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Ein Abend in Lauf: Wilhelm Genazino stellt sein neues Buch vor

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Am Anfang wollte er „nichts weiter Inhaltliches vorschicken“ oder über den Roman sagen; es kommt, wie Wilhelm Genazino genau weiß, „eigentlich alles von selber“. So auch bei der Lesung in der Aula der Bertleinschule anlässlich der 19. Laufer Literaturtage: Bei Regen im Saal war nicht nur das aktuelle Buch, aus dem der aus Mannheim stammende und in Frankfurt am Main lebende Schriftsteller und Büchner-Preisträger vorlas. „Bei Regen im Saal“ konnten die rund 300 Zuhörerinnen und Zuhörer den ungemütlich nasskalten Abend auch mit einer eindrucksvollen Darbietung Genazinos zubringen.

Es kam also, wie es kommen musste. Diesmal war es nicht Gerhard Warlich – eine andere Romanfigur Genazinos aus Das Glück in glücksfernen Zeiten –, dessen Kinderwunsch seiner Partnerin eine Beziehungskrise auslöst, nein, diesmal war es ein promovierter Philosoph namens Reinhard, der beruflich zwischen Barkeeper und Provinzblattredakteur schwankt und dessen Trennung von seiner Freundin Sonja ihn vollends zum „unansehnlichen Sehnsuchtsklumpen“ macht.

Dass Geschehnisse bei ihm eintreten, kann man bei der Eigenart des Protagonisten und der Unabgeschlossenheit seiner Erlebnisse eigentlich nicht erwarten. Nicht umsonst hält ihm seine Freundin vor, nichts aus seinem Leben zu machen: „Du versäumst dein Leben, du drückst dich von Tag zu Tag ...“ (Bei Regen im Saal, S. 44) Aber die Art von „Konfektionserlebnissen“, die Reinhard bei anderen Menschen zu „überwinden“ hilft, sind seine Erfahrungen auch nicht wirklich, zumal er durch sie immer wieder zu sonst verborgenen Einsichten vorstoßen kann: „Von Konfektionserlebnis spricht man, sagte ich, wenn alles, was passiert, bis in kleinste Detail präpariert ist.“ (S. 47)

 

Beate Hafer-Drescher stellt Wilhelm Genazino vor © Literaturportal Bayern

So nimmt es nicht Wunder, wenn er zum Friseur geht, „weil Sonja es wünschte“, er aber keine Lust dazu hat und sich lieber über die Friseuse an seine Mutter erinnert: „Wenn ich den Friseursalon verließ, war ich vor lauter Erinnerung manchmal schon so schwach gewesen, dass ich mir fest vornahm, diesen Salon nicht mehr zu betreten. Es war auch das Gegenteil möglich; dann nahm ich mir vor, mit der Friseuse anzubandeln, was sie meiner Einschätzung nach schon länger erwartete.“ (S. 43) Oder er sieht durch die Flecken auf seinem Hemd, das Sonja ihm zu wechseln aufträgt, „Verbindungslinien zu [s]einer Kindheit“ und debattiert mit ihr über die „Genese von Essensflecken“, was allerdings schiefläuft (S. 53).

Es sind diese und ähnliche Details, die bei Genazino immer wieder zum Schmunzeln anregen und dabei zu höchsten Einsichten über das Leben im Allgemeinen wie auch im Besonderen führen. Lebensklug und fast schon aphoristisch möchte man diese Erzählhaltung nennen: „Einsam ist man nicht, weil sich niemand mehr um einen kümmert, sondern weil man sich plötzlich wieder derer erinnert, von denen man sich innerlich verabschiedet hatte.“ (S. 58) „Die Universität ist ein einziger großer Wartesaal, in dem man dann doch nicht aufgerufen wird, sagte er.“ (S. 67) „Die Koffer sahen aus wie die ersten Zeichen einer geplanten Flucht, die jedoch nie stattfand.“ (S. 70)

Das Verharren in der Beobachtung, die „innige Erkrankung des beinahe endlosen Vor-sich-Hinschauens“, woran der Protagonist allenfalls leidet (S. 60), ist auch „ein Glück“, wie Genazino am Ende seiner Lesung deutlich machte. Das beginnt allgemein schon in der Kindheit mit der Entdeckung, dass es verschiedene Tiere gibt, und mündet in der Entdeckung, wie sie nur Menschen machen, dass es so etwas wie abnehmendes Glück gibt. Indem der Protagonist Reinhard alles an Beobachtungsmaterial ausbeutet, was ihm in die Finger, oder besser gesagt: in die Augen fällt, erfährt er sein Leben nicht nur als Selbstunterhaltung, sondern auch als zeitweiligen Glückszustand.

Und Genazino ging noch weiter: Dass der normale Mensch morgens die Augen öffnen kann und sieht, wie die Sonne aufgeht – allein diese unglaubliche Verwandlung der Welt, die man nur mit seinem Auge sieht, ohne etwas darüber zu wissen, kann ebenfalls ein solches „Glück“ sein.

 

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Ausschnitt der Lesung (mit freundlicher Genehmigung des Autors):