwände, die sich auf Anderschs Haft im KZ Dachau (vgl. Station 6), auf seine Ehe (1935) mit der sog. ‚Halbjüdin‘ Angelika Albert, die Scheidung von ihr (1943) und die tödliche Gefährdung ihrer jüdischen Mutter Ida, geb. Hamburger noch während des ‚Dritten Reichs‘ sowie auf seine Desertion (vgl. Station 11) beziehen, wurden in jüngster Zeit bestätigt und dienten als Beleg dafür, wie eigenwillig und moralisch verwerflich Andersch seine literarische Existenz, sein Erscheinungsbild nach 1945 durch die fragwürdige Inszenierung von Sachverhalten ebenso wie durch das Verschweigen konkreter Tatsachen bewusst aufgebaut habe.[6]
Diese jüngste Kritik an Anderschs Moral hatte in München gravierende Folgen für die öffentliche Erinnerung an den Autor: Ein 2008 geplantes Alfred-Andersch-Denkmal wurde 2010 storniert! Dabei hatten nach einem Antrag des Bezirksausschusses Neuhausen-Nymphenburg (BA 09) vom März 2008 die „Arbeitsgruppe Gedenktafeln“ im Juni und der Ältestenrat des Münchner Stadtrats im Juli 2008 noch „einhellig“ die Auffassung vertreten, dass Alfred Andersch ein Denkmal in München verdient habe; als Standort wurde das neue Kulturzentrum „Trafo“ in Neuhausen, Sitz der Stadtbücherei und der Geschichtswerkstatt, an der Nymphenburgerstraße 171 genannt.[7] Doch im November 2010 kam die „Arbeitsgruppe Gedenktafeln“ aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über Andersch, besonders mit Blick auf sein angeblich opportunistisches Verhalten gegenüber seiner „halbjüdischen“ ersten Ehefrau, zu dem Schluss, der Ältestenrat möge sich noch einmal mit dem Thema befassen. Bevor es aber dazu kam, zog der BA 09 seinen Antrag auf ein Andersch-Denkmal wieder zurück.[8] Der unliebsam gewordene Autor sollte fortan wohl besser verschwiegen werden.
Das war 1994, zu Anderschs 90. Geburtstag, noch ganz anders gewesen. Damals war im Hildebrandhaus, dem Sitz der Stadtbibliothek Monacensia, die Ausstellung Alfred Andersch und München. Begegnungen mit einer Stadt eröffnet worden. Der Andersch-Biograph Stephan Reinhardt hielt den Festvortrag, im Begleitprogramm gab es Lesungen, einen literarischen Spaziergang und im Vortragssaal der Stadtbibliothek am Gasteig ein Gespräch mit Zeitzeugen, dem Verleger Heinz Friedrich, dem streitbaren Juristen Otto Gritschneder und dem Journalisten Erich Kuby, alle drei inzwischen verstorben.
Zum 100. Geburtstag Anderschs 2014 fand in München keine Ausstellung mehr statt; immerhin präsentierte die Stadtbibliothek zusammen mit dem Thomas-Mann-Forum München einen Vortrag über Anderschs Beziehung zu Thomas Mann.[9] Eine Andersch-Ausstellung gab es damals in Zürich.[10] Andersch hatte seit 1958 in der Schweiz gelebt, war seit 1972 Schweizer Staatsbürger und starb 1980 in dem Tessiner Bergdorf Berzona bei Locarno.
Doch die Ächtung Anderschs in München sollte kein Dauerzustand bleiben. All die nachweisbaren Fehler Anderschs in seinem Leben und seinen Schriften mindern keineswegs sein Lebensthema der „Wagnis Freiheit“.[11] Die von Andersch in seiner Literatur bewahrten Erkenntnisse, vom topographischen Bezug bis zu den lebens- und zeitgeschichtlichen Sachverhalten, sind, bei aller Fragwürdigkeit, bestimmt vom poetologischen Prinzip der „Offenen Figuren“[12], das hinter alles und jedes, auch hinter sich selbst, eher ein Fragezeichen als ein Ausrufezeichen setzt. Es lohnt sich daher, der literarischen Topographie Anderschs in München einmal nachzufragen und nachzugehen.
Spaziergang starten: Station 1 von 11 Stationen
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[1] Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht (1952). Zürich 1971 (hinfort zitiert: KF), S. 44. Ders.: Der Seesack. Aus einer Autobiographie. In: Das Alfred Andersch Lesebuch. Hg. von Gerd Haffmans. Mit Lebensdaten und einer Bibliographie. Zürich 1979 (hinfort zitiert: Andersch, Lesebuch), S. 83-101, hier S. 94.
[2] Vgl. die Rezensionen zur Erstausgabe. In: Stephan, Winfried (Hg.) (1992): Über Die Kirschen der Freiheit von Alfred Andersch. Frankfurt a. M. (hinfort zitiert: Stephan, Über Die Kirschen der Freiheit), S. 47-190.
[3] Döring, Jörg; Seubert, Rolf (2014): Der berühmteste Deserteur der Wehrmacht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 151 vom 3. Juli, S. 12; vgl. Döring, Jörg (2015): Alfred Andersch desertiert. Fahnenflucht und Literatur (1944-1952). Berlin.
[4] Gritschneder, Otto (1986): Anderschens Märchen. In: Ders.: Weitere Randbemerkungen. München, S. 443ff.; u.d.T. „Anderschens Märchen oder: Die Wahrheit über den Vater eines Mörders“ auch in: bpv (Bayerischer Philologen Verband), 3/88, S. 24.
[5] W. G. Sebald: Der Schriftsteller Alfred Andersch. In: Ders. (2001): Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch (1999). Frankfurt a. M., S. 111-147, hier S. 144; vgl. Döring, Jörg; Seubert, Rolf (2008): Behält der Literaturpfaffe doch das letzte Wort? [Zur Sebald-Debatte]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 193 vom 19. August, S. 39.
[6] Vgl. Reinhardt, Stephan (1990): Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich (hinfort zitiert: Reinhardt, Andersch), S. 55f., 81f.; Römer, Felix (2010): Alfred Andersch abgehört. Kriegsgefangene „Anti-Nazis“ im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 58, Heft 4, S. 563-598; Tuchel, Johannes (2008): Alfred Andersch im Nationalsozialismus. In: Marcel Korolnik und Annette Korolnik-Andersch (Hg.): Sansibar ist überall. Alfred Andersch – seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. München (hinfort zitiert: Tuchel, Andersch im Nationalsozialismus), S. 31-41; Döring, Jörg (Hg.) (2011): Alfred Andersch revisited. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Berlin u.a. (hinfort zitiert Döring, Alfred Andersch revisited).
[7] Dittrich, Gustav (2014): Alfred Andersch nachgefragt. Triumphe, Umwege und Irrungen des vor 100 Jahren in Neuhausen geborenen Schriftstellers. In: Neuhauser Werkstatt-Nachrichten. Historische Zeitschrift für Neuhausen, Nymphenburg und Gern. Heft 33 (hinfort zitiert: Dittrich, Alfred Andersch nachgefragt), S. 69-73, hier S. 73; vgl. https://www.muenchen-transparent.de/antraege/1399715.
[8] Auskünfte von Jennifer Becker, Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Büro der Referatsleitung, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, vom 17. und 18. August 2017. Als damals neueste wissenschaftliche Erkenntnisse wurden der Aufsatz von Felix Römer (wie Anm. 6) und eine Tagung im Frankfurter Literaturhaus vom November 2011 über den Opportunismus in der Literatur angegeben; die Beiträge sind in dem Band Döring, Alfred Andersch revisited (wie Anm. 6) versammelt worden.
[9] Heißerer, Dirk (2014): „Die Stimme des Wissens und loyaler Intelligenz“. Alfred Andersch und die unveröffentlichten Politischen Dokumente Thomas Manns. Vortrag in der Münchner Stadtbibliothek Am Gasteig, 5. Februar.
[10] Erismann, Peter (Hg.) (2014): „Sie macht etwas im Raum, ich in der Zeit“. Gisela und Alfred Andersch. Zürich, Museum Strauhof, 11. Dezember 2013 bis 2. März.
[11] Vgl. Heißerer, Dirk (1996): Wagnis Freiheit. Literarische Desertion im 20. Jahrhundert. In: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 14 (hinfort zitiert: Heißerer, Wagnis Freiheit), S. 247-258, zu Andersch im Abschnitt IV Anti-Helden, S. 254-258.
[12] Vgl. Heißerer, Dirk (1994): Offene Figuren. Essay zu den Hörspielen von Alfred Andersch. Bayerischer Rundfunk Hörspiel, Sendung vom 6. Februar (hinfort zitiert: Heißerer, Offene Figuren), Ts. S. 1-26.
Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer