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#FiVEHOURSLATER. Bericht aus Québec (8)

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Die Schönheit des Verfalls. Alle Fotos © Bleier

Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Die diesjährige Stipendiatin ist die aus Regensburg stammende Autorin Ulrike Anna Bleier. Im Literaturportal Bayern berichtet sie regelmäßig über ihren Aufenthalt. Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.

Aufrichtiger Dank an den Busfahrer der Linie 52, der mir in Beauport vor der Nase weggefahren ist. Ohne ihn hätte ich das Einkaufszentrum Galleries de la Canardiere nicht entdeckt.

Hier war früher ein Kino. Viele berühmte Menschen flackerten über die Leinwand. Die Schaufenster waren einmal voller Versprechen. Schöne Lampenhalter an Wänden aus Marmor zeugen von den großen Zeiten. Heute ist der Ort ein Synonym für die hässlichen Seiten des Kapitalismus. Aber auch für seinen Niedergang.

Wenn wir uns in die Zukunft denken, können wir einen nostalgischen Blick auf die Leerstände in den Malls werfen. Vielleicht sind sie ja gar keine Nicht-Orte, vielleicht sind es nur die Bedingungen, die sie dazu machten. Es gibt Menschen, denen Einkaufszentren etwas bedeuten. Die dort seit vielen Jahre einkaufen, Nachbarn treffen, einen Kaffee trinken. Die dort arbeiten oder gearbeitet haben oder Leute kannten, die dort gearbeitet haben. Ich möchte diese Geschichten hören. Es gibt sie.

Vater der Shoppingmall war Sozialist

Der Erfinder des Einkaufszentrums hatte das Gegenteil einer Shoppingmall im Sinn: Er hieß Victor Gruen, war Sozialist und arbeitete als Architekt in Wien; 1938 musste er vor den Nazis nach USA fliehen und entwickelte dort seine Utopie des Zusammenlebens. Gruen wollte – vom Bauhaus inspiriert – einen Ort schaffen, am dem die Menschen ihr Leben besser organisieren können und selbstbestimmter und nachbarschaftlicher leben. (Es gibt einen sehr empfehlenswerten Dokumentationsfilm über ihn: The Gruen Effect von der Soziologieprofessorin Annette Baldauf und Regisseurin Katharina Weingartner.)

Gruens Ziel war es, der zersetzenden Kraft des freien Marktes entgegenzuwirken und der Zersiedelung der Städte Einhalt zu gebieten. Er wollte eine Art urbanes Dorf schaffen, das die soziale Gemeinschaft stärkt, in der die Menschen arbeiten, wohnen, einkaufen, ihre Kinder in die Schule schicken, spielen, kurz: er wollte öffentlichen und privaten Raum zusammendenken. Und tatsächlich wiesen auch die ersten in den 1950er-Jahren erbauten Gebäude noch einige dieser Gemeinschaftselemente auf, doch schließlich musste Gruen mit Entsetzen beobachten, was zuerst in Amerika und schließlich weltweit aus seiner Utopie wurde. Investoren hatten riesige Flächen geschaffen, an denen Menschen sich zwar massenhaft begegnen, aber eben nur, um einzeln zu konsumieren.

Shoppingmalls: Ausgrenzung der Armen

Fatal ist daran auch dies: Einkaufszentren werden als öffentlicher Raum wahrgenommen, sind es aber faktisch nicht. Sie gehören ihren Besitzer*innen und unterstehen damit auch deren Hausrecht. So ist es beispielsweise Obdachlosen verboten, sich dort aufzuhalten; auch das Recht auf Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt, politische Äußerungen, jedwede Proteste oder Demonstrationen werden so (auf legale Weise) verhindert. In einer Québecer Shoppingmall, so wurde mir erzählt, hat man vor einigen Jahren noch Mütter des Hauses verwiesen, die es gewagt hatten, ihr Baby zu stillen.

Weitere Erfahrungen mit Shoppingmalls in südamerikanischen Städten wie Caracas, São Paulo oder Mexiko-Stadt teilte mir ein Leser mit: „In die Shopping Malls wurde nur hereingelassen, wer zumindest so aussah, als könne er etwas kaufen. Es sind klimatisierte Räume, in denen man sich bei 22 Grad aufhalten durfte, während es in der übrigen Stadt 34 Grad heiß war. Es sind Orte, an denen sich die Besitzenden vor der Belästigung durch die Besitzlosen schützen wollten, und die nur dadurch etwas Beruhigendes hatten, dass sie die große Armut um sie herum ausklammerten.“

V.l.n.r.: Leere Räume, Cinema Canardiere, Schöne Lampenschirme.

Weibliche Brust zeigen verboten

Zunehmend wird die Shoppingmall von digitalen Räumen ersetzt – über deren Gesetze ebenfalls Unternehmen und Holdings bestimmen, siehe Facebook, Google, Amazon etc. Diese digitalen Malls kommen zu den Menschen frei Haus, was ebenfalls die ausschließt, die sich eine Teilhabe nicht leisten können – aufgrund von finanziellem aber auch kulturellem Kapital. Der digitale Raum ist nicht nur riesengroß, er ist unbegrenzt. Und wird von denen, die ihn nutzen, ebenfalls als öffentlicher Raum wahrgenommen, ist es aber natürlich genausowenig. Facebook – als prominentes Beispiel – entscheidet entsprechend eigener wirtschaftlicher Interessen oder moralischer Überzeugungen, wer sich wie zeigen oder äußern darf und wer nicht. Die weibliche Brust ist hier ebenfalls verboten, es sei denn, es hängt ein Kind dran (seit 2104 sind Stillbrüste erlaubt). Dies aber nicht etwa, um z.B. sexistischer Werbung vorzubeugen, sondern weil die sog. „Gemeinschaftsstandards“ die nackte Brust einer Frau als obszön einstufen. Somit wird aus der sexistischen Haltung eines Unternehmens ein sexistischer Gemeinschaftsstandard übernommen, der als allgemeingültig wahrgenommen und stillschweigend akzeptiert wird.

Unterdessen strahlt das Sterben der Shoppingmalls eine morbide Faszinationskraft aus, und es gibt bereits Künstler*innen, die sich auf das Fotografieren und Filmen von Geistermalls spezialisiert haben. Die Natur holt sich diese Nicht-Orte nach und nach zurück. Wie ich in meinem Beitrag vom 11.10. beschrieben habe, ist das Zusammenspiel von Natur und Kultur ein Kriterium für die Definition von Ort. Ein weiteres ist die Möglichkeit von Veränderung, die Möglichkeit von Geschichte.

Shoppingmall in schwarz-weiß

Utopische Geschichten aus der Zukunft

Als Schriftstellerin versuche ich, auf die Gegenwart aus einem zukünftigen Blickwinkel zu schauen – ohne unbedingt Science Fiction schreiben zu wollen. Aber vielleicht so etwas wie speculated science fiction, wie Margret Atwood es ausdrückte. Dystopien sind wichtig, vielleicht sind es aber die utopischen Geschichten aus der Zukunft, die uns am meisten fehlen.

Orte sollten von den Menschen mitgestaltet werden, die sich dort regelmäßig aufhalten. Die ihre Lebens- und Alltagsgeschichten mit ihnen verbinden. Die diese Geschichten weitererzählen können. Die auf diese Weise Nicht-Orte zu Orten machen können, die allen gehören. An denen Bürger- und Menschenrechte gelten. An denen wir kein Geld und keine Bildung benötigen, um andere Menschen zu treffen. Wer sagt denn, dass aus einer Shoppingmall kein öffentlicher Ort werden kann, irgendwann in speculated future. Canardiere heißt schließlich: Ententeich.