Info
12.04.2017, 12:29 Uhr
Thomas Palzer
Kolumne von Thomas Palzer
images/lpbauthors/2017/klein/Thomas-Palzer_klein.jpg
(c) privat

Auftakt zu Thomas Palzers philosophischer Kolumne

Der Münchner Schriftsteller Thomas Palzer arbeitet – oft unter philosophischen Fragestellungen – neben dem literarischen Schreiben auch als Autor für Radio und Fernsehen. Für seinen Roman Ruin erhielt er 2005 den Tukan-Preis. Zuletzt erschien der Roman Nachtwärts. Im Literaturportal Bayern wird er in den nächsten Monaten regelmäßig über philosophische Themen reflektieren, die sich im weiteren Feld von Bibliothek – Schrift – Archiv bewegen. Zum Auftakt geht es gleich um seinen Mittelpunkt: das Buch.

*

Lese und bleibe!

Gemäß der Tradition ist ein Buch ordentlich gedruckt und mit einem mehr oder weniger festen Einband versehen. Es hat einen Anfang – incipt – und ein Ende – finis. Jedenfalls hatte es das bislang. Mit der Verbreitung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert werden Texte zu Büchern verdinglicht. Erasmus erzählt, wie er sich in einer schmutzigen Gasse begeistert bückte, als sein Blick auf einen bedruckten Fetzen fiel. Damals beginnt eine Art Verschriftlichungsrevolution. Die ist noch nicht zu Ende, denn heute, in Zeiten der Digitalisierung, wird so viel geschrieben wie nie zuvor.

Die Gegenwart oszilliert hin und her zwischen Pixel und Papier. Es geht um das Buch und um die Frage, ob ein Buch genau das ist, was wir seit 500 Jahren darunter verstehen: Buchstabenkolonnen, Lesemaschine, Lebensmittel, Fetisch. Kann ein Buch auch ein Algorithmus sein? Die Gemüter sind stark erhitzt, und während die einen das alte Buch mit Buchdeckel abgelöst sehen durch den unabschließbaren Prozess, den seine Einpflegung in die digitale Welt erlaubt, erkennen die anderen in dem auf herkömmliche Weise gedruckten Buch das Antidot zu Kulturverfall, ADHS und Konzentrationsschwäche.

Wirkliche Probleme haben keine Lösung, sondern Geschichte. Die Geschichte des Buches vermag uns also vielleicht einer Klärung näherzubringen.

Buch der Bücher

Bibel, biblos, heißt zunächst nichts anderes als Buch. Christen sehen in der Bibel das Buch der Bücher. Sie betonen die Einzigartigkeit, die allerdings nicht darin besteht, dass es von ihr nur ein einziges Exemplar gäbe. Die Bibel gehört zu den meist verbreiteten Büchern der Welt. Sie umfasst die Gesamtheit der kanonisierten Schriften, die deshalb als Heilige bezeichnet werden, nämlich die Bücher des Alten und Neuen Testaments.

Mit der Neuzeit und der im Zuge von Papier und Marktgeschrei aus ihr hervorgegangenen Wissensgesellschaft kehrt sich das Verhältnis des Buchs der Bücher zu allen anderen Büchern nachgerade um: Während der Glaube daran, dass es sich bei der Bibel um das Buch der Bücher handelt, zusammen mit der religiösen Erkaltung der Gesellschaft schwindet, gewinnt gleichzeitig die Auffassung an Boden, dass im Prinzip für jedes Buch das Adjektiv heilig in einem bestimmten, paradoxerweise säkularen Sinn in Anspruch genommen werden darf. Bücher bestehen aus Buchstaben, und Buchstabenfolgen dienen in erster Linie der Beschreibung. Was wir Wissenschaft nennen, hat darin seinen Ursprung: in der Beschreibung. Beschreibung führt zu Wissen – und Wissen garantiert seit der Aufklärung den unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit – den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Mit anderen Worten stellen Bücher sicher, dass die Welt lesbar bleibt. Die Wirklichkeit wird von Sprache geordnet.

Der Wiener Ivan Illich schreibt in seinem Essay Das Denken lernt schreiben: „Wie die Begriffe Wörter und Text ist das Gedächtnis ein Kind des Alphabets. Erst als es möglich war, den Fluss der Sprache in phonetischer Umschrift zu bannen, tauchte die Idee auf, dass Wissen – Information – im Denken wie in einem Lager aufbewahrt werden könnte.“ Stilles Lesen steigert enorm die Konzentrationsfähigkeit, und die alphabetische Strategie, Sprache in ihre einfachsten Teile zu zerlegen, schafft Bedingungen, die der Entfaltung des Individuums günstig sind. Man kann Literatur als Generalwissenschaft vom Menschen verstehen.

Frommes Lesen

Im Zuge der Aufklärung wird die Wertschätzung des Buches aus dem monastischen Umfeld gelöst und allgemein. Weil es bewahrt, gilt das Buch nun seinerseits als unbedingt bewahrenswert, als heiliges Gut.

An den Bücherglauben gekoppelt ist die Verherrlichung des Wissens, als deren schmähenswerte Opponenten Aberglaube, Irrationalismus und Obskurantismus gesehen werden. Martin Luthers Buchstabenglauben trägt dieser Logik Rechnung, indem er das Lesen der Bibel in gewisser Weise verwissenschaftlicht. Er lässt unablässig und genau Gottes Wort repetieren, denn er ist davon überzeugt, dass zwar wir, die Leser, fehlbar sind, niemals aber der Autor des Heiligen Textes (der diesen im übrigen den Propheten diktiert hat). Mit dem frommen Lesen hebt Luther die Bibel und das in ihr Gesagte in den Rang unanfechtbaren Wissens. Damit geht er auf seine Weise synchron mit dem Beginn der Wissensgesellschaft. Es kann nicht ausbleiben, dass sich der fromme Protestantismus, wie er in den für ihn typischen literarischen Formen wie Predigt, Sendschreiben, Erbauungsbüchern und Bekenntnissen zum Ausdruck kommt, über den lasziven homme des lettres empört, dem er in Voltaire, Diderot und Heinrich Heine begegnen soll. Lettres bedeutet in diesem Zusammenhang übrigens Bildung und Gelehrsamkeit  und nicht Literatur im heutigen Sinn.

Bis in die Gegenwart findet sich diese Unterscheidung zwischen Buchstabenfrömmigkeit und sinnlicher Leselust gespiegelt, denken wir nur an Suhrkamp und seinen Fetisch des reinen Textes auf der einen und an den Prägedruck der sogenannten Publikumsverlage auf der anderen Seite. Ivan Illich: „Mit der Loslösung des Textes vom physischen Objekt, dem Schriftstück, war die Welt selbst nicht mehr Gegenstand, der gelesen werden sollte, sondern sie wurde zum Gegenstand, der zu beschreiben war.“

Im Lauf der Zeit kolonisierte die Wissensgesellschaft das Buch und setzte es gleich mit einem Behälter für propositionales, aussagbares und argumentatives Wissen. Ein solches Buch lässt sich problemlos in die digitale Welt einfügen, denn Wissen wächst und muss ständig aktualisiert werden. Freilich verändert sich im Netz der Charakter des Wissens selbst. Ist es einst aus der Beschreibung und dem Alphabet geboren, verwandelt es sich nun in an der Logik orientiertes Wissen, in Rationalität. Am Ende dieses Prozesses wird das rationale Denken auch das Buch rationalisieren.