Thomas Palzer philosophiert über digitale Kulturvermittlung

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Sonnenaufgang auf dem Simplonpass, CC BY-SA 4.0, Hp.Baumeler

Der Schriftsteller Thomas Palzer arbeitet, oft unter philosophischen Fragestellungen, neben dem literarischen Schreiben auch als Autor für Radio und Fernsehen. Für seinen Roman Ruin erhielt er 2005 den Tukan-Preis. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Nachtwärts, das Essaybuch Vergleichende Anatomie und unlängst den literarischen Krimi Die Zeit, die bleibt. Im Literaturportal Bayern reflektiert Thomas Palzer regelmäßig über philosophische Themen. Alle Beiträge der Kolumne finden sich HIER. Im achten Teil, der in Kooperation mit der Zeitschrift aviso entstanden ist, beschäftigt sie sich mit digitaler Kulturvermittlung.

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Ganze Bibliotheken nach Begriffen durchforsten zu können – und Museen auf den Bildschirm holen und zuweilen sogar virtuell betreten: Das ist eine feine Sache, unstrittig ein Segen digitaler Kunst- und Kulturvermittlung. Man kann problemlos auf dem Laufenden bleiben oder sich einen Überblick verschaffen.

Doch egal, wie avanciert die Technik ist, die man verwenden wird: Es werden – und das gerät zuweilen in Vergessenheit – nicht Kunst oder Kultur selbst vermittelt, sondern nur die Informationen darüber. Informationen haben intrinsisch aber die Tendenz, zu wuchern und zu immer noch mehr Informationen zu entarten – zumal in der Digitalität. Und das wiederum trägt die Gefahr in sich, dass Kunst wie Kultur mit einer Flut an Informationen und „Handreichungen“ förmlich zugedeckt werden, mit sogenannten „Zusatzinformationen“ überkuratiert und überpädagogisiert.

Schon jetzt ist in vielen Museen, die real besucht werden – gewissermaßen analog per pedes –, kraft der ubiquitären Bevormundung oder Bevoräugnis, wie man sagen müsste, eine Situation entstanden, in der sich nicht wenige gar nicht mehr unbewaffnet (ohne Cicerone oder ohne zumindest die Textwand daneben studiert zu haben) an das Betrachten eines Bildes herantrauen – sich zutrauen, selbständig hinzugucken und Entdeckungen zu machen. Wie dann erst im digitalen Raum? Die Angst vor dem Fehlurteil führt, anders gesagt, zu einer unnötigen Vereindeutigung.

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner virtuellen Ubiquität und Allverfügbarkeit ist eben gleichzeitig ein Kunstwerk, das unentwegt eingerahmt („Framing“), beurteilt und mit zusätzlichen „Geländern“ bzw. „Rahmenhandlungen“ versehen wird – sozusagen mit digitalen Rahmen um den Rahmen.

An dieser Stelle kommt etwas ins Spiel, das George Steiner die Kultur der „sekundären Welt“ genannt hat, die Kultur der wuchernden Kommentierung und des Vorrangs der Expertise vor dem Original. Letztlich steckt hinter Steiners Bild ein Angriff auf die Theorie der Naturwissenschaften, die glauben macht, dass alles, was wir wahrnehmen, im Gehirn repräsentiert würde. Repräsentation ist das Zauberwort der Gegenwart, wenngleich damit gar nichts erklärt werden kann: Jede Repräsentation zieht einen Regress ad inifinitum nach sich, denn zum Gegenstand selbst gelangt sie nie. Zu glauben, dass Kunst kommentarbedürftig sei, ist eine unmittelbare Folge davon.

Der naturwissenschaftlichen Verengung von Wahrnehmung auf das Kognitive hält Steiner nun mit seinem Wort von der „sekundären Welt“ die aristotelische Auffassung von Wahrnehmung entgegen. Nach dem Peripatetiker ist Wahrnehmung etwas, das der, der wahrnimmt, mit dem, was wahrgenommen wird, teilt. Anders gesagt: In der Wahrnehmung kommt ein Gemeinsames zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenen zum Tragen. Dieses Gemeinsame (communes) ist die Welt, ist ihre Lichtung, um einen Begriff Heideggers zu verwenden. Die Lichtung befreit das Subjekt aus dem Käfig seiner Subjektivität, zeitgenössisch gesprochen: aus dem Knast des Gehirns.

Niemals nehmen wir wahr, was wir wissen. Die Sonne geht nämlich nach wie vor für uns auf – statt dass die Erde untergeht, wie es gemäß dem Konzept der Naturwissenschaften richtig wäre. Wir erleben die Welt, wir erkennen oder wissen sie nicht. Provokant formuliert kann man sagen: Dem Wissen (der Kommentierung) geht es um die Herstellung von sekundären Erlebnissen – nicht darum, dass erlebt wird, nicht um Wirklichkeit.

In einer Erlebnisgesellschaft, die wie die unsere Erlebnisse produziert wie Knabbergebäck oder Mülltüten, ist es von besonderer Wichtigkeit, die Hierarchie von Erlebnissen anzuerkennen – nämlich zu entscheiden, was man erleben und worauf man verzichten will. Präsenz oder reale Gegenwart geht vor Repräsentanz. Will man das Wissen um das Verhältnis von Sonne und Erde erleben (denn auch Erkenntnisse sind Erlebnisse, wenn auch nur Erlebnisse im Gehirn) – oder will man den Sonnenuntergang sehen? Will man ein Bild im Netz identifizieren (scannen) – oder das Original sehen? Will man wahrnehmen (und nur geteilte Welt ist Wirklichkeit) – oder will man ein Kinoprogramm für sich allein angucken (unterhalb der Kalotte)?

Wie gesagt: Es ist ein Segen, dass jeder, der über das Internet verfügt, sich ein Bild von Bildern und Gemälden und vielem mehr machen kann. Das ersetzt aber keineswegs den Gang ins Museum, den Weg nach Paris, Madrid, London oder in eine kleine Galerie in Saõ Paulo. Es ersetzt nicht den Vorgang des Sehens, der anders, als die Gegenwart es glauben will, unmittelbar ist – nicht über das Gehirn vermittelt. Denn wer vermittelte denn die Ergebnisse des Gehirns an uns?

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