Corona und letzte Ausflüge. Bericht aus Québec (5)
Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Für einen Aufenthalt im Jahr 2022 wurde die Münchner Übersetzerin Michaela Meßner ausgewählt. Im Literaturportal Bayern berichtet sie darüber in sechs Folgen. Alle Folgen finden Sie HIER.
*
Das Festival blieb nicht folgenlos – Corona erwischte mich doch. Nach geltender Québecer Richtlinie musste ich mich in Isolation begeben, insgesamt elf Tage. Das war, ich gebe es zu, sehr einsam, doch mein zweites Übersetzungsprojekt ging seinem Ende entgegen; ich musste ohnehin aufholen und so konnte ich das Ganze erstaunlich gut überstehen, schließlich war ich mehr als beschäftigt. Die treue Élise brachte mir gefühlt ein Kilo frischen Ingwer vorbei, ich schloss mich ein und arbeitete an meinem Buch, wann immer es mental und kräftemäßig ging. Dass mein Autor am 27. Oktober für Der Magier im Kreml den Grand Prix du Roman de l‘Académie Française verliehen bekam, war beflügelnd. Giuliano da Empoli befand sich außerdem unter den vier Finalisten für den Prix Goncourt – dafür hat es am Ende leider nicht gereicht ...
Ich war nicht so schnell wieder fit, wie ich es gerne gehabt hätte, und ließ aus Vernunftgründen die geplante Montréal-Reise ausfallen. Ich besuchte noch das sehr sehenswerte Museum der Ursulinerinnen, in dem den Besucher*innen die Missionarsrolle der Kirche sehr anschaulich nahegebracht wird, das große Kunstmuseum und viele kleinere Ausstellungen. Und dann wandte mich noch etwas intensiver einem anderen Thema zu, das mich von Anfang an beschäftigt hatte: Kanadas Premières Nations, den Indigenen, Autochthonen – wie auch immer man sie nennen möchte.
Im Musée de la Civiliation konnte ich mich über die unglaubliche Vielfalt der Völker kundig machen, und eine Sonderausstellung beeindruckte mich ganz besonders: Es wurde die sog. witness blanket des indigenen Künstlers Carey Newman alias Hayalthkin'geme ausgestellt. Die einer gewobenen Decke nachempfundene Holzkonstruktion, die unzählige Zeugnisse der Zwangsinternate versammelt, unter denen so viele Autochthone gelitten hatten, ein düsteres Kapitel der kanadischen Geschichte.
Foto einer Ausstellung in der Kunst-Cooperative „Méduse“.
Ich hatte einige weitere Ausstellungen gesehen und mich ein wenig eingelesen, doch gab und gibt es noch viele Lücken zu füllen. Nicht zuletzt aufgrund der Begegnung mit Louis-Karl Picard-Sioui und seinen herrlichen Geschichten aus dem fiktiven Reservat Kitchike wollte ich auch die Wendat noch besser kennenlernen. Bei Québec liegt Wendake, das Reservat der Wendat. „Kwe“ heißt in ihrer Sprache „Bonjour“, sehr viel mehr wusste ich nicht – erstaunt war ich, dass es sogar ein kleines Online-Wörterbuch ihrer Sprache gibt, mitsamt Übungen. Die Buchmesse der autochthonen Literatur, in Zusammenarbeit mit Kwahiatonkh!, sollte leider erst nach meiner Abreise stattfinden. Und so nahm ich ein zweites Mal die lange Busreise nach Wendake, ehemals Loretteville, auf mich, um den Besuch des wirklich sehr empfehlenswerten Nationalmuseums und des Langhauses nachzuholen. Die Wendat stammen ursprünglich von der Nordküste des Ontario-Sees, wurden durch Kriege mit den Irokesen, vor allem aber durch von den Europäern eingeschleppte Krankheiten zu fast 80 Prozent dezimiert. Sie flohen ins heutige Wendake, damals Lorette genannt, am Atiawenrahk (Rivière Saint-Charles). Ihre Kultur ist matrilinear, sie lebten in Langhäusern am großen Sankt-Lorenz-Strom, die Lebensgrundlage war vor allem Ackerbau, Jagd und Fischfang. Der Ort Wendake ist heute kulturelles und wirtschaftliches Zentrum, ein Ort, an dem die Weitergabe und der Erhalt ihres Wissens, ihrer Sprache (linguistisch eine Irokesensprache) und Kultur stattfindet. Von den ursprünglich acht Clans (Schildkröte, Wolf, Bär, Hirsch, Biber, Falke, Stachelschwein und Schlange) gibt es heute noch die erstgenannten vier. Hier eine kurze Bilderstrecke dazu:
Links: Reservat Wendake Straßenschild. Mitte: „Nation huronne wendat“. Rechts: Vier Clans: Bär, Schildkröte, Wolf, Hirsch.
Links: La femme tombée du ciel – die vom Himmel gefallene Frau. Mitte: Langhaus. Rechts: Notre Dame de Lorette, Wendake.
In Wendake wollte ich noch die Librairie Hannenorak besuchen, im Kopf meine Liste indigener Autoren, die ich mit nach Hause nehmen wollte. Unter meiner Bücherausbeute befand sich auch der von Louis-Karl Picard-Sioui nacherzählte Gründungsmythos der Wendat, zu dessen Veröffentlichung der Traditionelle Rat von Wendake 2011 seine Zustimmung gab – und zwar „für die nächsten sieben Generationen“, ein berührendes Detail.
Leider habe ich die schmucke Librairie, in der ich sehr gut beraten wurde, nicht fotografiert, dafür aber meinen Abstecher zum Friedhof. Ich lese gerne Grabsteine und mache mir Gedanken zu den Menschen und Geschichten dahinter. Auf diesem Friedhof überraschten mich die vielen deutschen Namen: Es gab etliche Karls, mindestens einen Ludger – und gleich zwei Romeos (einem war ich ja schon in den Geschichten aus Kitchike begegnet...).
Ein besonders schöner Grabstein schmückt die Ruhestätte von Magella (Max) Gros-Louis, der sich als Chief über drei Jahrzehnte aktiv für die Rechte und Belange der Wendat eingesetzt hat. Hier trägt er den typischen Kopfschmuck.
Ruhestätte von Max Gros-Louis
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Michaela Meßner hat Romanistik und Ethnologie in Mainz und München studiert und arbeitet seit 1990 als freie Übersetzerin. 1993 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet. 2017 nahm sie im Magisterstudiengang Literarisches Übersetzen einen Lehrauftrag an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wahr. Sie hat bislang rund 60 Titel aus dem Französischen, Spanischen, Englischen und Lateinischen übersetzt, darunter Klassiker wie Emily Brontës Wuthering Heights, Alexandre Dumas‘ La Dame aux camélias oder Les Trois Mousquetaires sowie Sachbuchtitel, Monographien, Unterhaltungsliteratur oder Anthologien zur spanischen, lateinamerikanischen oder kubanischen Literatur. 2017 erhielt sie das Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern für ihre Erstübersetzung des Romans Désorientale der französischen Autorin Négar Djavadi.
Corona und letzte Ausflüge. Bericht aus Québec (5)>
Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Für einen Aufenthalt im Jahr 2022 wurde die Münchner Übersetzerin Michaela Meßner ausgewählt. Im Literaturportal Bayern berichtet sie darüber in sechs Folgen. Alle Folgen finden Sie HIER.
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Das Festival blieb nicht folgenlos – Corona erwischte mich doch. Nach geltender Québecer Richtlinie musste ich mich in Isolation begeben, insgesamt elf Tage. Das war, ich gebe es zu, sehr einsam, doch mein zweites Übersetzungsprojekt ging seinem Ende entgegen; ich musste ohnehin aufholen und so konnte ich das Ganze erstaunlich gut überstehen, schließlich war ich mehr als beschäftigt. Die treue Élise brachte mir gefühlt ein Kilo frischen Ingwer vorbei, ich schloss mich ein und arbeitete an meinem Buch, wann immer es mental und kräftemäßig ging. Dass mein Autor am 27. Oktober für Der Magier im Kreml den Grand Prix du Roman de l‘Académie Française verliehen bekam, war beflügelnd. Giuliano da Empoli befand sich außerdem unter den vier Finalisten für den Prix Goncourt – dafür hat es am Ende leider nicht gereicht ...
Ich war nicht so schnell wieder fit, wie ich es gerne gehabt hätte, und ließ aus Vernunftgründen die geplante Montréal-Reise ausfallen. Ich besuchte noch das sehr sehenswerte Museum der Ursulinerinnen, in dem den Besucher*innen die Missionarsrolle der Kirche sehr anschaulich nahegebracht wird, das große Kunstmuseum und viele kleinere Ausstellungen. Und dann wandte mich noch etwas intensiver einem anderen Thema zu, das mich von Anfang an beschäftigt hatte: Kanadas Premières Nations, den Indigenen, Autochthonen – wie auch immer man sie nennen möchte.
Im Musée de la Civiliation konnte ich mich über die unglaubliche Vielfalt der Völker kundig machen, und eine Sonderausstellung beeindruckte mich ganz besonders: Es wurde die sog. witness blanket des indigenen Künstlers Carey Newman alias Hayalthkin'geme ausgestellt. Die einer gewobenen Decke nachempfundene Holzkonstruktion, die unzählige Zeugnisse der Zwangsinternate versammelt, unter denen so viele Autochthone gelitten hatten, ein düsteres Kapitel der kanadischen Geschichte.
Foto einer Ausstellung in der Kunst-Cooperative „Méduse“.
Ich hatte einige weitere Ausstellungen gesehen und mich ein wenig eingelesen, doch gab und gibt es noch viele Lücken zu füllen. Nicht zuletzt aufgrund der Begegnung mit Louis-Karl Picard-Sioui und seinen herrlichen Geschichten aus dem fiktiven Reservat Kitchike wollte ich auch die Wendat noch besser kennenlernen. Bei Québec liegt Wendake, das Reservat der Wendat. „Kwe“ heißt in ihrer Sprache „Bonjour“, sehr viel mehr wusste ich nicht – erstaunt war ich, dass es sogar ein kleines Online-Wörterbuch ihrer Sprache gibt, mitsamt Übungen. Die Buchmesse der autochthonen Literatur, in Zusammenarbeit mit Kwahiatonkh!, sollte leider erst nach meiner Abreise stattfinden. Und so nahm ich ein zweites Mal die lange Busreise nach Wendake, ehemals Loretteville, auf mich, um den Besuch des wirklich sehr empfehlenswerten Nationalmuseums und des Langhauses nachzuholen. Die Wendat stammen ursprünglich von der Nordküste des Ontario-Sees, wurden durch Kriege mit den Irokesen, vor allem aber durch von den Europäern eingeschleppte Krankheiten zu fast 80 Prozent dezimiert. Sie flohen ins heutige Wendake, damals Lorette genannt, am Atiawenrahk (Rivière Saint-Charles). Ihre Kultur ist matrilinear, sie lebten in Langhäusern am großen Sankt-Lorenz-Strom, die Lebensgrundlage war vor allem Ackerbau, Jagd und Fischfang. Der Ort Wendake ist heute kulturelles und wirtschaftliches Zentrum, ein Ort, an dem die Weitergabe und der Erhalt ihres Wissens, ihrer Sprache (linguistisch eine Irokesensprache) und Kultur stattfindet. Von den ursprünglich acht Clans (Schildkröte, Wolf, Bär, Hirsch, Biber, Falke, Stachelschwein und Schlange) gibt es heute noch die erstgenannten vier. Hier eine kurze Bilderstrecke dazu:
Links: Reservat Wendake Straßenschild. Mitte: „Nation huronne wendat“. Rechts: Vier Clans: Bär, Schildkröte, Wolf, Hirsch.
Links: La femme tombée du ciel – die vom Himmel gefallene Frau. Mitte: Langhaus. Rechts: Notre Dame de Lorette, Wendake.
In Wendake wollte ich noch die Librairie Hannenorak besuchen, im Kopf meine Liste indigener Autoren, die ich mit nach Hause nehmen wollte. Unter meiner Bücherausbeute befand sich auch der von Louis-Karl Picard-Sioui nacherzählte Gründungsmythos der Wendat, zu dessen Veröffentlichung der Traditionelle Rat von Wendake 2011 seine Zustimmung gab – und zwar „für die nächsten sieben Generationen“, ein berührendes Detail.
Leider habe ich die schmucke Librairie, in der ich sehr gut beraten wurde, nicht fotografiert, dafür aber meinen Abstecher zum Friedhof. Ich lese gerne Grabsteine und mache mir Gedanken zu den Menschen und Geschichten dahinter. Auf diesem Friedhof überraschten mich die vielen deutschen Namen: Es gab etliche Karls, mindestens einen Ludger – und gleich zwei Romeos (einem war ich ja schon in den Geschichten aus Kitchike begegnet...).
Ein besonders schöner Grabstein schmückt die Ruhestätte von Magella (Max) Gros-Louis, der sich als Chief über drei Jahrzehnte aktiv für die Rechte und Belange der Wendat eingesetzt hat. Hier trägt er den typischen Kopfschmuck.
Ruhestätte von Max Gros-Louis
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Michaela Meßner hat Romanistik und Ethnologie in Mainz und München studiert und arbeitet seit 1990 als freie Übersetzerin. 1993 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet. 2017 nahm sie im Magisterstudiengang Literarisches Übersetzen einen Lehrauftrag an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wahr. Sie hat bislang rund 60 Titel aus dem Französischen, Spanischen, Englischen und Lateinischen übersetzt, darunter Klassiker wie Emily Brontës Wuthering Heights, Alexandre Dumas‘ La Dame aux camélias oder Les Trois Mousquetaires sowie Sachbuchtitel, Monographien, Unterhaltungsliteratur oder Anthologien zur spanischen, lateinamerikanischen oder kubanischen Literatur. 2017 erhielt sie das Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern für ihre Erstübersetzung des Romans Désorientale der französischen Autorin Négar Djavadi.