Literarische Schätze der Bayerischen Staatsbibliothek (9): Der Augsburger Totentanz
Im Wochenrhythmus stellt die Redaktion des Literaturportals Bayern literarische Schätze aus dem Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek vor: ausgewählte Höhepunkte, die in ihrer Entstehung, Überlieferung und Wirkung einen Bezug zu Bayern haben und in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Spannweite und Vielfalt dieser Literatur aus zwölf Jahrhunderten lassen sich aus digitalisierten Handschriften, Drucken, Manuskripten und Briefen exemplarisch ablesen, die in bavarikon versammelt sind. Wir präsentieren daraus eine Auswahl.
Die Sammelhandschrift des Augsburger Humanisten Sigismund Gossembrot (1417-1493) enthält auf Bl. 14-20 das wahrscheinlich erste Beispiel der Behandlung des Totentanz-Genres durch einen Meistersinger. Die Federzeichnungen zeigen mehrfach einen als Kadaver dargestellten Tod als Reigenführer und weisen stilistische Ähnlichkeiten mit Arbeiten des Augsburger Chronisten Hektor Mülich (1420-1490) auf. Die Welt wird mit einer Schule verglichen, in der die Lehrer die Regierenden sind, die Schüler die Untertanen. Die drei herrschenden Stände stellt der Meistersinger den drei mittelalterlichen Lehrstellen an geistlichen Schulen gleich, dem Succentor, Custos und Locatus; die fünf übrigen besetzt er durch Weise und Philosophen aus der Bibel und dem Altertum. Die Regierenden werden von den Untertanen vor dem Tod angeklagt, der die Rolle eines obersten Richters und strafenden Herrn einnimmt.
Kulturelle Formation des Totentanzes
Der Totentanz ist eine kulturelle Formation, die im ausgehenden Spätmittelalter entsteht. In einem Ensemble aus Bild- und Textelementen illustriert der Totentanz die Sterblichkeit des Menschen. Der Tod wird dabei als unausweichliche und gemeinsame Destination aller Menschen dargestellt, unabhängig von gesellschaftlichem Stand, Alter und Geschlecht. Der 1544 in Augsburg entstandene Todtentanz (BSB-Sign.: 2 Im.mort. 4) stellt auf 42 nicht-illuminierten Holzschnitten dar, wie der als Skelett respektive Gerippe personifizierte Tod in das Leben der Menschen tritt. Die Darstellungen folgen der Hierarchie der mittelalterlichen Drei-Stände-Ordnung. Den Tanz eröffnet der Klerus mit dem Papst als höchstem Vertreter Gottes auf Erden, ihm folgt der (Hoch-)Adel mit dem Kaiser als Eröffnungsfigur und schließlich reihen sich die Bauern und Bürger ein. Ihnen nachgeordnet sind diejenigen Gruppen, die aus dieser patriarchalen Ständeordnung exkludiert sind: Verbrecher, Frauen (hier zunächst Adelige und dann Geistliche) und schließlich Kinder. In nahezu allen Darstellungen tritt der Tod in eine lebendige Szenerie ein. Die Personen werden als im Akt der Handlung begriffen und in der Interaktion mit anderen Personen dargestellt; keine der Personen erwartet den Tod.
Auszug aus dem Todtentanz Augsburg 1544: Der Tod kommt zum Papst.
Der Modus der Darstellung des Augsburger Totentanzes orientiert sich auffallend stark dem Zyklus Imagines Mortis Hans Holbeins des Jüngeren (1497/98-1543). Um zu verdeutlichen, dass der Tod mitten in das irdische Leben hineinbricht, wendet sich Holbein erstmals von der ursprünglichen Darstellung des fortlaufenden Reigens ab und entwirft auf Einzeldarstellungen eine in sich geschlossene Szenerie. Seine einflussreichen Bilder des Todes erscheinen erstmals 1538 unter dem Titel Les simulachres et historiees faces de la mort. Der Augsburger Totentanz setzt nicht nur das von Holbein etablierte Prinzip der geschlossenen Bilderfolge um, auch die Darstellungen selbst kopieren die einzelnen Szenen detailgetreu.
Der Lübecker Totentanz in einer Aufnahme vor seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg.
Indem das Leben unausweichlich im Tod kulminiert, wird es zugleich als ein sukzessives Sterben begriffen, als ein Akt des unausweichlichen Entgegengehens. Das mahnende Memento Mori („Sei eingedenk zu sterben“) verlangt nach einer Vorbereitung dieses unausweichlichen Punktes. Seinen Ursprung hat der Tod in der Erbsünde. Mit der Vertreibung aus dem Paradies durch den Genuss der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis wird der Tod zum Leitprinzip des Lebens.
Auszug aus dem Augsburger Totentanz: Die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies.
Tod und Narrentum
Ab Mitte des 15. Jahrhunderts taucht in den Totentänzen immer wieder eine jener Tage allseits beliebte Figur auf: der Narr. Exemplarisch sei hier der vor 1524 entstandene, seit dem 19. Jahrhundert jedoch nicht mehr erkennbare Totentanz des ehemaligen Dominikanerinnenklosters Klingental in Basel genannt, von dem heute nur mehr einige Bilder und Dialogszenen als Kopien existieren. Die Darstellung des Narren erklärt sich indes nicht aus der ständischen Ordnung, die der Totentanz nutzt, um das Vanitas-Motiv zu verdeutlichen. Seine Rolle und sein Verständnis gehen wesentlich auf Psalm 53 zurück. Dort heißt es: „Der Narr sprach in seinem Herzen: ‚Es gibt keinen Gott‘.“ In seinem Ursprung ist ein Narr einer, der Gott leugnet. Diese Ausgangsposition bedingt nachfolgend weitere negative Zuschreibungen. So verkörpert der Narr unterschiedliche Sünden wie Meineid, Weltlust, Prahlerei und Selbstsucht, die bereits früh über Attribute wie Eselsohrenkappe, Schelle, Spiegel etc. ausgewiesen werden. Die durchweg negative Charakteristik des Narren trägt zu dem Glauben bei, der Narr sei in besonderem Maße dem Tod geweiht und diesem daher wesensverwandt. Bei Holbein tritt der Tod schließlich erstmals in der Kostümierung eines Narren auf und überblendet seine wahre Identität. Es handelt sich dabei um die Darstellung der Begegnung zwischen Tod und Königin, in der Tod und Narr zu einer Figur verschmelzen.
Darstellung eines Hofnarren im 15. Jahrhundert.
Holbein selbst arbeitet in diesem Kontext jedoch nicht mit einer Maske, wie es vermehrt ab dem 19. Jahrhundert geschieht, als der Narr zunehmend pathologisiert wird und seine Deutung als Figur der Sündhaftigkeit und Todesnähe abnimmt. Die dem Narren zugeschriebenen Attribute werden fortan auf die Maske und den Maskenball übertragen. Ein Beispiel dafür ist Thomas Rowlandsons (1756-1827) 72 Darstellungen umfassende, kolorierte Aquatintafolge The English Dance of Death, die u.a. eine als „The Masquerade“ betitelte Darstellung umfasst. Diese zeigt die Momentaufnahme eines Maskenballs. Das Zentrum des Bildes stellt den als Skelett personifizierten Tod im Moment seiner Demaskierung dar: Den Umhang bereits geöffnet und die abgelegte Teufelsmaske mit der Linken emporhaltend, streckt der Tod mit der rechten Hand einen Pfeil in die Höhe. Umkreist wird der Tod von den mutmaßlich eben noch feiernden Ballbesuchern, die teils im Tumult bereits gestürzt und nun am Boden liegend, zu fliehen versuchen. Rowlandsons Darstellungen werden von Texten William Combes (1748-1823) begleitet. Die Erzählung zu „The Masquerade“ setzt mit der Überlegung einer Ich-Erzählerfigur, ob das Leben eine Maskerade sei, wie oft behauptet wird, ein. Darüber nachsinnend wird der Protagonist vom Schlaf übermannt und findet sich auf einem Maskenball wieder. Ein Unbekannter gesellt sich ihm zu und präsentiert ihm den Maskenball als idealen Ort, um das Wesen der Menschen kennenzulernen. Er führt den Protagonisten herum und entlarvt sukzessive die Ballgäste, deren Kostüme konträr zu ihrem wahren Wesen stehen. Schließlich entlarvt sich der Fremde selbst: Es ist der Tod selbst, der nun in fürchterlicher Weise die Festlichkeit unterbricht und die Gäste mit dem Todespfeil bedroht. Der Moment des eigenen Todes in der Traumsequenz ist zugleich der Moment des Erwachens der Erzähler-Figur.
Vom Maskenball zum Karneval
Der Schritt vom Maskenball zum Karneval ist nun nicht fern. Der Konnex zwischen Maskierung, Sünde und Tod wird erst im Ausklang des 18. Jahrhunderts etabliert. Ebenso wie zuvor die Figur des Narren, sind es nun die Maske und die Szenerie, in die sie eingebettet ist, die als lasterhaft und wahrheitsverhüllend kodiert sind. Der Karneval vereint alle genannten Elemente miteinander. Die Kernaussage des Totentanzes, das Memento Mori, kennt auch der Karneval, predigt es jedoch nicht um seiner selbst willen, sondern um an den Wert des Augenblicks zu erinnern. Hier geht es also weniger um eine Mahnung an das eigene Seelenheil. Dennoch ist der Karneval mit der Aufhebung aller Ordnungen auch theologisch verankert. Aus Perspektive der Kirche ist es im Mittelalter sowohl ein strategischer wie auch didaktischer Zug, solche extremen Festformen zu billigen. Sie bieten den Menschen die Möglichkeit, das Exzessive auszuleben, um so zur Erkenntnis zu gelangen, dass dieser Weg bei einer dauerhaften Lebensweise in den eigenen Ruin nur führt. Die Möglichkeit, dies abzuwenden, bietet der Aschermittwoch.
Im Rheinland werden die Sünden und Laster stellvertretend auf eine Sündenbockfigur übertragen, deren Bezeichnung je nach Ort variiert. Die in Köln als Nubbel oder Zacheies, in Düsseldorf als Hoppeditz und in Jülich als Lazarus Strohmanus bezeichnete Strohpuppe wird in der Nacht zum Aschermittwoch noch verbrannt, vergraben oder ertränkt. Ähnliche Karnevalsbräuche sind durch den Anthropologen James Frazer u.a. aus Latium, den Abruzzen, Katalonien, der Provence und der Normandie bekannt. Mit der Vernichtung des Sündenbocks soll das Sündhafte symbolisch überwunden und der Karneval zu Grabe getragen werden. Fraser diagnostiziert hierin zudem Bezüge zu ähnlichen Bräuchen in anderen Kulturen, bei denen der scheinbare Tod eines übernatürlichen Wesens zu dessen Reinkarnation in einer besseren Gestalt führt. So ist es mancherorts der Tod selbst, der aufs Schafott gebracht wird.
Sekundärliteratur:
Knöll, Stefanie (2009): Maskierung und Demaskierung. Der Tod beim Maskenball. In: Dies. (Hg.): Narren – Masken – Karneval. Meisterwerke von Dürer bis Kubin aus der Düsseldorfer Graphiksammlung ‚Mensch und Tod‘. Regensburg, S. 53-61.
Oeslner, Wolfgang (2009): Im Himmel ist der Teufel los. Närrische Todes- und Jenseitsvorstellungen. In: Knöll, Stefanie (Hg.): Narren – Masken – Karneval. Meisterwerke von Dürer bis Kubin aus der Düsseldorfer Graphiksammlung ‚Mensch und Tod‘. Regensburg, S. 73-79.
Externe Links:Sammlungsbeschreibung in bavarikon
Digitalisat Clm 3941 in bavarikon
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Im Wochenrhythmus stellt die Redaktion des Literaturportals Bayern literarische Schätze aus dem Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek vor: ausgewählte Höhepunkte, die in ihrer Entstehung, Überlieferung und Wirkung einen Bezug zu Bayern haben und in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Spannweite und Vielfalt dieser Literatur aus zwölf Jahrhunderten lassen sich aus digitalisierten Handschriften, Drucken, Manuskripten und Briefen exemplarisch ablesen, die in bavarikon versammelt sind. Wir präsentieren daraus eine Auswahl.
Die Sammelhandschrift des Augsburger Humanisten Sigismund Gossembrot (1417-1493) enthält auf Bl. 14-20 das wahrscheinlich erste Beispiel der Behandlung des Totentanz-Genres durch einen Meistersinger. Die Federzeichnungen zeigen mehrfach einen als Kadaver dargestellten Tod als Reigenführer und weisen stilistische Ähnlichkeiten mit Arbeiten des Augsburger Chronisten Hektor Mülich (1420-1490) auf. Die Welt wird mit einer Schule verglichen, in der die Lehrer die Regierenden sind, die Schüler die Untertanen. Die drei herrschenden Stände stellt der Meistersinger den drei mittelalterlichen Lehrstellen an geistlichen Schulen gleich, dem Succentor, Custos und Locatus; die fünf übrigen besetzt er durch Weise und Philosophen aus der Bibel und dem Altertum. Die Regierenden werden von den Untertanen vor dem Tod angeklagt, der die Rolle eines obersten Richters und strafenden Herrn einnimmt.
Kulturelle Formation des Totentanzes
Der Totentanz ist eine kulturelle Formation, die im ausgehenden Spätmittelalter entsteht. In einem Ensemble aus Bild- und Textelementen illustriert der Totentanz die Sterblichkeit des Menschen. Der Tod wird dabei als unausweichliche und gemeinsame Destination aller Menschen dargestellt, unabhängig von gesellschaftlichem Stand, Alter und Geschlecht. Der 1544 in Augsburg entstandene Todtentanz (BSB-Sign.: 2 Im.mort. 4) stellt auf 42 nicht-illuminierten Holzschnitten dar, wie der als Skelett respektive Gerippe personifizierte Tod in das Leben der Menschen tritt. Die Darstellungen folgen der Hierarchie der mittelalterlichen Drei-Stände-Ordnung. Den Tanz eröffnet der Klerus mit dem Papst als höchstem Vertreter Gottes auf Erden, ihm folgt der (Hoch-)Adel mit dem Kaiser als Eröffnungsfigur und schließlich reihen sich die Bauern und Bürger ein. Ihnen nachgeordnet sind diejenigen Gruppen, die aus dieser patriarchalen Ständeordnung exkludiert sind: Verbrecher, Frauen (hier zunächst Adelige und dann Geistliche) und schließlich Kinder. In nahezu allen Darstellungen tritt der Tod in eine lebendige Szenerie ein. Die Personen werden als im Akt der Handlung begriffen und in der Interaktion mit anderen Personen dargestellt; keine der Personen erwartet den Tod.
Auszug aus dem Todtentanz Augsburg 1544: Der Tod kommt zum Papst.
Der Modus der Darstellung des Augsburger Totentanzes orientiert sich auffallend stark dem Zyklus Imagines Mortis Hans Holbeins des Jüngeren (1497/98-1543). Um zu verdeutlichen, dass der Tod mitten in das irdische Leben hineinbricht, wendet sich Holbein erstmals von der ursprünglichen Darstellung des fortlaufenden Reigens ab und entwirft auf Einzeldarstellungen eine in sich geschlossene Szenerie. Seine einflussreichen Bilder des Todes erscheinen erstmals 1538 unter dem Titel Les simulachres et historiees faces de la mort. Der Augsburger Totentanz setzt nicht nur das von Holbein etablierte Prinzip der geschlossenen Bilderfolge um, auch die Darstellungen selbst kopieren die einzelnen Szenen detailgetreu.
Der Lübecker Totentanz in einer Aufnahme vor seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg.
Indem das Leben unausweichlich im Tod kulminiert, wird es zugleich als ein sukzessives Sterben begriffen, als ein Akt des unausweichlichen Entgegengehens. Das mahnende Memento Mori („Sei eingedenk zu sterben“) verlangt nach einer Vorbereitung dieses unausweichlichen Punktes. Seinen Ursprung hat der Tod in der Erbsünde. Mit der Vertreibung aus dem Paradies durch den Genuss der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis wird der Tod zum Leitprinzip des Lebens.
Auszug aus dem Augsburger Totentanz: Die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies.
Tod und Narrentum
Ab Mitte des 15. Jahrhunderts taucht in den Totentänzen immer wieder eine jener Tage allseits beliebte Figur auf: der Narr. Exemplarisch sei hier der vor 1524 entstandene, seit dem 19. Jahrhundert jedoch nicht mehr erkennbare Totentanz des ehemaligen Dominikanerinnenklosters Klingental in Basel genannt, von dem heute nur mehr einige Bilder und Dialogszenen als Kopien existieren. Die Darstellung des Narren erklärt sich indes nicht aus der ständischen Ordnung, die der Totentanz nutzt, um das Vanitas-Motiv zu verdeutlichen. Seine Rolle und sein Verständnis gehen wesentlich auf Psalm 53 zurück. Dort heißt es: „Der Narr sprach in seinem Herzen: ‚Es gibt keinen Gott‘.“ In seinem Ursprung ist ein Narr einer, der Gott leugnet. Diese Ausgangsposition bedingt nachfolgend weitere negative Zuschreibungen. So verkörpert der Narr unterschiedliche Sünden wie Meineid, Weltlust, Prahlerei und Selbstsucht, die bereits früh über Attribute wie Eselsohrenkappe, Schelle, Spiegel etc. ausgewiesen werden. Die durchweg negative Charakteristik des Narren trägt zu dem Glauben bei, der Narr sei in besonderem Maße dem Tod geweiht und diesem daher wesensverwandt. Bei Holbein tritt der Tod schließlich erstmals in der Kostümierung eines Narren auf und überblendet seine wahre Identität. Es handelt sich dabei um die Darstellung der Begegnung zwischen Tod und Königin, in der Tod und Narr zu einer Figur verschmelzen.
Darstellung eines Hofnarren im 15. Jahrhundert.
Holbein selbst arbeitet in diesem Kontext jedoch nicht mit einer Maske, wie es vermehrt ab dem 19. Jahrhundert geschieht, als der Narr zunehmend pathologisiert wird und seine Deutung als Figur der Sündhaftigkeit und Todesnähe abnimmt. Die dem Narren zugeschriebenen Attribute werden fortan auf die Maske und den Maskenball übertragen. Ein Beispiel dafür ist Thomas Rowlandsons (1756-1827) 72 Darstellungen umfassende, kolorierte Aquatintafolge The English Dance of Death, die u.a. eine als „The Masquerade“ betitelte Darstellung umfasst. Diese zeigt die Momentaufnahme eines Maskenballs. Das Zentrum des Bildes stellt den als Skelett personifizierten Tod im Moment seiner Demaskierung dar: Den Umhang bereits geöffnet und die abgelegte Teufelsmaske mit der Linken emporhaltend, streckt der Tod mit der rechten Hand einen Pfeil in die Höhe. Umkreist wird der Tod von den mutmaßlich eben noch feiernden Ballbesuchern, die teils im Tumult bereits gestürzt und nun am Boden liegend, zu fliehen versuchen. Rowlandsons Darstellungen werden von Texten William Combes (1748-1823) begleitet. Die Erzählung zu „The Masquerade“ setzt mit der Überlegung einer Ich-Erzählerfigur, ob das Leben eine Maskerade sei, wie oft behauptet wird, ein. Darüber nachsinnend wird der Protagonist vom Schlaf übermannt und findet sich auf einem Maskenball wieder. Ein Unbekannter gesellt sich ihm zu und präsentiert ihm den Maskenball als idealen Ort, um das Wesen der Menschen kennenzulernen. Er führt den Protagonisten herum und entlarvt sukzessive die Ballgäste, deren Kostüme konträr zu ihrem wahren Wesen stehen. Schließlich entlarvt sich der Fremde selbst: Es ist der Tod selbst, der nun in fürchterlicher Weise die Festlichkeit unterbricht und die Gäste mit dem Todespfeil bedroht. Der Moment des eigenen Todes in der Traumsequenz ist zugleich der Moment des Erwachens der Erzähler-Figur.
Vom Maskenball zum Karneval
Der Schritt vom Maskenball zum Karneval ist nun nicht fern. Der Konnex zwischen Maskierung, Sünde und Tod wird erst im Ausklang des 18. Jahrhunderts etabliert. Ebenso wie zuvor die Figur des Narren, sind es nun die Maske und die Szenerie, in die sie eingebettet ist, die als lasterhaft und wahrheitsverhüllend kodiert sind. Der Karneval vereint alle genannten Elemente miteinander. Die Kernaussage des Totentanzes, das Memento Mori, kennt auch der Karneval, predigt es jedoch nicht um seiner selbst willen, sondern um an den Wert des Augenblicks zu erinnern. Hier geht es also weniger um eine Mahnung an das eigene Seelenheil. Dennoch ist der Karneval mit der Aufhebung aller Ordnungen auch theologisch verankert. Aus Perspektive der Kirche ist es im Mittelalter sowohl ein strategischer wie auch didaktischer Zug, solche extremen Festformen zu billigen. Sie bieten den Menschen die Möglichkeit, das Exzessive auszuleben, um so zur Erkenntnis zu gelangen, dass dieser Weg bei einer dauerhaften Lebensweise in den eigenen Ruin nur führt. Die Möglichkeit, dies abzuwenden, bietet der Aschermittwoch.
Im Rheinland werden die Sünden und Laster stellvertretend auf eine Sündenbockfigur übertragen, deren Bezeichnung je nach Ort variiert. Die in Köln als Nubbel oder Zacheies, in Düsseldorf als Hoppeditz und in Jülich als Lazarus Strohmanus bezeichnete Strohpuppe wird in der Nacht zum Aschermittwoch noch verbrannt, vergraben oder ertränkt. Ähnliche Karnevalsbräuche sind durch den Anthropologen James Frazer u.a. aus Latium, den Abruzzen, Katalonien, der Provence und der Normandie bekannt. Mit der Vernichtung des Sündenbocks soll das Sündhafte symbolisch überwunden und der Karneval zu Grabe getragen werden. Fraser diagnostiziert hierin zudem Bezüge zu ähnlichen Bräuchen in anderen Kulturen, bei denen der scheinbare Tod eines übernatürlichen Wesens zu dessen Reinkarnation in einer besseren Gestalt führt. So ist es mancherorts der Tod selbst, der aufs Schafott gebracht wird.
Knöll, Stefanie (2009): Maskierung und Demaskierung. Der Tod beim Maskenball. In: Dies. (Hg.): Narren – Masken – Karneval. Meisterwerke von Dürer bis Kubin aus der Düsseldorfer Graphiksammlung ‚Mensch und Tod‘. Regensburg, S. 53-61.
Oeslner, Wolfgang (2009): Im Himmel ist der Teufel los. Närrische Todes- und Jenseitsvorstellungen. In: Knöll, Stefanie (Hg.): Narren – Masken – Karneval. Meisterwerke von Dürer bis Kubin aus der Düsseldorfer Graphiksammlung ‚Mensch und Tod‘. Regensburg, S. 73-79.