34. Erlanger Poetenfest: Revue der Neuerscheinungen – Karen Köhler
Wieder einmal war es ein Stelldichein ausgewählter Autorinnen und Autoren, wieder einmal konnte man erfahren, wie unterschiedlich, individuell und hochkarätig deutschsprachige Literatur sein kann, wenn man sie in Erlangen erlebt. Mit „Die Gier nach Leben und andere Illusionen“ war denn auch die Revue der Neuerscheinungen beim diesjährigen 34. Erlanger Poetenfest überschrieben. Die Revue ist – wie so viele andere Reihen des Festivals – eine feste Instanz des Poetenfests – jährlich werden immer die neuesten Lesepremieren, aber auch Werke der vergangenen Monate von den Schriftstellerinnen und Schriftstellern selbst auf der großen Lesebühne vorgetragen, und damit den Poeten und ihren Lesern ein Forum geboten, das zur unmittelbaren Begegnung und zum intensiven Gespräch einlädt.
Bei der beliebten Revue der Neuerscheinungen lasen am Samstag unter freiem Himmel Ulrike Draesner, Maruan Paschen, Peter Wawerzinek, Michael Kleeberg, Karen Köhler, Reto Hänny, Lutz Seiler, Silke Scheuermann, Sherko Fatah und Olga Grjasnowa. Am regnerischen Sonntag unter Dach im Redoutensaal kamen der fränkische Mundartdichter Helmut Haberkamm (für die am Rücken erkrankte, in Jena lebende Würzburgerin Kathrin Groß-Striffler), Ricarda Junge, Jan Wagner, John von Düffel, Jürgen Neffe, Lisa Kränzler, Yoko Tawada, Karin Kiwus, Tex Rubinowitz und Lukas Bärfuss zu Wort.
Unter den vielen interessanten Neupublikationen auch nur ein paar wenige herauszusuchen und vorzustellen, mag etwas willkürlich erscheinen. Doch im Falle Karen Köhlers (*1974) darf man hier getrost eine Ausnahme machen. Mit ihrem Erzählband Wir haben Raketen geangelt (Hanser, 2014) hat die Schauspielerin und Stückeschreiberin nicht nur ihr erzählerisches Debüt gegeben, sondern auch „das allergrößte Elend und die allergrößte Trauer“ (Verena Auffermann) in die Literatur eingefangen. Wobei es ihr leicht fällt, über Schweres ‚leicht‘ zu schreiben. In der Erzählung „Cowboy und Indianer“ zum Beispiel gibt es die Einsicht – nachdem einer jungen, durch Amerika reisenden Frau der Rucksack geklaut worden ist –, dass es eigentlich ein wunderbares Dasein sein kann, so gut wie nichts zu haben, in der Wüste Arizonas zu stehen und es irgendwie zu schaffen: „Ich bin ohne alles. Ich bin frei. Ich habe nur noch mich, ein Cape und eine Plastiksonnenbrille. Von mir fällt etwas ab [...].“ Mit Rückblenden in die Wildwest-Spiele der Kindheit, zu Markus, dem Cowboy aus ihrer Vergangenheit, der die Protagonistin schließlich vergewaltigt, entwickelt sich ein Roadmovie mit einem amerikanischen Ureinwohner, einem wirklichen Indianer namens „Schnee im Herbst“, der sie an einer Tankstelle aufliest und mit ihr nach Las Vegas fährt. Zwischen den beiden entspinnt sich innerhalb zweier Tage eine tiefe Freundschaft – jenseits von Sex und erneuter Demütigung, wobei es Karen Köhler gelingt, auch die Nuancen in dieser Begegnung aufzuzeigen, ohne es ‚rührend‘ werden zu lassen.
Fotos: Literaturportal Bayern
Im ersten Umschlag des Buches ist übrigens der in der Geschichte vorkommende Sternenhimmel zu sehen – den Bucheinband durfte Karen Köhler selber gestalten. Von Sternendingen ist auch die Titelgeschichte „Wir haben Raketen geangelt“ durchsetzt. Die Erzählung, die sich aus 31 Miniaturen zusammenfügt, behandelt die Verlustgeschichte einer Liebe zwischen einer Frau und einem Mann, die zu Silvester Feuerwerkskörper in leere Flaschen stecken, eine Anglersehne am Holz befestigen und die abgeschossenen Silvesterraketen an den Angeln haben.
Von Verletzungen, von Krankheiten, von Seelenpein handeln Karen Köhlers neun zwischen emotionaler Gelassenheit und Schwere schwebende Geschichten. Mit einem Motto von Frida Kahlo, „I tried to drown my sorrows, but the bastards learned how to swim“, scheint sie den neuen Trend einer „Sick Lit“ fabulös zu überspielen – Romane, in denen grausamer gelitten und gestorben wird als in jedem Ego-Shooter. Passt es dazu, dass die Autorin am diesjährigen Bachmannpreis-Wettbewerb in Klagenfurt wegen akuter Windpocken nicht teilnehmen konnte? Wohl kaum. In Karen Köhler steckt mehr als das. Zwar hat sie stilistisch ihr erzählerisches Können noch nicht ausgereizt, aber in ihrer Naturwüchsigkeit und Detailgenauigkeit beweist die Debütschreiberin einmal mehr, was es heißt, wenn man sich auf solche schwierige Themen einlässt: Das Ungeheure kann noch in der allergrößten Schwere befreiend wirken.
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Wieder einmal war es ein Stelldichein ausgewählter Autorinnen und Autoren, wieder einmal konnte man erfahren, wie unterschiedlich, individuell und hochkarätig deutschsprachige Literatur sein kann, wenn man sie in Erlangen erlebt. Mit „Die Gier nach Leben und andere Illusionen“ war denn auch die Revue der Neuerscheinungen beim diesjährigen 34. Erlanger Poetenfest überschrieben. Die Revue ist – wie so viele andere Reihen des Festivals – eine feste Instanz des Poetenfests – jährlich werden immer die neuesten Lesepremieren, aber auch Werke der vergangenen Monate von den Schriftstellerinnen und Schriftstellern selbst auf der großen Lesebühne vorgetragen, und damit den Poeten und ihren Lesern ein Forum geboten, das zur unmittelbaren Begegnung und zum intensiven Gespräch einlädt.
Bei der beliebten Revue der Neuerscheinungen lasen am Samstag unter freiem Himmel Ulrike Draesner, Maruan Paschen, Peter Wawerzinek, Michael Kleeberg, Karen Köhler, Reto Hänny, Lutz Seiler, Silke Scheuermann, Sherko Fatah und Olga Grjasnowa. Am regnerischen Sonntag unter Dach im Redoutensaal kamen der fränkische Mundartdichter Helmut Haberkamm (für die am Rücken erkrankte, in Jena lebende Würzburgerin Kathrin Groß-Striffler), Ricarda Junge, Jan Wagner, John von Düffel, Jürgen Neffe, Lisa Kränzler, Yoko Tawada, Karin Kiwus, Tex Rubinowitz und Lukas Bärfuss zu Wort.
Unter den vielen interessanten Neupublikationen auch nur ein paar wenige herauszusuchen und vorzustellen, mag etwas willkürlich erscheinen. Doch im Falle Karen Köhlers (*1974) darf man hier getrost eine Ausnahme machen. Mit ihrem Erzählband Wir haben Raketen geangelt (Hanser, 2014) hat die Schauspielerin und Stückeschreiberin nicht nur ihr erzählerisches Debüt gegeben, sondern auch „das allergrößte Elend und die allergrößte Trauer“ (Verena Auffermann) in die Literatur eingefangen. Wobei es ihr leicht fällt, über Schweres ‚leicht‘ zu schreiben. In der Erzählung „Cowboy und Indianer“ zum Beispiel gibt es die Einsicht – nachdem einer jungen, durch Amerika reisenden Frau der Rucksack geklaut worden ist –, dass es eigentlich ein wunderbares Dasein sein kann, so gut wie nichts zu haben, in der Wüste Arizonas zu stehen und es irgendwie zu schaffen: „Ich bin ohne alles. Ich bin frei. Ich habe nur noch mich, ein Cape und eine Plastiksonnenbrille. Von mir fällt etwas ab [...].“ Mit Rückblenden in die Wildwest-Spiele der Kindheit, zu Markus, dem Cowboy aus ihrer Vergangenheit, der die Protagonistin schließlich vergewaltigt, entwickelt sich ein Roadmovie mit einem amerikanischen Ureinwohner, einem wirklichen Indianer namens „Schnee im Herbst“, der sie an einer Tankstelle aufliest und mit ihr nach Las Vegas fährt. Zwischen den beiden entspinnt sich innerhalb zweier Tage eine tiefe Freundschaft – jenseits von Sex und erneuter Demütigung, wobei es Karen Köhler gelingt, auch die Nuancen in dieser Begegnung aufzuzeigen, ohne es ‚rührend‘ werden zu lassen.
Fotos: Literaturportal Bayern
Im ersten Umschlag des Buches ist übrigens der in der Geschichte vorkommende Sternenhimmel zu sehen – den Bucheinband durfte Karen Köhler selber gestalten. Von Sternendingen ist auch die Titelgeschichte „Wir haben Raketen geangelt“ durchsetzt. Die Erzählung, die sich aus 31 Miniaturen zusammenfügt, behandelt die Verlustgeschichte einer Liebe zwischen einer Frau und einem Mann, die zu Silvester Feuerwerkskörper in leere Flaschen stecken, eine Anglersehne am Holz befestigen und die abgeschossenen Silvesterraketen an den Angeln haben.
Von Verletzungen, von Krankheiten, von Seelenpein handeln Karen Köhlers neun zwischen emotionaler Gelassenheit und Schwere schwebende Geschichten. Mit einem Motto von Frida Kahlo, „I tried to drown my sorrows, but the bastards learned how to swim“, scheint sie den neuen Trend einer „Sick Lit“ fabulös zu überspielen – Romane, in denen grausamer gelitten und gestorben wird als in jedem Ego-Shooter. Passt es dazu, dass die Autorin am diesjährigen Bachmannpreis-Wettbewerb in Klagenfurt wegen akuter Windpocken nicht teilnehmen konnte? Wohl kaum. In Karen Köhler steckt mehr als das. Zwar hat sie stilistisch ihr erzählerisches Können noch nicht ausgereizt, aber in ihrer Naturwüchsigkeit und Detailgenauigkeit beweist die Debütschreiberin einmal mehr, was es heißt, wenn man sich auf solche schwierige Themen einlässt: Das Ungeheure kann noch in der allergrößten Schwere befreiend wirken.