Thomas Palzer philosophiert über die Schrift und ihr Geheimnis
Der Schriftsteller Thomas Palzer arbeitet, oft unter philosophischen Fragestellungen, neben dem literarischen Schreiben auch als Autor für Radio und Fernsehen. Für seinen Roman Ruin erhielt er 2005 den Tukan-Preis. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Nachtwärts, das Essaybuch Vergleichende Anatomie und unlängst den literarischen Krimi Die Zeit, die bleibt. Im Literaturportal Bayern reflektiert Thomas Palzer regelmäßig über philosophische Themen. Alle Beiträge der Kolumne finden sich HIER. Im siebten Teil beschäftigt sie sich mit dem Geheimnis der Schrift.
*
Zur Eigentümlichkeit des Zeichens gehört es, kein Abbild zu sein. Das Abbild von einer Pfeife ähnelt einer Pfeife, wenn auch das Abbild selbst keine Pfeife ist. Das Wort Pfeife ähnelt in keinerlei Hinsicht einer Pfeife, dennoch ist eine solche mit ihm gemeint. Das ist allen, die das Wort verstehen, klar. Das Wort bezeichnet. Es holt folglich das, was nicht da ist, hierher. Hier auf diesem Blatt Papier, auf dieser Seite, die Sie gerade betrachten, ist nirgends ein Rabe, aber das Wort Rabe holt einen aus Ihren Gedanken hervor. Ein Wort ist kein Abbild – es ist ein Zeichen. Das Herholen dessen, was gar nicht da ist, ist das Zeichenhafte am Zeichen.
Sagen wir es so: Schrift als Sprache der Zeichen ist das Medium der Vorenthaltung – die Bedeutung ist da, präsent, aber die Sache selbst ist nicht da. Sie wird vorenthalten (lat. privatio). Schrift offenbart, dass das, was nicht da ist, da sein muss, ansonsten es ja nicht fehlen könnte.
1967 erschien in Frankreich De La Grammatologie des in Algerien geborenen, französischen Philosophen Jacques Derrida. Im Griechischen ist gramma der Buchstabe, die Grammatologie folglich eine Philosophie der Schrift. Derridas Grammatologie hat schnell Epoche und ihren Autor über Nacht zu einem der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts gemacht. Unter dem Titel Grammatologie ist das Buch 1974 auf Deutsch erschienen.
Das Buch demonstriert die Generalzuständigkeit der Rhetorik für alles, was gedacht wird, denn für das Denken (oder sagen wir besser: die Logik) gibt es kein Außerhalb des Textes (wohl aber, beiseite gesprochen, für die Wahrnehmung). Jürgen Habermas hat deshalb gegenüber Derrida den Vorwurf erhoben, die „radikale Vernunftkritik in den Bereich der Rhetorik verschoben“ zu haben. Aber bei einem philosophischen, d. h. aus Worten und Sätzen gebauten Text, kann nicht viel schiefgehen, wenn er in seinen wesentlichen Gehalten literaturkritisch erschlossen wird.
Die Schrift als solche ist folgenreich. Da sie generalisiert und etwa aus dem konkreten Haus da vorne das Haus macht, aus dem realen Baum den idealen und folgerichtig aus den Göttern Gott, ist sie verantwortlich für den Monotheismus der abrahamitischen Religionen. Gott ist der Autor der Heiligen Schrift (im Buch Exodus). Gott ist in der Schrift präsent und zugleich entzogen. Die Schrift scheint sonach das ideale Gottesmedium zu sein. „Die Zukunftsformen des Verbs sind das Idiom des Messianischen“, sagt George Steiner.
Derrida hat nun aber in der Grammatologie mit seinem Begriff der différance gezeigt, dass wenn in der Differenz die Quelle des sprachlichen Werts liegt, das Zeichen also erst seine Bedeutung durch die Zeichen links und rechts von ihm zugewiesen bekommt, eine unaufhebbare Nachträglichkeit die Folge ist. Das Zeichen kann den Akt der Bedeutungszuweisung nie einholen, Präsenz von der Schrift nie eingeholt werden – vielmehr bleibt Präsenz an das lebendige Subjekt gebunden, der Repräsentanz geht sie verloren, der Inschrift, dem Außen.
Wenn der Ort Gottes also nicht die Schrift ist, ist mit Jesus der Mensch zu seinem möglichen Ort geworden. In dieser neuerlichen Verschiebung haben wir die Revolution, die mit dem schriftkritischen Christentum einhergeht. Die Inkarnation ist es, welche die Schrift, die alles verräumlicht und verzeitlicht (nämlich ver-schiebt), einholt. Anders gesagt, gibt es Präsenz nur und ausschließlich für den lebendigen Körper. Eckhard Nordhofen sagt das so: „Der von der Schrift vorhergesagte Messias überbietet die Schrift und verdrängt sie aus ihrer Position, der einzige Ort Gottes zu sein.“
Sokrates ist derjenige, der nicht geschrieben hat – und er ist das historische Vorbild für Jesus Christus. Denn Sokrates war der Erste, der für die Wahrheit in den Tod gegangen ist. Ihm ist der Messias gefolgt.
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Der Schriftsteller Thomas Palzer arbeitet, oft unter philosophischen Fragestellungen, neben dem literarischen Schreiben auch als Autor für Radio und Fernsehen. Für seinen Roman Ruin erhielt er 2005 den Tukan-Preis. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Nachtwärts, das Essaybuch Vergleichende Anatomie und unlängst den literarischen Krimi Die Zeit, die bleibt. Im Literaturportal Bayern reflektiert Thomas Palzer regelmäßig über philosophische Themen. Alle Beiträge der Kolumne finden sich HIER. Im siebten Teil beschäftigt sie sich mit dem Geheimnis der Schrift.
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Zur Eigentümlichkeit des Zeichens gehört es, kein Abbild zu sein. Das Abbild von einer Pfeife ähnelt einer Pfeife, wenn auch das Abbild selbst keine Pfeife ist. Das Wort Pfeife ähnelt in keinerlei Hinsicht einer Pfeife, dennoch ist eine solche mit ihm gemeint. Das ist allen, die das Wort verstehen, klar. Das Wort bezeichnet. Es holt folglich das, was nicht da ist, hierher. Hier auf diesem Blatt Papier, auf dieser Seite, die Sie gerade betrachten, ist nirgends ein Rabe, aber das Wort Rabe holt einen aus Ihren Gedanken hervor. Ein Wort ist kein Abbild – es ist ein Zeichen. Das Herholen dessen, was gar nicht da ist, ist das Zeichenhafte am Zeichen.
Sagen wir es so: Schrift als Sprache der Zeichen ist das Medium der Vorenthaltung – die Bedeutung ist da, präsent, aber die Sache selbst ist nicht da. Sie wird vorenthalten (lat. privatio). Schrift offenbart, dass das, was nicht da ist, da sein muss, ansonsten es ja nicht fehlen könnte.
1967 erschien in Frankreich De La Grammatologie des in Algerien geborenen, französischen Philosophen Jacques Derrida. Im Griechischen ist gramma der Buchstabe, die Grammatologie folglich eine Philosophie der Schrift. Derridas Grammatologie hat schnell Epoche und ihren Autor über Nacht zu einem der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts gemacht. Unter dem Titel Grammatologie ist das Buch 1974 auf Deutsch erschienen.
Das Buch demonstriert die Generalzuständigkeit der Rhetorik für alles, was gedacht wird, denn für das Denken (oder sagen wir besser: die Logik) gibt es kein Außerhalb des Textes (wohl aber, beiseite gesprochen, für die Wahrnehmung). Jürgen Habermas hat deshalb gegenüber Derrida den Vorwurf erhoben, die „radikale Vernunftkritik in den Bereich der Rhetorik verschoben“ zu haben. Aber bei einem philosophischen, d. h. aus Worten und Sätzen gebauten Text, kann nicht viel schiefgehen, wenn er in seinen wesentlichen Gehalten literaturkritisch erschlossen wird.
Die Schrift als solche ist folgenreich. Da sie generalisiert und etwa aus dem konkreten Haus da vorne das Haus macht, aus dem realen Baum den idealen und folgerichtig aus den Göttern Gott, ist sie verantwortlich für den Monotheismus der abrahamitischen Religionen. Gott ist der Autor der Heiligen Schrift (im Buch Exodus). Gott ist in der Schrift präsent und zugleich entzogen. Die Schrift scheint sonach das ideale Gottesmedium zu sein. „Die Zukunftsformen des Verbs sind das Idiom des Messianischen“, sagt George Steiner.
Derrida hat nun aber in der Grammatologie mit seinem Begriff der différance gezeigt, dass wenn in der Differenz die Quelle des sprachlichen Werts liegt, das Zeichen also erst seine Bedeutung durch die Zeichen links und rechts von ihm zugewiesen bekommt, eine unaufhebbare Nachträglichkeit die Folge ist. Das Zeichen kann den Akt der Bedeutungszuweisung nie einholen, Präsenz von der Schrift nie eingeholt werden – vielmehr bleibt Präsenz an das lebendige Subjekt gebunden, der Repräsentanz geht sie verloren, der Inschrift, dem Außen.
Wenn der Ort Gottes also nicht die Schrift ist, ist mit Jesus der Mensch zu seinem möglichen Ort geworden. In dieser neuerlichen Verschiebung haben wir die Revolution, die mit dem schriftkritischen Christentum einhergeht. Die Inkarnation ist es, welche die Schrift, die alles verräumlicht und verzeitlicht (nämlich ver-schiebt), einholt. Anders gesagt, gibt es Präsenz nur und ausschließlich für den lebendigen Körper. Eckhard Nordhofen sagt das so: „Der von der Schrift vorhergesagte Messias überbietet die Schrift und verdrängt sie aus ihrer Position, der einzige Ort Gottes zu sein.“
Sokrates ist derjenige, der nicht geschrieben hat – und er ist das historische Vorbild für Jesus Christus. Denn Sokrates war der Erste, der für die Wahrheit in den Tod gegangen ist. Ihm ist der Messias gefolgt.