Harald Grills Gedicht „Wegkreiz“
Wegkreiz
vor a poar joahr im mai
hat a se darennt
an dera stell
und allerweil wieder
um de zeit
stehngan do im senfglasl
frische himmlschlüssal
aber eahm
hat da zündschlüssl glangt
zum aafsperrn vom himml
(Harald Grill: Wegkreiz. In: Bairische Gedichte. lichtung verlag, Viechtach 2003, S. 73)
Harald Grill schrieb dieses Gedicht anlässlich einer Wanderung mit seiner Frau um den Bodensee zwischen Lindau und Friedrichshafen. Es erinnerte ihn an die Wegkreuze seiner Heimatgegend und rief in ihm den Drang hervor, die Erinnerung an einem bestimmten Unfall – anders als in den Zeitungsmeldungen – dichterisch festzuhalten.
Das Gedicht benennt kein bestimmtes Subjekt, woran der Leser sich erinnern könnte, sondern abstrahiert von dem realen Unfall, den ein, wie Grill zur Entstehungsgeschichte des Gedichts schreibt,[1] zwanzigjähriger Bundeswehrsoldat an einer „kleinen, wenig befahrenen Straße“ erlitt. Dadurch gewinnt es an substanzieller Gültigkeit und lenkt den Blick auf symbolisch Höherstehendes („himml“). Zwar spekuliert auch Grill über die Motive, die den Soldaten zur unglücklichen Fahrt getrieben hätten, aber im Fokus des Gedichts stehen die Schnelllebigkeit unserer Zeit sowie der Gedanke an die (eigene) Sterblichkeit:
Ob nun ein Holzfäller an diesem Ort von einem Baum erschlagen, ob ein Kaufmann von einem Räuber ermordet wurde oder ein Autofahrer tödlich verunglückte – immer sollen die Vorübergehenden das Kreuz als Mahnung für ihren eigenen Tod wahrnehmen und für den toten Menschen und seine Seele beten. Gebete und die Bewahrung der Erinnerung sollen den Toten Schlüssel sein zum Öffnen des Himmelreiches.[2]
Mit den Schlüsseln zum Öffnen des Himmelreiches greift Grill nicht nur die letzten beiden Gedichtzeilen seines eigenen Gedichts wieder auf („zündschlüssl [...] zum aafsperrn vom himml“), sondern liefert zugleich einen ‚Schlüssel‘ für die Interpretation: Die Zündschlüssel zum ‚himmlischen‘ Vergnügen des Autofahrens, zum Geschwindigkeitsrausch, hatte der unbekannte Tote eingetauscht gegen die eigentlichen ‚Schlüssel‘ „zum aafsperrn vom himml“. Jene Schlüsselblumen oder „himmlschlüssal“, die jetzt am Wegkreuz stehen und das Leben, aber auch eine Wirklichkeit jenseits des Lebens symbolisieren.
Dem Toten hat es jedoch gereicht („glangt“), sein Leben an den vorübergehenden Rausch abzugeben und sich einer wertvolleren Wirklichkeit zu verschließen. Etwas Anderes will Grill dem Leser scheinbar auch nicht sagen, wenn er seine dichterische Überlegung im Sprechen über das Gedicht zum Prinzip erhebt: „Wer in den Himmel will, fährt mit dem Auto hinein. Den Zündschlüssel haben wir jeden Tag in der Hand, das Leben auch.“[3] Nun, im Nachhinein als Toter, hat der Unbekannte den Himmel für sich und uns Lesern gleichsam ‚aufgeschlossen‘.
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[1] Harald Grill: Wegkreuz. In: Riedler, Rudolf (Hg.) (1986): Die Pausen zwischen den Worten. Dichter über ihre Gedichte. München, S. 43-47.
[2] Ebda., S. 44f.
[3] Ebda., S. 47.
Harald Grills Gedicht „Wegkreiz“>
Wegkreiz
vor a poar joahr im mai
hat a se darennt
an dera stell
und allerweil wieder
um de zeit
stehngan do im senfglasl
frische himmlschlüssal
aber eahm
hat da zündschlüssl glangt
zum aafsperrn vom himml
(Harald Grill: Wegkreiz. In: Bairische Gedichte. lichtung verlag, Viechtach 2003, S. 73)
Harald Grill schrieb dieses Gedicht anlässlich einer Wanderung mit seiner Frau um den Bodensee zwischen Lindau und Friedrichshafen. Es erinnerte ihn an die Wegkreuze seiner Heimatgegend und rief in ihm den Drang hervor, die Erinnerung an einem bestimmten Unfall – anders als in den Zeitungsmeldungen – dichterisch festzuhalten.
Das Gedicht benennt kein bestimmtes Subjekt, woran der Leser sich erinnern könnte, sondern abstrahiert von dem realen Unfall, den ein, wie Grill zur Entstehungsgeschichte des Gedichts schreibt,[1] zwanzigjähriger Bundeswehrsoldat an einer „kleinen, wenig befahrenen Straße“ erlitt. Dadurch gewinnt es an substanzieller Gültigkeit und lenkt den Blick auf symbolisch Höherstehendes („himml“). Zwar spekuliert auch Grill über die Motive, die den Soldaten zur unglücklichen Fahrt getrieben hätten, aber im Fokus des Gedichts stehen die Schnelllebigkeit unserer Zeit sowie der Gedanke an die (eigene) Sterblichkeit:
Ob nun ein Holzfäller an diesem Ort von einem Baum erschlagen, ob ein Kaufmann von einem Räuber ermordet wurde oder ein Autofahrer tödlich verunglückte – immer sollen die Vorübergehenden das Kreuz als Mahnung für ihren eigenen Tod wahrnehmen und für den toten Menschen und seine Seele beten. Gebete und die Bewahrung der Erinnerung sollen den Toten Schlüssel sein zum Öffnen des Himmelreiches.[2]
Mit den Schlüsseln zum Öffnen des Himmelreiches greift Grill nicht nur die letzten beiden Gedichtzeilen seines eigenen Gedichts wieder auf („zündschlüssl [...] zum aafsperrn vom himml“), sondern liefert zugleich einen ‚Schlüssel‘ für die Interpretation: Die Zündschlüssel zum ‚himmlischen‘ Vergnügen des Autofahrens, zum Geschwindigkeitsrausch, hatte der unbekannte Tote eingetauscht gegen die eigentlichen ‚Schlüssel‘ „zum aafsperrn vom himml“. Jene Schlüsselblumen oder „himmlschlüssal“, die jetzt am Wegkreuz stehen und das Leben, aber auch eine Wirklichkeit jenseits des Lebens symbolisieren.
Dem Toten hat es jedoch gereicht („glangt“), sein Leben an den vorübergehenden Rausch abzugeben und sich einer wertvolleren Wirklichkeit zu verschließen. Etwas Anderes will Grill dem Leser scheinbar auch nicht sagen, wenn er seine dichterische Überlegung im Sprechen über das Gedicht zum Prinzip erhebt: „Wer in den Himmel will, fährt mit dem Auto hinein. Den Zündschlüssel haben wir jeden Tag in der Hand, das Leben auch.“[3] Nun, im Nachhinein als Toter, hat der Unbekannte den Himmel für sich und uns Lesern gleichsam ‚aufgeschlossen‘.
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[1] Harald Grill: Wegkreuz. In: Riedler, Rudolf (Hg.) (1986): Die Pausen zwischen den Worten. Dichter über ihre Gedichte. München, S. 43-47.
[2] Ebda., S. 44f.
[3] Ebda., S. 47.