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12.06.2014, 13:21 Uhr
Peter Czoik
Text & Debatte

Fußballwahn. Von den Anfängen des Fußballs in der deutschen Literatur

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Titelblatt der Zeitschrift „Jedermann sein eigner Fußball“, 1919

Bald ist es soweit, der Countdown läuft, wenn heute Abend Brasilien und Kroatien bei der Fußball-WM 2014 gegeneinander antreten. In den nächsten Wochen wird es kein anderes Thema mehr geben als das runde Leder, das Toreschießen, die Weltmeisterschaft. Der Fußball ist „so abartig groß geworden, dass längst alle an ihm zerren“, so die SZ in ihrer heutigen Ausgabe. Gründe, sich auf den Fußball zu freuen, gibt es sicherlich viele – doch im Vorfeld mehren sich auch kritische Stimmen.

Die Literatur kann hier Stellung beziehen, hat sie doch seit ihren Anfängen zum Thema Fußball mit so manchen Mythen (nicht bloß fußballerischer Natur) aufgeräumt oder diese erst in Bewegung gebracht. So tritt das runde Leder erstmals am 15. Februar 1919 literarisch in Erscheinung, mit der ersten Ausgabe der dadaistischen Zeitschrift „Jedermann sein eigner Fußball“ in Berlin. Als Gegenpol zur betont antibolschewistischen Propaganda der in hoher Auflage gedruckten Satirezeitschrift An die Laterne agitierte „Jedermann sein eigner Fußball“ gegen Militarismus, Sozialdemokratie und Kirche und griff in spöttischen Invektiven den Typus des kleinbürgerlichen Spießers an. Ihren Namen verdankte sich die Zeitschrift dem Berliner Maler und Karikaturisten George Grosz, der mit dem Titel die Idee verband, sich nicht von anderen „treten“ zu lassen und dafür das Schicksal in die „eigenen Hände“ zu nehmen. Wenig später wurde die Zeitschrift allerdings wegen Obszönität beschlagnahmt und eingestellt.

Thematisch im eigentlichen Sinne wird der Fußball dann mit einem gleichnamigen Gedicht von Joachim Ringelnatz aus dem Jahre 1920. Der Text „Fußball (nebst Abart und Ausartung)“ aus der Sammlung Turngedichte markiert nicht nur den Beginn der deutschen Fußball-Lyrik, sondern hat auch einen konkreten fußballhistorischen Hintergrund. Tatsächlich wird zu dieser Zeit Fußball noch weitestgehend im Rahmen von Vereinen als turnsportlich neue, leicht anrüchige Disziplin betrieben. Ringelnatz stellt in seinem Gedicht den Fußball entsprechend als Krankheit dar, vor der man aus gutem Grund warnen muss: „Ich warne euch, ihr Brüder Jahns [Vater der deutschen Turnbewegung, „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852)], / Vor dem Gebrauch des Fußballwahns!“ In grellen, fast schon apokalyptischen Bildern lässt er einen Fußball-Verrückten allem, was einer Kugel ähnelt, nachjagen.

Joachim Ringelnatz als Kunstfigur „Kuttel Daddeldu“ tritt die Welt mit Füßen

 

Fußball
(nebst Abart und Ausartung)

 

Der Fußballwahn ist eine Krank-
Heit, aber selten, Gott sei Dank.
Ich kenne wen, der litt akut
An Fußballwahn und Fußballwut.
Sowie er einen Gegenstand
In Kugelform und ähnlich fand,
So trat er zu und stieß mit Kraft
Ihn in die bunte Nachbarschaft.
Ob es ein Schwalbennest, ein Tiegel,
Ein Käse, Globus oder Igel,
Ein Krug, ein Schmuckwerk am Altar,
Ein Kegelball, ein Kissen war,
Und wem der Gegenstand gehörte,
Das war etwas, was ihn nicht störte.
Bald trieb er eine Schweineblase,
Bald steife Hüte durch die Straße.
Dann wieder mit geübtem Schwung
Stieß er den Fuß in Pferdedung.
Mit Schwamm und Seife trieb er Sport.
Die Lampenkuppel brach sofort.
Das Nachtgeschirr flog zielbewußt
Der Tante Berta an die Brust.
Kein Abwehrmittel wollte nützen,
Nicht Stacheldraht in Stiefelspitzen,
Noch Puffer außen angebracht.
Er siegte immer, 0 zu 8.
Und übte weiter frisch, fromm, frei
Mit Totenkopf und Straußenei.
Erschreckt durch seine wilden Stöße,
Gab man ihm nie Kartoffelklöße.
Selbst vor dem Podex und den Brüsten
Der Frau ergriff ihn ein Gelüsten,
Was er jedoch als Mann von Stand
Aus Höflichkeit meist überwand.
Dagegen gab ein Schwartenmagen
Dem Fleischer Anlaß zum Verklagen.
Was beim Gemüsemarkt geschah,
Kommt einer Schlacht bei Leipzig nah.
Da schwirrten Äpfel, Apfelsinen
Durch Publikum wie wilde Bienen.
Da sah man Blutorangen, Zwetschen
An blassen Wangen sich zerquetschen.
Das Eigelb überzog die Leiber,
Ein Fischkorb platzte zwischen Weiber.
Kartoffeln spritzten und Zitronen.
Man duckte sich vor den Melonen.
Dem Krautkopf folgten Kürbisschüsse.
Dann donnerten die Kokosnüsse.
Genug! Als alles dies getan,
Griff unser Held zum Größenwahn.
Schon schäkernd mit der U-Bootsmine
Besann er sich auf die Lawine.
Doch als pompöser Fußballstößer
Fand er die Erde noch viel größer.
Er rang mit mancherlei Problemen.
Zunächst: Wie soll man Anlauf nehmen?
Dann schiffte er von dem Balkon
Sich ein in einem Luftballon.
Und blieb von da an in der Luft,
Verschollen. Hat sich selbst verpufft. –
Ich warne euch, ihr Brüder Jahns,
Vor dem Gebrauch des Fußballwahns!

Schon zu Kaisers Zeiten wurde das Fußballspielen von der damaligen Deutschen Turnerschaft kritisiert – die „Fußlümmelei“ galt im Gegensatz zum militärischen Turnen als undeutsch. Ringelnatz' Gedicht steht gleichwohl in der Tradition seiner Turngedichte, in denen er sich über dieselbe Deutschtümelei lustig macht: „Seine Turngedichte exerzierte er wie in der Turnhalle und zugleich verspottete er damit den deutschen Spießer und hirnlosen Vereinsmeier“, so der Zeitzeuge und Ringelnatz-Biograf Herbert Günther.

Was Wunder, wenn sich der in dem Gedicht als „pompöser Fußballstößer“ verschriene Held „selbst verpufft“ und damit so tragisch endet wie einst der Fliegende Robert von Heinrich Hoffmann oder Max und Moritz von Wilhelm Busch.

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