[Kroatien-Austausch]: Über Vergehen und Werden
# Korrekturen # Es gibt gefühlte und vermessene Landschaften. In meiner gefühlten Geografie lag Zagreb, die kroatische Hauptstadt, etwa 900 Kilometer von München entfernt, so weit wie Rom. Die kurze Flugzeit machte mich stutzig. In Wahrheit sind es also nur 550 Kilometer, das entspricht nicht mal ganz der Entfernung von München bis zu meinem Elternhaus bei Köln.
Genauso wie mein Distanzempfinden musste ich meine Vorstellung von der kroatischen Landschaft korrigieren. Sie war geprägt von Bildern der adriatischen Küste, den alten Winnetou-Filmen. Kurz gesagt: Felsen, Büsche, Wasser. Grau, grün, blau. Ein märchenhaftes Blau. Was ich nach einem Flug durch die Wolken – mit einer Propeller-Maschine, die nicht bis in die immersonnige Höhe stieg – als erstes vom Land sah, unterschied sich nicht nennenswert von dem Bild, das sich mir bei einem Inlandsflug hätte zeigen können. Eine flache Landschaft mit Feldern, Straßen, kleinen Dörfern. Kein Süd-Bonus auf der Gangway, der Wind blies kühl durch unsere Jacken. Eine weitere Korrektur: Kroatien ist nicht das Land mit dem (ausschließlich) mediterranen Klima.
Auf dem Weg nach Zagreb Teile noch nicht zu Ende gebauter Straßen, im amerikanischen Stil aufgeständerte Trassen, Tangenten, die ein paar Meter über dem Erdboden abbrachen. Ein Land im Stillstand oder im Aufbruch? Vorbei an Novi-Zagreb, der sozialistischen Stadtidee, die im alten Ostblock (Jugoslawien gehörte gefühlt dazu) ebenso vereinheitlichend wirkt wie die k. u. k. österreichische Architektur im alten Mitteleuropa. Die war das nächste: Zagreb eine Stadt, die gleich vertraut wirkte – ein bisschen mitteldeutsch auch mit den vielen nach wie vor unsanierten Fassaden. Die nächste Korrektur: Zagreb ist eine Hauptstadt, aber es ist nicht sehr groß. Als die erste blaue Tram passierte, sah es für den Münchner noch weniger fremd aus.
# Begegnungen # Erst einmal tauschten wir Euro in Kuna. Der Kurs lag in der Größenordnung von 7,5 Kuna je Euro, wieder ein, wenn auch Zeitgeschichte gewordenes, Österreichgefühl. Sieben Schilling waren mal eine Mark. Im Hotel sollten wir als Kaution für die Minibar 400 Kuna hinterlegen. Dieses Verfahren immerhin schien mir exotisch. Wir saßen zusammen in der Lobby, sechs bayerische Autorinnen und Autoren, unsere Organisatorin Verena Nolte, und ein Baby. Mindestens die Hälfte von uns waren und sind Zugereiste, Wahl-, Ex-, Noch-, Teil- und Wiederbayern. Und wie es sich für ein kleines Land gehört (Bayern immerhin mit 12.5 Millionen Einwohner auf 75000 km2, Kroatien mit 4,5 Millionen auf 55000 km2) kannten wir uns bereits zum größeren Teil. Vorausgefühlt waren wir eine gute Truppe, die drei Tage, die wir zusammen verbrachten, bestätigten das.
Die Laune war gut und die Zeit knapp. Das sollte sich im Verlauf der Reise kaum ändern.
Ana Brnardic, die Lyrikerin, Vertreterin des gerade zehn Jahre alten kroatischen Schriftstellerverbandes und unsere gute Fee und Begleiterin, hatte uns bereits am Flughafen abgeholt, zusammen mit zwei Fahrern, die uns per Kleinbus zu jeder Zeit an jeden Ort zu bringen bereit waren. (Im Auto hat sich übrigens ein signifikantes Gefühl von Fremdheit – endlich! – eingestellt, weil unser Fahrer bei gelben Ampeln grundsätzlich Gas gab.) Frischmachen im Hotelzimmer, durch das nicht zu öffnende Fenster auf die Straße schauen, blaue Tram und unsanierte Jugendstilfassaden sehen, auf zum Mittagessen. Es schmeckte vertraut, deftiger Schweinebraten mit Kartoffeln. Beim Essen lernten wir uns kennen: Boris Perić, der einen weichen, für meine Ohren beinah wienerischen Akzent pflegte, erzählte mir von hundert Eichhörnchen einer chilenischen Art, die er sein eigen nannte (am Anfang waren es zwei gewesen) und von denen er eines zum Tierarzt gebracht hatte, weil es vom Becken hinterwärts gelähmt war. Hundert Eichhörnchen, um die er sich kümmern musste! So weit hatte er es kommen lassen, jetzt aber war die Bande insgesamt kastriert. Wir haben zu Hause drei Meerschweinchen und ich habe mich persönlich darum bemüht, nur Weibchen einzukaufen. Drei Stück sind mir genug, für jedes Kind eines, und ab da verwirrt sich dieser Gedanke, wenn ich ihn wieder zu unserem Übersetzer und seinen Eichhörnchen zurückdenke.
# Zagreb # Die kroatische Hauptstadt ist aus zwei Städten zusammengefügt worden, Kaptol, der Klerus-Stadt, und Gradec. Sie liegt an der Save, die im Stadtbild kaum präsent ist. Zagreb ist keine Stadt „an der ...“ wie Wien oder Budapest. Bis heute hat es etwas Unorganisches, dem europäischen Typus der um Kirche und Markt oder Flusslände gewachsenen Stadt in der Gesamtstruktur Unähnliches. Die Zergliederung mit zwei alten Kernstädten, der Unterstadt und Novi Zagreb macht vielleicht, dass es klein auf mich wirkt. Die Lage vor einem Höhenzug ist überaus reizvoll.
Von der Zagreber Kathedrale gehen wir, Heike mit Fedor und ich, an unserem freien Samstagvormittag hügelan. Der Park-Friedhof Mirogoj, oberhalb der Stadt gelegen, soll besonders hübsch sein. Doch der Weg wird uns zu lang, wir kehren um, schlendern eine langgezogene Straße hinab, zu deren Seiten lang nicht angestrichene Häuser stehen, linkerhand an einer Böschung alte, unsanierte Villen. Hier ist das normale Leben zu spüren, bilde ich mir ein. Es gibt außer uns keine Touristen, keinen Fiaker, nur die Tram und natürlich Autos. Eine Art Wochenendruhe liegt schon über der Gegend, die Ruhe der Provinz, wie sie auch in Münchner Wohnvierteln häufig spürbar ist.
Unten in der k. u. k. geprägten Unterstadt wirkt alles geschäftiger, es gibt mehr Verkehr, dort liegt auch der Bahnhof. Viele schöne Jugendstilhäuser sind unsaniert. Ein deutscher Diplomat, der unsere Lesung besuchte, hat erzählt, dass es bei der Privatisierung sehr hastig zugegangen sei. Viele der neuen Hausbesitzer hätten kein Geld für eine Sanierung oder spekulierten, dass sie ihre Häuser ohne Investition doch mit großem Gewinn verkaufen könnten. Darunter leide die alte Bausubstanz. Das leicht Verfallene bringt andererseits einen Hauch von Geschichtlichkeit in die Stadt, die so vor der Musealität bewahrt wird.
Die wenigen Kilometer, die ich in Zagrebs Straßen zurücklege, befriedigen meine Neugier nicht. Es bleibt eine zu entdeckende Stadt. Eine Merkwürdigkeit ist der österreichische Name „Agram“ für Zagreb. Im Unterschied zu so vielen wie Brünn, Pressburg oder Laibach, hat keiner von uns ihn je gehört. Er steht aber auf dem Flugticket.
# Essen # Speisen bedeuten uns Heimat. Der Gaumen spürt ideologiefrei, was ihm vertraut ist und was nicht. Unser Essen in diesen drei Tagen, und wir haben häufig und manchmal viel gegessen, war von einer ähnlich mitteleuropäischen Prägung wie die ältere Architektur. Es gab viel Fisch, das war vielleicht das Ungewöhnlichste. Und ein leicht süßes Brot aus Maismehl. Außer Fisch, ein katholisches Soll für den Freitag, gab es reichlich Fleisch. Am Köstlichsten schmeckte ein Gulasch mit einer Art selbstgemachten dicken Nudeln aus Weißmehl in saurem Rahm, pro Portion geschätzt 2000 Kalorien. Und immerzu, also zu den Mahlzeiten, tranken wir Wein, der weiße typischerweise eher süß, es gab aber auch trockenen, der rote trocken und solide. Nudeln werden nicht in der Suppe, sondern extra gekocht. Erst bei Tisch mischt man beides.Ich fragte Ana, ob sie in Kroatien immer so äßen (immer hätte bedeutet: zweimal am Tag warm mit drei bis vier Gängen, dazu Wein und Kaffee, zum Aperitif häufig Schnäpse). Leider sagte sie nein. Vielleicht auch zum Glück, denn bei solchem Essen wird einer leicht zur luftbremse.
# Lehnwörter # Die Österreicher haben Spuren in der kroatischen Sprache hinterlassen. Jemand, der die Arbeit scheut, wird luftinspektor, auch luftbremse genannt. Hähnchenstücke to go: lufthansa. (Diese individuelle Auskunft, die bei uns große Heiterkeit bewirkte, ist von anderer Seite nicht bestätigt worden. Sie ist nüchtern betrachtet auch fragwürdig, da die Lufthansa kein genuin österreichisches und schon gar kein k. u. k. Unternehmen darstellt. Oder sollte es neuerdings wieder eine Durchlässigkeit für andere als englische Wörter in europäische Sprachen geben?) Englisch war meistens unsere Verkehrsprache in diesen Tagen.
# Mehr Begegnungen # Zoran Ferić moderierte bei der moderat besuchten Lesung in Zagreb meinen Beitrag. Ich hatte bereits einen seiner Romane, Die Kinder von Patras, mit großem Vergnügen auf Deutsch gelesen. Auch den Anfang seines neuen Romans, der im Herbst bei folio unter dem Titel Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr erscheint, konnte ich schon lesen. Darin versucht ein frisch gebackener Rentner, einen Kellner, der ihm kein Wechselgeld rausgegeben hat, zu düpieren, in dem er denselben Kaffee noch einmal zahlt. Bei unserer Lesung fand ich in Zoran Ferić einen überaus gewitzten und professionellen Gesprächspartner. In Osijek waren wir beim lokalen Radio eingeladen. Auf dem Flur des Senders sah ich, wie Ivana Šojat Kuči Edo Popović so frech wie dem Anschein nach freundlich die Zunge rausstreckte. Diese Art von Lebendigkeit ist unter deutschen Autoren leider selten.
Trotz der ausgedehnten Abendessen und trotz der Stunden, die wir in Osijek und Vukovar und vor allem im Bus zusammen verbrachten, war die Zeit zum Kennenlernen so vieler neuer Kollegen zu kurz. Es bleibt also Neugier.
# Vampire # Boris Perić, der Mann mit den hundert Eichhörnchen, erzählt mir vom alten kroatischen Vampirglauben. Der Krainer Historiker Valvasor hat ausgangs des 17. Jahrhunderts offenbar als erster Vampirismus in einem Sachtext beschrieben. „Das Land- und Bauers-Volck in Isterreich [Istrien] glaubt ... es gebe gewisse Zaubrer und Hexenmeister, welche den Kindern das Blut aussaugen. Einen solchen Blut-Aussauger nennen sie Strigon, imgleichen auch Vedarèz. Wann nun solcher Strigoneinmal verreckt; so halten sie dafür, er gehe gegen Mitternacht im Dorff herum, klopffe und schlage an die Häuser; und aus selbigem Hause, da er angeklopfft, werde in den Tagen Einer sterben ... Also seynd sie der gäntzlichen Meynung, es werde ihnen diß Gespenst keine Ruhe lassen, bevor sie ihm einen Pfahl von Dorn-Holtz durch den Leib schlagen.“ Der verstorbene Bauer Jure Grando aus dem istrischen Dorf Kringa wird durch Valavsor zum ersten namentlich erwähnten Vampir der Welt. Boris Perić hat für einen Film über Vampirismus in Istrien recherchiert. Es sei nicht leicht gewesen, die Leute zum Reden zu bringen, erzählt er mir. Die Alten hätten immer noch Angst vor der Wiederkehr solcher unangenehmen Toten.
# Literaturland # Kroatien. Etwa ein Viertel der Bevölkerung liest mehr als ein Buch pro Jahr. Ein Buch mit einer Tausender-Auflage ist schon ein Bestseller. Die Kroaten können ihre Literatur nicht nach Serbien verkaufen. Die Sprachen seien praktisch gleich, aber der Handel sei schwierig, denn man wisse nicht, ob nach Serbien gelieferte Bücher auch bezahlt würden. All das aus einem erinnerten Gespräch und völlig unverbürgt.
# Nationalbibliothek # Mitten in unserer Führung muss Fedor, das Baby unter den Autoren, gewickelt werden. Da es an einem speziellen Raum mangelt, führt uns ein Mitarbeiter der Nationalbibliothek kurzerhand in sein Büro. (Wir gehen nicht alle mit, nur ich begleite Heike Geißler, die Mutter, um zu assistieren.) Unser Begleiter schließt die Tür auf und lässt uns allein. Er wird uns später zur Gruppe zurückführen. Während Heike wickelt, rekapituliere ich – was soll man beim Wickeln auch groß assistieren. Die Nationalbibliothek in der heutigen Gestalt ist jung, ein Bau aus dem späten 20. Jahrhundert. Sie hat Platz für zehn Millionen Bücher bzw. Medien, wenn ich die Zahlen richtig behalten habe. Zwei oder drei Millionen beherbergt sie bereits. Wir sind durch verschiedene Abteilungen geführt worden, durften sehr alte kroatische Bücher anschauen – das erste Buch in kroatischer Sprache wurde 1483 herausgegeben. Die Sprachbarriere bringt einem diese Bücher haptisch näher als inhaltlich. Wir dürfen die alten Ausgaben zum Teil berühren. Das ist ja etwas, was man sonst nie darf, außer man forscht. Das alte, leicht steife Papier, die fransenden Bänder zum Verschließen, die trockenen Ledereinbände sind ein taktiles Erlebnis.Es gibt auch eine alphabetische Schwelle, denn manches ist in Kyrillisch gedruckt worden. Mehrere Bücher stammen aus süddeutschen Druckereien. Im Übrigen gibt es keinerlei Rechte-Management, das einem den Zugang erschweren könnte. Wer lesen gelernt hat, ist Reader und muss keinen besitzen.
Im Keller sitzen die Restauratorinnen und arbeiten mit Skalpellen, Radierern, geheimnisvollen Lösungen an der Erhaltung dieses Kulturguts. Auch Comics gehören dazu oder Plakate von zurückliegenden Sport-Ereignissen. Aus den riesigen unterirdischen Magazinen transportiert eine kleine Bahn Kisten mit Büchern dahin, wo sie gebraucht werden. Es erinnert mich an eine Fernsehsendung aus meiner Kindheit, Lemmi und die Schmöker. Da kamen die Bücher in einem Telelift angefahren, und auf einem Tuch, das jemand aus einem der Wagen hochzog, erschienen gefilmte Figuren aus den Büchern, die den Kindern vorgestellt wurden. Solche Tücher scheint es heute nicht mehr zu geben, jedenfalls sind sie nicht Teil des Konzepts der kroatischen Nationalbibliothek.
Ich habe schon vergessen, dass ich in irgendeinem fremden Büro sitze, als die Tür aufgeht und ein Mann die Nase hereinsteckt. Er ist überrascht, zwei Leute mit einem Baby in dem Raum zu sehen, den er sich mit dem Kollegen, der uns hergebracht hat, teilt. Aber er fragt nicht etwa: „Wie kommen Sie dazu, in meinem Büro ein Baby zu wickeln?“ Er entschuldigt sich für die Störung und schließt leise die Tür. Heike kümmert sich um ihr Baby mit derselben Sorgfalt, mit der im Keller die vom Zerfall bedrohten Blätter behandelt werden. Dort geht es gegen das Vergehen, hier noch ums Werden, denke ich.
National-Bibliothek ist ein Wort, das mir nicht gefällt, so wenig wie National-Sprache. Die jungen souveränen Staaten Europas bauen solche großen Gebäude und sammeln dort Bücher in ihren Sprachen. Das gibt ihnen Identität. In Tallinn etwa habe ich das auch gesehen. Aber dort ist ein Drittel der Bevölkerung russisch, die Bestände der Bibliothek zu einem Teil deutschsprachig, wie auch Kroatien eine bedeutende Sammlung (nicht national, sondern sprachlich) deutscher Bücher besitzt. Da weichen die Grenzen auf, der Kulturraum ist selten ein den Staatsgebieten entsprechender, schon gar nicht in seinen historischen Dimensionen. Eine Literatur, die sich um Wahrheit bemüht, kann doch nicht der Bestätigung von Grenzen dienen, denke ich. Die Wertschätzung, die Bücher als Teil einer kulturellen Identität (noch?) erfahren, finde ich dagegen positiv. Wer die buchrestaurierenden Menschen mit ihrer ganzen Sorgfalt im Millimeterbereich hat arbeiten sehen, vergisst gern sofort jedes feuilletonistische Krisengerede.
Wir stoßen wieder zur Gruppe, die Führung hat sich durch das Gebäude immer höher geschraubt und ist nun fast zu Ende. Durch einen Lesesaal betreten wir eine Mensa. Hier öffnet sich das Gebäude für die Landschaft. Der Ausblick auf die Berge, zu deren Füßen die Stadt liegt, ist märchenschön, das Essen, das uns serviert wird, wie immer märchengut.
# Autobahn # In seiner Form wirkt Kroatien wie Daumen und abgespreizter Zeigefinger einer Hand. Durch den nördlichen Teil in Richtung Osten, in Richtung Serbien und Ungarn führt eine nagelneue Autobahn. Wir fahren von Zagreb nach Osijek nicht ganz drei Stunden. Die Fahrbahn ist so eben wie die Landschaft, durch die sie führt. Linkerhand sind Hügel zu sehen, im Ganzen sehr viel Grün. Die Straße ist so leer wie eine BAB an einem Sonntag in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Ich kann das sagen, ich war damals schon unterwegs, auch wenn ich mich nicht erinnere. Vielleicht vertreibt die Maut manchen Fahrer von der Fernstraße. Aber es sind auch wenige Lastwagen unterwegs. Bei mir kommt etwas wie ein Pioniergefühl auf: Zuerst wird eine Straße gebaut, dann folgen die Siedler. Als wir in Osijek aus dem Auto steigen, sind sie aber schon dagewesen.
Kroatien scheint auf die Zukunft zu hoffen, auf Fortschritt und Wachstum. Und es ist im Unterschied zur alten Bundesrepublik kein volles Land. Auf dem Rückweg, spät am Abend, halten wir an einer Raststätte. Wir würden für den weiten Weg gern Bier einkaufen, doch der Mann im Verkaufsraum der Tankstelle bedauert: Er macht gerade seinen Laden zu. Erst kurz vor Zagreb wird der Verkehr etwas dichter.
# Drau # Osijek, unser zweites Reiseziel, liegt an der aus Österreich kommenden, in später in die Donau mündenden Drau. Wir gehen tiefer. Eine Denkmalpflegerin erzählt uns die Geschichte der Stadt. Schon zur Römerzeit war sie ein wichtiger Standort, Handelsniederlassung und Brücke über die Drau. Im 16. Jahrhundert kamen die Türken, die 180 Jahre blieben. Sie bauten ebenfalls eine Brücke und 50 Moscheen für ihre Soldaten und deren Familien. Sie zwangen die kroatische Bevölkerung nicht, sich zum Islam zu bekehren. Prinz Eugen, der Edle mit dem Splitter aus dem bekannten Lied, schlug sie in die Flucht. In der nachtürkischen Zeit gab es in der Unterstadt ein jüdisches und ein serbisches Ghetto.
# Wein & Bier # Das einzige Bier, das ich zwischen lauter Weinen probiere, kommt aus Vukovar. Es schmeckt ein bisschen süßlich und ist sehr erfrischend. Der Urgroßvater der Denkmalpflegerin kam „somewhere from Bavaria“, but she is zu hundert Prozent kroatisch. Er war Brauer und baute hier sein Unternehmen auf. Ludwig Bauer, auch ein kroatischer Autor, der uns begleitet, stammt aus einer Brauerfamilie. Die Kroaten bauen auch viel Wein an. Die besten Jahrgänge aus einer bestimmten Gegend, so wurde mir beim Wein anvertraut, seien die Kriegsjahrgänge, weil es zu der Zeit keinen Zucker gab.
# Fremdsprachen # Bei einem Mittagessen beschreibt eine unserer zuvorkommenden Begleiterinnen aus dem Ministerium den Fisch, den wir essen, als Seefisch. „Meeresfisch“ verdeutlicht die andere Frau, die offenbar an die Zweideutigkeit des Wortes „See“ im Deutschen denkt. Dass solche Feinheiten thematisiert werden, zeigt das sehr hohe Niveau, auf dem hier fremde Sprachen gesprochen werden. Das Deutsch und das Englisch, das wir zu hören bekommen, ist fast immer – sogar grammatikalisch – sehr gut. Wieder fällt mir mein Kollege Zoran Ferić ein, in dessen neuem Roman ein Deutscher seinen kroatischen Freund anruft und auf Kroatisch radebrecht. Das auf Deutsch zu lesen, ist schon lustig. Ich stelle mir vor, dass es in der Originalsprache noch lustiger sein muss. Ich bedaure, nicht eine einzige slawische Sprache zu beherrschen.
# Deutsch # In der Gegend von Osijek siedelten die kroatischen Donauschwaben, bis sie nach der Nazizeit flohen oder vertrieben wurden. Die blieben, slawisierten ihre Namen und assimilierten sich. Ivana Šojat Kuči, die in Osijek mit dabei ist, hat darüber geschrieben. Ihr Buch mit dem Originaltitel „Unterstadt“, ist leider noch nicht ins Deutsche übersetzt. Es sei nie über das Unrecht gesprochen worden, sagt sie, das sei falsch. Fehlende Aufarbeitung von Gewalt ist fast überall in Europa ein Problem. Dies hier sind alte Geschichten, die Untaten der Nazis, die Vertreibungen ab 1944. In Osijek und noch mehr im nahen Vukovar hat sich ein weit jüngerer Machthunger durch Häuser und Menschen gefressen.
# Schrift # In der Kathedrale Zagrebs gibt es eine Wand, auf der eine Reihe fremdartiger, zum Teil an Bilder erinnernder Zeichen angebracht sind. So dicht steht neben dem Vertrauten – eine katholische Kathedrale – das Fremde. Es handelt sich um die Glagolizia, eine erste Schrift für die slawischen Sprachen aus dem 9. Jahrhundert. In Teilen Kroatiens soll sie bis ins 19. Jahrhundert verwendet worden sein.
# Krieg # Virulent, ja gegenwärtig, ist der serbisch-kroatische Krieg. Wir fahren in die seinerzeit umkämpfte Stadt Vukovar, besuchen ein Mahnmal für ermordete Kroaten und einen Friedhof, in dem eine Menge Grabsteine alle dieselbe Jahreszahl 1991 zeigen, eine Menge Gräber noch leer sind, weil man die Toten bis heute nie fand. In Vukovar besichtigen wir ein Franziskaner-Kloster, das mehr oder weniger eine Replik ist, und stehen auf der Dachterrasse eines Schlosses, das zerstört war. Wir sehen den die Stadt überragenden zerschossenen Wasserturm, der dasteht wie eine ausgelöschte Fackel. Wir werden eingeladen, einen kurzen Film über den Krieg anzuschauen, der mir mit seiner emotionalisierenden Musik und seinen suggestiven Bildern suspekt bleibt. Wir sitzen an der wunderschönen Donau und können kaum glauben, dass die Inseln im Fluss teilweise immer noch Sperrgebiet sind. Wir haben eine Stadt im Rücken, von der wir wissen, dass die Menschen in ihr sich bekriegt haben und nicht miteinander versöhnt sind. Das ist für uns Fremde so unmittelbar nicht spürbar. Aber das Ostenative der zerstörten Bauten, der Denkmäler und Gräber beweist, dass hier etwas nicht im Gleichgewicht ist.
# Halbe Strecke # Der jetzige serbische Präsident Nikolić träumt weiter von einem größeren Serbien, auch wenn, wie er sagt, dieser Traum nicht zu realisieren sei. So lange die jungen Staaten, die das ehemalige Jugoslawien hervorgebracht hat, sich nicht vorbehaltlos als souveräne, zu Recht existierende Territorien sehen können, ist die Trennung auf halber Strecke stehen geblieben. Für die zweite Hälfte bräuchte es Versöhnung. Diese wünsche ich dem sympathischen Kroatien mit seinen Nachbarn.
[Kroatien-Austausch]: Über Vergehen und Werden>
# Korrekturen # Es gibt gefühlte und vermessene Landschaften. In meiner gefühlten Geografie lag Zagreb, die kroatische Hauptstadt, etwa 900 Kilometer von München entfernt, so weit wie Rom. Die kurze Flugzeit machte mich stutzig. In Wahrheit sind es also nur 550 Kilometer, das entspricht nicht mal ganz der Entfernung von München bis zu meinem Elternhaus bei Köln.
Genauso wie mein Distanzempfinden musste ich meine Vorstellung von der kroatischen Landschaft korrigieren. Sie war geprägt von Bildern der adriatischen Küste, den alten Winnetou-Filmen. Kurz gesagt: Felsen, Büsche, Wasser. Grau, grün, blau. Ein märchenhaftes Blau. Was ich nach einem Flug durch die Wolken – mit einer Propeller-Maschine, die nicht bis in die immersonnige Höhe stieg – als erstes vom Land sah, unterschied sich nicht nennenswert von dem Bild, das sich mir bei einem Inlandsflug hätte zeigen können. Eine flache Landschaft mit Feldern, Straßen, kleinen Dörfern. Kein Süd-Bonus auf der Gangway, der Wind blies kühl durch unsere Jacken. Eine weitere Korrektur: Kroatien ist nicht das Land mit dem (ausschließlich) mediterranen Klima.
Auf dem Weg nach Zagreb Teile noch nicht zu Ende gebauter Straßen, im amerikanischen Stil aufgeständerte Trassen, Tangenten, die ein paar Meter über dem Erdboden abbrachen. Ein Land im Stillstand oder im Aufbruch? Vorbei an Novi-Zagreb, der sozialistischen Stadtidee, die im alten Ostblock (Jugoslawien gehörte gefühlt dazu) ebenso vereinheitlichend wirkt wie die k. u. k. österreichische Architektur im alten Mitteleuropa. Die war das nächste: Zagreb eine Stadt, die gleich vertraut wirkte – ein bisschen mitteldeutsch auch mit den vielen nach wie vor unsanierten Fassaden. Die nächste Korrektur: Zagreb ist eine Hauptstadt, aber es ist nicht sehr groß. Als die erste blaue Tram passierte, sah es für den Münchner noch weniger fremd aus.
# Begegnungen # Erst einmal tauschten wir Euro in Kuna. Der Kurs lag in der Größenordnung von 7,5 Kuna je Euro, wieder ein, wenn auch Zeitgeschichte gewordenes, Österreichgefühl. Sieben Schilling waren mal eine Mark. Im Hotel sollten wir als Kaution für die Minibar 400 Kuna hinterlegen. Dieses Verfahren immerhin schien mir exotisch. Wir saßen zusammen in der Lobby, sechs bayerische Autorinnen und Autoren, unsere Organisatorin Verena Nolte, und ein Baby. Mindestens die Hälfte von uns waren und sind Zugereiste, Wahl-, Ex-, Noch-, Teil- und Wiederbayern. Und wie es sich für ein kleines Land gehört (Bayern immerhin mit 12.5 Millionen Einwohner auf 75000 km2, Kroatien mit 4,5 Millionen auf 55000 km2) kannten wir uns bereits zum größeren Teil. Vorausgefühlt waren wir eine gute Truppe, die drei Tage, die wir zusammen verbrachten, bestätigten das.
Die Laune war gut und die Zeit knapp. Das sollte sich im Verlauf der Reise kaum ändern.
Ana Brnardic, die Lyrikerin, Vertreterin des gerade zehn Jahre alten kroatischen Schriftstellerverbandes und unsere gute Fee und Begleiterin, hatte uns bereits am Flughafen abgeholt, zusammen mit zwei Fahrern, die uns per Kleinbus zu jeder Zeit an jeden Ort zu bringen bereit waren. (Im Auto hat sich übrigens ein signifikantes Gefühl von Fremdheit – endlich! – eingestellt, weil unser Fahrer bei gelben Ampeln grundsätzlich Gas gab.) Frischmachen im Hotelzimmer, durch das nicht zu öffnende Fenster auf die Straße schauen, blaue Tram und unsanierte Jugendstilfassaden sehen, auf zum Mittagessen. Es schmeckte vertraut, deftiger Schweinebraten mit Kartoffeln. Beim Essen lernten wir uns kennen: Boris Perić, der einen weichen, für meine Ohren beinah wienerischen Akzent pflegte, erzählte mir von hundert Eichhörnchen einer chilenischen Art, die er sein eigen nannte (am Anfang waren es zwei gewesen) und von denen er eines zum Tierarzt gebracht hatte, weil es vom Becken hinterwärts gelähmt war. Hundert Eichhörnchen, um die er sich kümmern musste! So weit hatte er es kommen lassen, jetzt aber war die Bande insgesamt kastriert. Wir haben zu Hause drei Meerschweinchen und ich habe mich persönlich darum bemüht, nur Weibchen einzukaufen. Drei Stück sind mir genug, für jedes Kind eines, und ab da verwirrt sich dieser Gedanke, wenn ich ihn wieder zu unserem Übersetzer und seinen Eichhörnchen zurückdenke.
# Zagreb # Die kroatische Hauptstadt ist aus zwei Städten zusammengefügt worden, Kaptol, der Klerus-Stadt, und Gradec. Sie liegt an der Save, die im Stadtbild kaum präsent ist. Zagreb ist keine Stadt „an der ...“ wie Wien oder Budapest. Bis heute hat es etwas Unorganisches, dem europäischen Typus der um Kirche und Markt oder Flusslände gewachsenen Stadt in der Gesamtstruktur Unähnliches. Die Zergliederung mit zwei alten Kernstädten, der Unterstadt und Novi Zagreb macht vielleicht, dass es klein auf mich wirkt. Die Lage vor einem Höhenzug ist überaus reizvoll.
Von der Zagreber Kathedrale gehen wir, Heike mit Fedor und ich, an unserem freien Samstagvormittag hügelan. Der Park-Friedhof Mirogoj, oberhalb der Stadt gelegen, soll besonders hübsch sein. Doch der Weg wird uns zu lang, wir kehren um, schlendern eine langgezogene Straße hinab, zu deren Seiten lang nicht angestrichene Häuser stehen, linkerhand an einer Böschung alte, unsanierte Villen. Hier ist das normale Leben zu spüren, bilde ich mir ein. Es gibt außer uns keine Touristen, keinen Fiaker, nur die Tram und natürlich Autos. Eine Art Wochenendruhe liegt schon über der Gegend, die Ruhe der Provinz, wie sie auch in Münchner Wohnvierteln häufig spürbar ist.
Unten in der k. u. k. geprägten Unterstadt wirkt alles geschäftiger, es gibt mehr Verkehr, dort liegt auch der Bahnhof. Viele schöne Jugendstilhäuser sind unsaniert. Ein deutscher Diplomat, der unsere Lesung besuchte, hat erzählt, dass es bei der Privatisierung sehr hastig zugegangen sei. Viele der neuen Hausbesitzer hätten kein Geld für eine Sanierung oder spekulierten, dass sie ihre Häuser ohne Investition doch mit großem Gewinn verkaufen könnten. Darunter leide die alte Bausubstanz. Das leicht Verfallene bringt andererseits einen Hauch von Geschichtlichkeit in die Stadt, die so vor der Musealität bewahrt wird.
Die wenigen Kilometer, die ich in Zagrebs Straßen zurücklege, befriedigen meine Neugier nicht. Es bleibt eine zu entdeckende Stadt. Eine Merkwürdigkeit ist der österreichische Name „Agram“ für Zagreb. Im Unterschied zu so vielen wie Brünn, Pressburg oder Laibach, hat keiner von uns ihn je gehört. Er steht aber auf dem Flugticket.
# Essen # Speisen bedeuten uns Heimat. Der Gaumen spürt ideologiefrei, was ihm vertraut ist und was nicht. Unser Essen in diesen drei Tagen, und wir haben häufig und manchmal viel gegessen, war von einer ähnlich mitteleuropäischen Prägung wie die ältere Architektur. Es gab viel Fisch, das war vielleicht das Ungewöhnlichste. Und ein leicht süßes Brot aus Maismehl. Außer Fisch, ein katholisches Soll für den Freitag, gab es reichlich Fleisch. Am Köstlichsten schmeckte ein Gulasch mit einer Art selbstgemachten dicken Nudeln aus Weißmehl in saurem Rahm, pro Portion geschätzt 2000 Kalorien. Und immerzu, also zu den Mahlzeiten, tranken wir Wein, der weiße typischerweise eher süß, es gab aber auch trockenen, der rote trocken und solide. Nudeln werden nicht in der Suppe, sondern extra gekocht. Erst bei Tisch mischt man beides.Ich fragte Ana, ob sie in Kroatien immer so äßen (immer hätte bedeutet: zweimal am Tag warm mit drei bis vier Gängen, dazu Wein und Kaffee, zum Aperitif häufig Schnäpse). Leider sagte sie nein. Vielleicht auch zum Glück, denn bei solchem Essen wird einer leicht zur luftbremse.
# Lehnwörter # Die Österreicher haben Spuren in der kroatischen Sprache hinterlassen. Jemand, der die Arbeit scheut, wird luftinspektor, auch luftbremse genannt. Hähnchenstücke to go: lufthansa. (Diese individuelle Auskunft, die bei uns große Heiterkeit bewirkte, ist von anderer Seite nicht bestätigt worden. Sie ist nüchtern betrachtet auch fragwürdig, da die Lufthansa kein genuin österreichisches und schon gar kein k. u. k. Unternehmen darstellt. Oder sollte es neuerdings wieder eine Durchlässigkeit für andere als englische Wörter in europäische Sprachen geben?) Englisch war meistens unsere Verkehrsprache in diesen Tagen.
# Mehr Begegnungen # Zoran Ferić moderierte bei der moderat besuchten Lesung in Zagreb meinen Beitrag. Ich hatte bereits einen seiner Romane, Die Kinder von Patras, mit großem Vergnügen auf Deutsch gelesen. Auch den Anfang seines neuen Romans, der im Herbst bei folio unter dem Titel Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr erscheint, konnte ich schon lesen. Darin versucht ein frisch gebackener Rentner, einen Kellner, der ihm kein Wechselgeld rausgegeben hat, zu düpieren, in dem er denselben Kaffee noch einmal zahlt. Bei unserer Lesung fand ich in Zoran Ferić einen überaus gewitzten und professionellen Gesprächspartner. In Osijek waren wir beim lokalen Radio eingeladen. Auf dem Flur des Senders sah ich, wie Ivana Šojat Kuči Edo Popović so frech wie dem Anschein nach freundlich die Zunge rausstreckte. Diese Art von Lebendigkeit ist unter deutschen Autoren leider selten.
Trotz der ausgedehnten Abendessen und trotz der Stunden, die wir in Osijek und Vukovar und vor allem im Bus zusammen verbrachten, war die Zeit zum Kennenlernen so vieler neuer Kollegen zu kurz. Es bleibt also Neugier.
# Vampire # Boris Perić, der Mann mit den hundert Eichhörnchen, erzählt mir vom alten kroatischen Vampirglauben. Der Krainer Historiker Valvasor hat ausgangs des 17. Jahrhunderts offenbar als erster Vampirismus in einem Sachtext beschrieben. „Das Land- und Bauers-Volck in Isterreich [Istrien] glaubt ... es gebe gewisse Zaubrer und Hexenmeister, welche den Kindern das Blut aussaugen. Einen solchen Blut-Aussauger nennen sie Strigon, imgleichen auch Vedarèz. Wann nun solcher Strigoneinmal verreckt; so halten sie dafür, er gehe gegen Mitternacht im Dorff herum, klopffe und schlage an die Häuser; und aus selbigem Hause, da er angeklopfft, werde in den Tagen Einer sterben ... Also seynd sie der gäntzlichen Meynung, es werde ihnen diß Gespenst keine Ruhe lassen, bevor sie ihm einen Pfahl von Dorn-Holtz durch den Leib schlagen.“ Der verstorbene Bauer Jure Grando aus dem istrischen Dorf Kringa wird durch Valavsor zum ersten namentlich erwähnten Vampir der Welt. Boris Perić hat für einen Film über Vampirismus in Istrien recherchiert. Es sei nicht leicht gewesen, die Leute zum Reden zu bringen, erzählt er mir. Die Alten hätten immer noch Angst vor der Wiederkehr solcher unangenehmen Toten.
# Literaturland # Kroatien. Etwa ein Viertel der Bevölkerung liest mehr als ein Buch pro Jahr. Ein Buch mit einer Tausender-Auflage ist schon ein Bestseller. Die Kroaten können ihre Literatur nicht nach Serbien verkaufen. Die Sprachen seien praktisch gleich, aber der Handel sei schwierig, denn man wisse nicht, ob nach Serbien gelieferte Bücher auch bezahlt würden. All das aus einem erinnerten Gespräch und völlig unverbürgt.
# Nationalbibliothek # Mitten in unserer Führung muss Fedor, das Baby unter den Autoren, gewickelt werden. Da es an einem speziellen Raum mangelt, führt uns ein Mitarbeiter der Nationalbibliothek kurzerhand in sein Büro. (Wir gehen nicht alle mit, nur ich begleite Heike Geißler, die Mutter, um zu assistieren.) Unser Begleiter schließt die Tür auf und lässt uns allein. Er wird uns später zur Gruppe zurückführen. Während Heike wickelt, rekapituliere ich – was soll man beim Wickeln auch groß assistieren. Die Nationalbibliothek in der heutigen Gestalt ist jung, ein Bau aus dem späten 20. Jahrhundert. Sie hat Platz für zehn Millionen Bücher bzw. Medien, wenn ich die Zahlen richtig behalten habe. Zwei oder drei Millionen beherbergt sie bereits. Wir sind durch verschiedene Abteilungen geführt worden, durften sehr alte kroatische Bücher anschauen – das erste Buch in kroatischer Sprache wurde 1483 herausgegeben. Die Sprachbarriere bringt einem diese Bücher haptisch näher als inhaltlich. Wir dürfen die alten Ausgaben zum Teil berühren. Das ist ja etwas, was man sonst nie darf, außer man forscht. Das alte, leicht steife Papier, die fransenden Bänder zum Verschließen, die trockenen Ledereinbände sind ein taktiles Erlebnis.Es gibt auch eine alphabetische Schwelle, denn manches ist in Kyrillisch gedruckt worden. Mehrere Bücher stammen aus süddeutschen Druckereien. Im Übrigen gibt es keinerlei Rechte-Management, das einem den Zugang erschweren könnte. Wer lesen gelernt hat, ist Reader und muss keinen besitzen.
Im Keller sitzen die Restauratorinnen und arbeiten mit Skalpellen, Radierern, geheimnisvollen Lösungen an der Erhaltung dieses Kulturguts. Auch Comics gehören dazu oder Plakate von zurückliegenden Sport-Ereignissen. Aus den riesigen unterirdischen Magazinen transportiert eine kleine Bahn Kisten mit Büchern dahin, wo sie gebraucht werden. Es erinnert mich an eine Fernsehsendung aus meiner Kindheit, Lemmi und die Schmöker. Da kamen die Bücher in einem Telelift angefahren, und auf einem Tuch, das jemand aus einem der Wagen hochzog, erschienen gefilmte Figuren aus den Büchern, die den Kindern vorgestellt wurden. Solche Tücher scheint es heute nicht mehr zu geben, jedenfalls sind sie nicht Teil des Konzepts der kroatischen Nationalbibliothek.
Ich habe schon vergessen, dass ich in irgendeinem fremden Büro sitze, als die Tür aufgeht und ein Mann die Nase hereinsteckt. Er ist überrascht, zwei Leute mit einem Baby in dem Raum zu sehen, den er sich mit dem Kollegen, der uns hergebracht hat, teilt. Aber er fragt nicht etwa: „Wie kommen Sie dazu, in meinem Büro ein Baby zu wickeln?“ Er entschuldigt sich für die Störung und schließt leise die Tür. Heike kümmert sich um ihr Baby mit derselben Sorgfalt, mit der im Keller die vom Zerfall bedrohten Blätter behandelt werden. Dort geht es gegen das Vergehen, hier noch ums Werden, denke ich.
National-Bibliothek ist ein Wort, das mir nicht gefällt, so wenig wie National-Sprache. Die jungen souveränen Staaten Europas bauen solche großen Gebäude und sammeln dort Bücher in ihren Sprachen. Das gibt ihnen Identität. In Tallinn etwa habe ich das auch gesehen. Aber dort ist ein Drittel der Bevölkerung russisch, die Bestände der Bibliothek zu einem Teil deutschsprachig, wie auch Kroatien eine bedeutende Sammlung (nicht national, sondern sprachlich) deutscher Bücher besitzt. Da weichen die Grenzen auf, der Kulturraum ist selten ein den Staatsgebieten entsprechender, schon gar nicht in seinen historischen Dimensionen. Eine Literatur, die sich um Wahrheit bemüht, kann doch nicht der Bestätigung von Grenzen dienen, denke ich. Die Wertschätzung, die Bücher als Teil einer kulturellen Identität (noch?) erfahren, finde ich dagegen positiv. Wer die buchrestaurierenden Menschen mit ihrer ganzen Sorgfalt im Millimeterbereich hat arbeiten sehen, vergisst gern sofort jedes feuilletonistische Krisengerede.
Wir stoßen wieder zur Gruppe, die Führung hat sich durch das Gebäude immer höher geschraubt und ist nun fast zu Ende. Durch einen Lesesaal betreten wir eine Mensa. Hier öffnet sich das Gebäude für die Landschaft. Der Ausblick auf die Berge, zu deren Füßen die Stadt liegt, ist märchenschön, das Essen, das uns serviert wird, wie immer märchengut.
# Autobahn # In seiner Form wirkt Kroatien wie Daumen und abgespreizter Zeigefinger einer Hand. Durch den nördlichen Teil in Richtung Osten, in Richtung Serbien und Ungarn führt eine nagelneue Autobahn. Wir fahren von Zagreb nach Osijek nicht ganz drei Stunden. Die Fahrbahn ist so eben wie die Landschaft, durch die sie führt. Linkerhand sind Hügel zu sehen, im Ganzen sehr viel Grün. Die Straße ist so leer wie eine BAB an einem Sonntag in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Ich kann das sagen, ich war damals schon unterwegs, auch wenn ich mich nicht erinnere. Vielleicht vertreibt die Maut manchen Fahrer von der Fernstraße. Aber es sind auch wenige Lastwagen unterwegs. Bei mir kommt etwas wie ein Pioniergefühl auf: Zuerst wird eine Straße gebaut, dann folgen die Siedler. Als wir in Osijek aus dem Auto steigen, sind sie aber schon dagewesen.
Kroatien scheint auf die Zukunft zu hoffen, auf Fortschritt und Wachstum. Und es ist im Unterschied zur alten Bundesrepublik kein volles Land. Auf dem Rückweg, spät am Abend, halten wir an einer Raststätte. Wir würden für den weiten Weg gern Bier einkaufen, doch der Mann im Verkaufsraum der Tankstelle bedauert: Er macht gerade seinen Laden zu. Erst kurz vor Zagreb wird der Verkehr etwas dichter.
# Drau # Osijek, unser zweites Reiseziel, liegt an der aus Österreich kommenden, in später in die Donau mündenden Drau. Wir gehen tiefer. Eine Denkmalpflegerin erzählt uns die Geschichte der Stadt. Schon zur Römerzeit war sie ein wichtiger Standort, Handelsniederlassung und Brücke über die Drau. Im 16. Jahrhundert kamen die Türken, die 180 Jahre blieben. Sie bauten ebenfalls eine Brücke und 50 Moscheen für ihre Soldaten und deren Familien. Sie zwangen die kroatische Bevölkerung nicht, sich zum Islam zu bekehren. Prinz Eugen, der Edle mit dem Splitter aus dem bekannten Lied, schlug sie in die Flucht. In der nachtürkischen Zeit gab es in der Unterstadt ein jüdisches und ein serbisches Ghetto.
# Wein & Bier # Das einzige Bier, das ich zwischen lauter Weinen probiere, kommt aus Vukovar. Es schmeckt ein bisschen süßlich und ist sehr erfrischend. Der Urgroßvater der Denkmalpflegerin kam „somewhere from Bavaria“, but she is zu hundert Prozent kroatisch. Er war Brauer und baute hier sein Unternehmen auf. Ludwig Bauer, auch ein kroatischer Autor, der uns begleitet, stammt aus einer Brauerfamilie. Die Kroaten bauen auch viel Wein an. Die besten Jahrgänge aus einer bestimmten Gegend, so wurde mir beim Wein anvertraut, seien die Kriegsjahrgänge, weil es zu der Zeit keinen Zucker gab.
# Fremdsprachen # Bei einem Mittagessen beschreibt eine unserer zuvorkommenden Begleiterinnen aus dem Ministerium den Fisch, den wir essen, als Seefisch. „Meeresfisch“ verdeutlicht die andere Frau, die offenbar an die Zweideutigkeit des Wortes „See“ im Deutschen denkt. Dass solche Feinheiten thematisiert werden, zeigt das sehr hohe Niveau, auf dem hier fremde Sprachen gesprochen werden. Das Deutsch und das Englisch, das wir zu hören bekommen, ist fast immer – sogar grammatikalisch – sehr gut. Wieder fällt mir mein Kollege Zoran Ferić ein, in dessen neuem Roman ein Deutscher seinen kroatischen Freund anruft und auf Kroatisch radebrecht. Das auf Deutsch zu lesen, ist schon lustig. Ich stelle mir vor, dass es in der Originalsprache noch lustiger sein muss. Ich bedaure, nicht eine einzige slawische Sprache zu beherrschen.
# Deutsch # In der Gegend von Osijek siedelten die kroatischen Donauschwaben, bis sie nach der Nazizeit flohen oder vertrieben wurden. Die blieben, slawisierten ihre Namen und assimilierten sich. Ivana Šojat Kuči, die in Osijek mit dabei ist, hat darüber geschrieben. Ihr Buch mit dem Originaltitel „Unterstadt“, ist leider noch nicht ins Deutsche übersetzt. Es sei nie über das Unrecht gesprochen worden, sagt sie, das sei falsch. Fehlende Aufarbeitung von Gewalt ist fast überall in Europa ein Problem. Dies hier sind alte Geschichten, die Untaten der Nazis, die Vertreibungen ab 1944. In Osijek und noch mehr im nahen Vukovar hat sich ein weit jüngerer Machthunger durch Häuser und Menschen gefressen.
# Schrift # In der Kathedrale Zagrebs gibt es eine Wand, auf der eine Reihe fremdartiger, zum Teil an Bilder erinnernder Zeichen angebracht sind. So dicht steht neben dem Vertrauten – eine katholische Kathedrale – das Fremde. Es handelt sich um die Glagolizia, eine erste Schrift für die slawischen Sprachen aus dem 9. Jahrhundert. In Teilen Kroatiens soll sie bis ins 19. Jahrhundert verwendet worden sein.
# Krieg # Virulent, ja gegenwärtig, ist der serbisch-kroatische Krieg. Wir fahren in die seinerzeit umkämpfte Stadt Vukovar, besuchen ein Mahnmal für ermordete Kroaten und einen Friedhof, in dem eine Menge Grabsteine alle dieselbe Jahreszahl 1991 zeigen, eine Menge Gräber noch leer sind, weil man die Toten bis heute nie fand. In Vukovar besichtigen wir ein Franziskaner-Kloster, das mehr oder weniger eine Replik ist, und stehen auf der Dachterrasse eines Schlosses, das zerstört war. Wir sehen den die Stadt überragenden zerschossenen Wasserturm, der dasteht wie eine ausgelöschte Fackel. Wir werden eingeladen, einen kurzen Film über den Krieg anzuschauen, der mir mit seiner emotionalisierenden Musik und seinen suggestiven Bildern suspekt bleibt. Wir sitzen an der wunderschönen Donau und können kaum glauben, dass die Inseln im Fluss teilweise immer noch Sperrgebiet sind. Wir haben eine Stadt im Rücken, von der wir wissen, dass die Menschen in ihr sich bekriegt haben und nicht miteinander versöhnt sind. Das ist für uns Fremde so unmittelbar nicht spürbar. Aber das Ostenative der zerstörten Bauten, der Denkmäler und Gräber beweist, dass hier etwas nicht im Gleichgewicht ist.
# Halbe Strecke # Der jetzige serbische Präsident Nikolić träumt weiter von einem größeren Serbien, auch wenn, wie er sagt, dieser Traum nicht zu realisieren sei. So lange die jungen Staaten, die das ehemalige Jugoslawien hervorgebracht hat, sich nicht vorbehaltlos als souveräne, zu Recht existierende Territorien sehen können, ist die Trennung auf halber Strecke stehen geblieben. Für die zweite Hälfte bräuchte es Versöhnung. Diese wünsche ich dem sympathischen Kroatien mit seinen Nachbarn.