Kultur trotz Corona: Schullektüre und Junges Lesen (10). Von Leander Steinkopf

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J. D. Salinger, "Der Fänger im Roggen", Bantam Edition 1985.

Die Corona-Krise hat das Sozialleben gerade junger Menschen stark beeinträchtigt. Darüber hinaus wurde ihre Schulbildung ins Digitale verlagert, wo manches auf der Strecke blieb. Gerade in sozialer Isolation kann Literatur eine Stütze sein, die einem hilft mit den Problemen des Lebens klarzukommen. Somit ist es ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Frage zu befassen, welche Literatur in der Jugend gebraucht wird – und was Schullektüre leisten könnte. Dazu soll diese Interviewreihe einen Beitrag leisten.

Im Interview: Roman Ehrlich (*1983 in Aichach) brach eine Berufsausbildung zum Radio- und Fernsehtechniker ab und studierte dann am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Er veröffentlichte die Romane Das kalte Jahr, Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens und zuletzt Malé. Er wurde dafür unter anderem mit dem Robert-Walser Preis, dem Ernst-Toller-Preis und der Alfred Döblin-Medaille ausgezeichnet. Zur gerade bei Claassen erschienenen Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation hat er die Erzählung „Mein Verliebtsein in Darlene Conner“ beigesteuert.

Interviewer: Leander Steinkopf (*1985) lebt nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv seit einigen Jahren in München. Von ihm erschienen verschiedene Bücher, u.a. der Roman Stadt der Feen und Wünsche bei Hanser Berlin. Er ist Herausgeber der Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation bei Claassen.

Mit der folgenden zehnteiligen Interviewreihe beteiligt sich Leander Steinkopf an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Wann und wodurch entstand Dein Interesse für Literatur?
Ich habe zuerst sehr viele Serien im Fernsehen und Filme aus der Videothek geschaut. Mir wurden Geschichten also zuerst vor allem über Bilder und Dialoge erzählt. Irgendwann fiel mir dann auf, dass es Filme gab, die auf Büchern basierten. Und dass in diesen Büchern etwas möglich war, was die Filme nicht leisten konnten: In ihnen wurde nachgedacht. Natürlich wurde das Denken da auch nur behauptet, aber es gab eine unmittelbare Verbindung zwischen dem ständigen inneren Monolog, dem Gequatsche der eigenen Seele oder des eigenen Ichs oder wie man es auch nennen mag, das den Alltag kommentiert und immer etwas zu spät, immer etwas nachträglich die richtigen Sätze formuliert, die man hätte sagen können, und dem Denken der Figuren, der Erzählerinnen und Erzähler in den Büchern. Das Langsame dieses Denkens, dass man allein mit sich und den Gedanken einer anderen Person dasitzen und selbst darüber nachdenken konnte, das empfand ich unmittelbar als eine wahnsinnige Bereicherung.

Gab es ein Buch, welches Du in der Schulzeit gelesen hast, das Dich in besonderer Weise geprägt hat?
Mir hat einmal der sehr viel ältere Bruder eines Schulfreundes das Buch Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger gegeben, mit dem Kommentar, das könnte ein Einstieg sein für mich in die „richtige Literatur“. Wir haben das zum Glück nicht in der Schule behandelt. Durch den Bruder des Freundes wurde das Buch von einer respektablen Instanz empfohlen. Ich hätte wohl jedem Lehrer damals das Prädikat „richtige Literatur“ sehr übel genommen oder es schlicht abgelehnt, mich mit dem, was da „richtig“ sein sollte, überhaupt zu befassen. Da der Schulfreundbruder aber einer war, zu dem ich aufschaute, weil er cool war, war die „richtige Literatur“ plötzlich von einem Geheimnis umgeben, war eine Einladung in eine Parallelwelt, die ich annehmen wollte.

Warst Du ein guter Schüler?
Nein. Ich habe leider sehr selten interessante, inspirierende oder überhaupt nur kompetente Lehrerinnen oder Lehrer gehabt. Es gab natürlich Ausnahmen, zudem war mir aber die meiste Zeit in der Schule wichtiger, nicht aufzufallen, von denen gemocht und akzeptiert zu werden, die gegen die Regeln und die Obrigkeiten rebellierten und das starre Programm der Lehrpläne boykottierten. Ich habe mich zum Beispiel fast nie gemeldet, wenn ich die richtigen Antworten wusste oder habe absichtlich Fehler gemacht, um keine sehr gute Note zu bekommen. Das kommt mir im Nachhinein sehr dumm vor. Manchmal würde ich gerne mir selbst von damals gegenübertreten und versichern, dass es auch später nie gelingen wird, irgendwo dazuzugehören, indem man sich verstellt. Aber vielleicht war das auch schon eine Art Initiation in die Literatur: dass mich das Soziale, Zwischenmenschliche, die Verstellung, die Rollen und Inszenierungen immer mehr interessiert haben als das faktische Wissen.

Wurde in Deiner Familie viel gelesen?
Nein. Oder zumindest keine Bücher. Eher Illustrierte und Lokalzeitungen. Es wurde vor allem viel ferngesehen. Es gab eine Handvoll Bücher in der Schrankwand, die aber eher dekorative Zwecke erfüllten. Einige davon habe ich irgendwann herausgenommen und gelesen und war mir sicher, dass meine Eltern gar nicht wussten, was sie da für Bomben im Regal hatten. Sexus von Henry Miller war zum Beispiel darunter. Das habe ich nach dem Lesen wieder zurückgestellt und niemals nachgefragt, wer das wann weshalb angeschafft hat.

Roman, danke Dir für das Interview!

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