Über Ruth Rehmanns Romane „Illusionen“ und „Die Schwaigerin“
Einer der wenigen Romane der 1950er-Jahre, die Frauen in der Arbeitswelt zeigen, ist Ruth Rehmanns 1959 erschienenes Buch Illusionen. Darin lässt die Autorin drei Frauen (und einen Mann) unterschiedlichen Alters in einem für die damalige Zeit typischen Frauenberuf als Sekretärinnen bzw. Angestellte eines Bürokomplexes auftreten. Mit dem Aufzeigen der Berufswelt gibt Illusionen nicht nur einen atmosphärisch dichten Eindruck von der Zeit des Wirtschaftswunders und beginnenden Wohlstands, sondern vermittelt auch die damit verbundene menschliche Entfremdung und Abhängigkeit der Figuren von ihrer Arbeit. Schon die in sich geschlossene Welt des Unternehmens, in der gläserne Wände für Transparenz und Kontrolle sorgen, lässt individuelle Rückzugsmöglichkeiten nicht zu: „Es widerstehen allein die Sofakissen der alten Angestellten in der sicheren Position zwischen Hintern und Stuhl [...], es widerstehen die in Rollschränken verschlossenen Kannen, Neskaffeebüchsen, Zuckerdosen, Sammeltassen und Milchkonserven: Zeugen stiller Vorrechte [...].“[1] Aus der Perspektive eines Fensterputzers begleitet der Leser die Hauptfiguren für die Dauer eines Wochenendes von Samstagnachmittag bis Montagmorgen.
Anders stellt sich die Thematik in Rehmanns späterem Roman Die Schwaigerin von 1987 dar. Er kann zusammen mit Die Leute im Tal als Gegenentwurf zu Illusionen gelesen werden. Aus der Perspektive der Ich-Erzählerin, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs als Flüchtling auf den Schwaighof kommt, im Laufe ihres Lebens dorthin immer wieder zurückkehrt, wird Arbeit gleichsam in einem höheren Sinn durch die titelgebende Figur der Schwaigerin (Schwaigerin = Sennerin) Anni verstanden.
Indem sie freiwillig und mit ganzem Wesen ihre Rolle als Bäuerin annimmt, dadurch, dass sie sich von Neuem für die sie umgebenden Menschen und Dinge aufopfert, gibt sie dem Leben (erst) einen Sinn: „Sie und ihre Arbeit befanden sich in einem vollkommenen Einverständnis, als hätte jedes Ding in einer längst vergangenen Zeit Ja gesagt zu seiner Rolle und liefe nun von selbst, lege sich willig in ihre Hand, erriete ihre Absicht, füge sich in einen nie ausgesprochenen, vermutlich nie gedachten Plan.“[2] Während also die Dinge in Illusionen praktisch ein abgeschottetes Eigenleben neben den Figuren führen, sind die Gegenstände von Annis unmittelbarer Arbeitswelt – das „Sach“ – Teile eines Körpers, dessen Herzstück sie selbst ist. Ihre Aufgabe ist demnach, Mensch und Ding zusammenzuhalten und zu pflegen: „Alle Leute im Haus, manchmal auch Nachbarn, kommen mit Verletzungen zu ihr: Sie sticht Blasen und Furunkel auf, schneidet ohne Fackeln in Haut und Fleisch, ekelt sich nicht vor Blut. [...] Wo sie Lebenskraft spürt, pflegt sie mit Geduld und Geschick, badet entzündete Katzenaugen mit Kamille, päppelt Rehjunge mit der Flasche auf, schient gebrochene Flügel.“[3]
Veränderungen treten erst auf, als die dörfliche Idylle im Zuge touristischer Erschließung aufgebrochen wird. Mit der Umwandlung des Schwaighofs in eine Gaststätte gerät Anni zunehmend unter den Einfluss von Schichtarbeit und Gasthausbetrieb und hat kaum Zeit mehr für ihr „Sach“: „Anni scheint zwar ‚alles im Griff‘ zu haben, in Wirklichkeit aber ‚funktioniert‘ sie nur noch“ (Uta Krieger & Ree Post). Daran kann auch die Einsicht in die Ich-Bezogenheit der Erzählerin, die Anni frühzeitig hätte helfen können, nichts ändern.
Einen ähnlichen Stellenwert im Leben besitzt die Berufstätigkeit der Bürovorsteherin Gertrud Schramm. Seit ihr Mann nach zweijähriger Ehe im Krieg gefallen ist, lebt sie in völliger Hingabe an die Firma, während vor allem ihr Chef, geringfügig auch der Fremdsprachenkorrespondent Paul Westermann, davon profitieren. Dass die damit einhergehende Anerkennung sowie Überzeugung, „daß Pflichterfüllung das einzig sichere Glück“[4] ist, eine reine Illusion bilden, merkt sie allerdings zu spät. Im Gegensatz zur Schwaigerin Anni entbehrt ihre Fürsorglichkeit von Anbeginn jeder Grundlage und wird entsprechend mit der betrieblichen Kündigung vom Chef quittiert. Die in der Betriebsphilosophie mittlerweile gängige Praxis, die Mitarbeiter durch Forderung von Höchstleistungen zu ‚motivieren‘, gewinnt hier bereits eine frühe literarische Abwertung.
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[1] Ruth Rehmann: Illusionen. Roman. München 1989, S. 10.
[2] Ruth Rehmann: Die Schwaigerin. Roman. München 2005, S. 21.
[3] Ebda., S. 24.
[4] Rehmann: Illusionen, S. 17.
Über Ruth Rehmanns Romane „Illusionen“ und „Die Schwaigerin“>
Einer der wenigen Romane der 1950er-Jahre, die Frauen in der Arbeitswelt zeigen, ist Ruth Rehmanns 1959 erschienenes Buch Illusionen. Darin lässt die Autorin drei Frauen (und einen Mann) unterschiedlichen Alters in einem für die damalige Zeit typischen Frauenberuf als Sekretärinnen bzw. Angestellte eines Bürokomplexes auftreten. Mit dem Aufzeigen der Berufswelt gibt Illusionen nicht nur einen atmosphärisch dichten Eindruck von der Zeit des Wirtschaftswunders und beginnenden Wohlstands, sondern vermittelt auch die damit verbundene menschliche Entfremdung und Abhängigkeit der Figuren von ihrer Arbeit. Schon die in sich geschlossene Welt des Unternehmens, in der gläserne Wände für Transparenz und Kontrolle sorgen, lässt individuelle Rückzugsmöglichkeiten nicht zu: „Es widerstehen allein die Sofakissen der alten Angestellten in der sicheren Position zwischen Hintern und Stuhl [...], es widerstehen die in Rollschränken verschlossenen Kannen, Neskaffeebüchsen, Zuckerdosen, Sammeltassen und Milchkonserven: Zeugen stiller Vorrechte [...].“[1] Aus der Perspektive eines Fensterputzers begleitet der Leser die Hauptfiguren für die Dauer eines Wochenendes von Samstagnachmittag bis Montagmorgen.
Anders stellt sich die Thematik in Rehmanns späterem Roman Die Schwaigerin von 1987 dar. Er kann zusammen mit Die Leute im Tal als Gegenentwurf zu Illusionen gelesen werden. Aus der Perspektive der Ich-Erzählerin, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs als Flüchtling auf den Schwaighof kommt, im Laufe ihres Lebens dorthin immer wieder zurückkehrt, wird Arbeit gleichsam in einem höheren Sinn durch die titelgebende Figur der Schwaigerin (Schwaigerin = Sennerin) Anni verstanden.
Indem sie freiwillig und mit ganzem Wesen ihre Rolle als Bäuerin annimmt, dadurch, dass sie sich von Neuem für die sie umgebenden Menschen und Dinge aufopfert, gibt sie dem Leben (erst) einen Sinn: „Sie und ihre Arbeit befanden sich in einem vollkommenen Einverständnis, als hätte jedes Ding in einer längst vergangenen Zeit Ja gesagt zu seiner Rolle und liefe nun von selbst, lege sich willig in ihre Hand, erriete ihre Absicht, füge sich in einen nie ausgesprochenen, vermutlich nie gedachten Plan.“[2] Während also die Dinge in Illusionen praktisch ein abgeschottetes Eigenleben neben den Figuren führen, sind die Gegenstände von Annis unmittelbarer Arbeitswelt – das „Sach“ – Teile eines Körpers, dessen Herzstück sie selbst ist. Ihre Aufgabe ist demnach, Mensch und Ding zusammenzuhalten und zu pflegen: „Alle Leute im Haus, manchmal auch Nachbarn, kommen mit Verletzungen zu ihr: Sie sticht Blasen und Furunkel auf, schneidet ohne Fackeln in Haut und Fleisch, ekelt sich nicht vor Blut. [...] Wo sie Lebenskraft spürt, pflegt sie mit Geduld und Geschick, badet entzündete Katzenaugen mit Kamille, päppelt Rehjunge mit der Flasche auf, schient gebrochene Flügel.“[3]
Veränderungen treten erst auf, als die dörfliche Idylle im Zuge touristischer Erschließung aufgebrochen wird. Mit der Umwandlung des Schwaighofs in eine Gaststätte gerät Anni zunehmend unter den Einfluss von Schichtarbeit und Gasthausbetrieb und hat kaum Zeit mehr für ihr „Sach“: „Anni scheint zwar ‚alles im Griff‘ zu haben, in Wirklichkeit aber ‚funktioniert‘ sie nur noch“ (Uta Krieger & Ree Post). Daran kann auch die Einsicht in die Ich-Bezogenheit der Erzählerin, die Anni frühzeitig hätte helfen können, nichts ändern.
Einen ähnlichen Stellenwert im Leben besitzt die Berufstätigkeit der Bürovorsteherin Gertrud Schramm. Seit ihr Mann nach zweijähriger Ehe im Krieg gefallen ist, lebt sie in völliger Hingabe an die Firma, während vor allem ihr Chef, geringfügig auch der Fremdsprachenkorrespondent Paul Westermann, davon profitieren. Dass die damit einhergehende Anerkennung sowie Überzeugung, „daß Pflichterfüllung das einzig sichere Glück“[4] ist, eine reine Illusion bilden, merkt sie allerdings zu spät. Im Gegensatz zur Schwaigerin Anni entbehrt ihre Fürsorglichkeit von Anbeginn jeder Grundlage und wird entsprechend mit der betrieblichen Kündigung vom Chef quittiert. Die in der Betriebsphilosophie mittlerweile gängige Praxis, die Mitarbeiter durch Forderung von Höchstleistungen zu ‚motivieren‘, gewinnt hier bereits eine frühe literarische Abwertung.
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[1] Ruth Rehmann: Illusionen. Roman. München 1989, S. 10.
[2] Ruth Rehmann: Die Schwaigerin. Roman. München 2005, S. 21.
[3] Ebda., S. 24.
[4] Rehmann: Illusionen, S. 17.