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09.06.2015, 17:06 Uhr
Redaktion
Gespräche

Lesung und Interview mit Petra Morsbach in Ottobeuren

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Maierorgel in der Ev.-luth. Erlöserkirche zu Ottobeuren (c) Literaturportal Bayern

Ottobeuren im Unterallgäu ist berühmt für seine großartige barocke Basilika und Klosteranlage. Manchem Eingeweihten ist der Markt vielleicht auch als letzte Lebensstation und Sterbeort  von Arthur Maximilian Miller ein Begriff. Seit diesem Jahr veranstaltet der Kulturverein Pro Arte Ottobeuren (Organisation: Dr. Josef Miltschitzky) in der evangelischen Erlöserkirche zu Ottobeuren eine Reihe von Orgelkonzerten in Verbindung mit einer anderen Kunstsparte, so auch Orgel und Literatur. Passend zum Veranstaltungsraum las kürzlich die in Starnberg lebende Autorin Petra Morsbach aus ihrem Roman Gottesdiener (2004) über einen niederbayerischen Dorfpfarrer. Dazu spielte Matteo Riboldi aus dem italienischen Monza Werke von Frescobaldi, Homilius und Bruhns auf der Maierorgel (Josef Maier, 1989).

Gottesdiener handelt vom katholischen Pfarrer Isidor Rattenhuber, der sich aufreibt zwischen dem theologischen Anspruch seines Amtes und den Forderungen der Amtskirche auf der einen, der Realität eines Dorfpfarrers auf der anderen Seite. „Der Mensch ist viel weniger, als er ahnt“, muss der Geistliche bald erkennen.

Petra Morsbachs Geheimnis ist ihre präzise Beobachtungsgabe, ihr Interesse an den Menschen, so „wenig“ sie auch sein mögen. Sie recherchiert nicht nur, sie lebt sich ein und seziert ihr Gegenüber bei Gesprächen bis sie an den Kern einer Sache stößt. Sie selbst bezeichnet sich als realistische Erzählerin, denn sie interessiert sich für das wahre Leben voller Hässlichkeiten, Schwächen und Fehler. Ihre Geschichten zeichnen sich nicht durch große dramatische Kurven, Höhepunkte oder unerwartete Wendungen aus. Es sind ungekünstelte, aber umso plastischere Schilderungen eines Milieus oder eines Charakters, die den Leser gefangen nehmen. Dabei gelingt es ihr scheinbar nebenbei, die großen Fragen des Lebens anzustoßen, die mit uns selbst zu tun haben, die am Aufbau unserer Gesellschaft kratzen und Schicht für Schicht den kleinen Menschen dahinter freilegen.

Man sieht beim Lesen für einen kurzen Moment die Spur des Erkennens der großen Zusammenhänge, bevor sie wieder verwischt wird durch die Unzulänglichkeit unseres Weiterdenkens. Genauso wenig gelingt es Pfarrer Isidor in seinem Leben, die eine große Frage an Gott zu stellen, die unsere Existenz umreißt. Nach mehreren Jahrzehnten im Amt muss er stattdessen befürchten, einem Wahnsystem zu dienen, und stellt sich eher die Frage nach dessen Sinn, dem Warum, dem Ziel und dem Nutzen seiner Existenz und seiner Opfer. Das Weitermachen erleichtert ihm am Ende eine einfache Gegenfrage, die ihm im Fieberdelirium der Leuchtstern seiner Kindheit, der längst verstorbene Dorfpfarrer Stettner stellt: „Na und? Es wäre das schönste Wahnsystem der Welt.“

(c) Literaturportal Bayern

Im Gespräch mit Frau Dr. Elisabeth Donoughue erzählte Petra Morsbach schließlich dem Ottobeurer Publikum die Hintergründe zu Gottesdiener:

Wie sind Sie denn auf diesen Stoff gekommen oder wie ist der Stoff zu Ihnen gekommen?

Mein Vater arbeitete 20 Jahre lang im Bayerischen Wald. Die Familie wohnte in Oberbayern, er in einem niederbayerischen Dorf. Er erzählte zuhause davon, wir fuhren ihn besuchen. Dieses Dorf hat es mir angetan. Es war Bayerischer Wald vor 40, 50 Jahren, ganz anders als heute, richtig wüst, archaische Verhältnisse. Es gab eine Einweihungsfeier, und sie brüllten, große, starke Kerle, die Humpen flogen, es war fantastisch. Dann fingen sie an, sich zu beschimpfen. Wenn einer nett war zum anderen, dann sagte er: „Geh, bist a Saukopf.“ Ich war vielleicht fünfzehn und dachte, man sollte einmal einen Roman schreiben über diese Leute und zwar aus Sicht des Pfarrers. Warum aus der Sicht des Pfarrers? Dass Leute auf solchen Dörfern saufen, huren und zocken, ist nichts Neues, darüber gibt es schon Romane. Aber wie sieht das aus der Sicht des Pfarrers aus, der eine virtuelle Autorität hat, aber keine reale? An ihm hängen die Leute und machen trotzdem was sie wollen. Ich dachte, eines Tages mache ich das. Während der Recherche hat sich der Akzent dann verschoben: Ursprünglich war der Pfarrer als Folie gedacht für das Dorf, beim Entstehungsprozess ist er dann immer mehr in den Mittelpunkt gerückt, und das Dorf ist sein Resonanzraum geworden.

Gibt es ein reales Vorbild für den Pfarrer Isidor Rattenhuber?

Nein. Ich habe mit vielen Pfarrern gesprochen – mit jedem, der bereit war, mit mir zu sprechen. Aber ein Vorbild für Isidor war nicht dabei. Er ist aus diesen Eindrücken zusammengewachsen.

Was haben Sie in den Gesprächen mit den vielen Dorfpfarrern erlebt?

Das waren sehr inspirierende, heikle, angespannte Gespräche nicht nur mit Dorfpfarrern. Die Pfarrer haben sich erstmal gewunden und wussten nicht, ob sie überhaupt mit mir sprechen können oder sollen. Ich sagte Ihnen, sie dürften alles lesen, was ich daraus mache, bevor es in Druck geht, sie haben also die Kontrolle über ihre Informationen. Und wenn sie den Eindruck bekämen, ich wäre nicht gut mit ihrem Material umgegangen, dann könnten sie ihre Informationen ersatzlos streichen. Darauf haben sie sich eingelassen. Übrigens waren sie sowieso sehr vorsichtig. Sie redeten in Andeutungen, und ich habe versucht zu verstehen, was sie mir nicht sagten. Auch das musste ja in den Roman. Und später sagten die Pfarrer: Ja, so ist es.

Gab es denn Reaktionen der Amtskirche auf dieses Buch?

Mehr als ich gedacht habe. Zunächst gab es einen Verriss aus Passau. Da hieß es, das Buch gehöre nicht in die Bibliotheken, die Leute sollten lieber Paulo Coelho lesen, ich würde den Bayerischen Wald schänden. Das war die einzige negative Reaktion. Übrigens habe ich nicht mit einer offiziellen Stellungnahme gerechnet, schließlich äußert sich auch die Staatsregierung nicht, wenn ein Roman über einen Kommunalpolitiker erscheint. Aber ich wurde von Pfarrern, katholischen Professoren, auch von Bischöfen zu Lesungen eingeladen, es wurde gepredigt über das Buch. Das bedeutet nicht, dass das Buch „der Kirche“ gefiele, sondern nur, dass manche Kirchenleute diese „Innensicht von außen“ der Rede wert finden.

(c) Literaturportal Bayern

Der Schriftsteller Martin Mosebach hat in seiner Laudatio zum Jean-Paul-Preis gesagt, ein gutes Porträt müsse immer so gestaltet sein, dass man auch die Füße sieht. Können Sie diesen Satz auf Isidor Rattenhuber anwenden?

Ich denke schon. Man lernt ihn kennen von seiner Kindheit an, bis er so ungefähr sechzig ist, mit seinen Gedanken und seinen Träumen.

Sehen Sie Ihren Dorfpfarrer als einen Scheiternden? Ein bisschen Scheitern gehört ja zu allen Ihren Figuren dazu. Warum ist das so?

Ich glaube, ein bisschen Scheitern gehört zum Leben dazu. Eine Figur, die alles richtig macht, kenne ich nicht. Es würde mich auch langweilen, von ihr zu lesen. Isidor macht weiter, er bleibt bei seinem Beruf. Es ist natürlich nicht so, wie er es sich vorgestellt hat, aber das Leben ist überhaupt nie so, wie ein junger Mensch es sich vorstellt. Ich habe übrigens, das gehörte zur Versuchsanordnung, nur mit Pfarrern gesprochen, die noch im Amt waren. Es gibt ja viele, die aufgehört haben, und die sind auch eher gesprächsbereit oder schreiben sogar Bücher darüber. Aber mit denen wollte ich genau nicht sprechen. Ich weiß, es gibt hundert Gründe, diesen Beruf aufzugeben. Mich interessierte, was einen in dem Beruf hält und wie jemand ist, der weitermacht.

Damit sind wir vielleicht bei Ihrem Grundanliegen Ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin. Sie bezeichnen sich selbst als realistische Schriftstellerin. Was bedeutet das für sie?

Das bedeutet, dass ich versuche, das Leben möglichst genau darzustellen. Ich baue keine Gegenwelt. Ich erzähle nicht, wie ich es gerne hätte, sondern so, wie ich es wahrnehme, auf die tiefste mir mögliche Weise. Die Wirklichkeit ist sowieso viel interessanter als alles, was man sich ausdenken könnte. Ich würde nicht sagen, dass es die Wahrheit ist. Es gibt keine Wahrheit. Aber ein Schriftsteller kann nur so wahrhaftig wiedergeben, was er sieht, wie er es eben kann, wie es ihm seelisch möglich ist. Und wenn er Glück hat, dann kommt etwas heraus, was das „Muster des Lebens“ enthält.

Sie haben einmal den schönen Satz gesagt, es sei die besondere Chance der Literatur, über den schonenden Umweg durch andere Seelen uns selbst näher zu kommen. Inwiefern trifft das auf Isidor Rattenhuber zu?

Das ist der Witz der ganzen Literatur. Es gibt viele Dinge, die uns beschämen, über die wir uns nicht zu sprechen trauen, die wir nicht einmal vor uns selbst sagen können. In der Literatur erleben wir genau diese Dinge anhand anderer. Wir sehen, es geht ihnen genau so, und ihnen ist es so und so damit ergangen. Anhand des fremden Beispiels können wir vieles begreifen, uns eingestehen und verarbeiten, was wir allein vielleicht nicht schaffen würden. Literatur ist ja nicht Handlung und Information, sondern Miterleben. Da gibt es keine Schamgrenzen oder Ideologie, höchstens als Thema. Es geht um das möglichst tiefe und ehrliche Erfassen des Lebens.

(c) Literaturportal Bayern

Die nächste Veranstaltung der Reihe Orgel und Literatur findet am 20. Juni 2015 statt: Asta Scheib liest aus ihrem neuesten Roman Kinder des Ungehorsams, der Lebens- und Liebesgeschichte von Martin Luther und Katharina von Bora. Dazu erklingen Orgelwerke von Händel und Bach.

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