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24.06.2011, 22:21 Uhr
Peter Czoik

Wilhelm Diess: Mündliches Erzählen, dörfliches Erleben und kindliches Heimweh

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Mit Fliege und Zigarette am Tisch: Wilhelm Diess anlässlich der Münchner Gespräche am 7. April 1954 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe).

Die bayerische Literatur ist – trotz der klassischen Gepflogenheiten eines Hans Carossa, trotz des starken expressionistischen Schwungs eines Georg Britting – immer auch ein Stück erzählte bzw. mündliche Literatur gewesen. Als begnadeter „Stegreiferzähler“, der im Kreis von Freunden und Bekannten seine Erzählungen anschaulich zum Besten gab, gilt neben dem „bayerischen Boccaccio“ Oskar Maria Graf der Anwalt, Ministerialrat und Dichter Wilhelm Diess.

Von seinen Erzählungen wird berichtet, sie seien dadurch entstanden, dass ein Münchner Verleger, Ernst Heimeran, sie heimlich ohne Wissen des Autors mitstenographieren ließ: „Diese Geschichten sind also nicht am Schreibtisch entstanden, sondern aus dem Stegreif erzählt worden“ (Hans Göttler). Nach Diess unterscheiden sie sich von herkömmlichen Kurzgeschichten „vor allem dadurch, daß sie im wesentlichen Begebenheiten wiedergeben, die sich tatsächlich zugetragen haben und sich fernhalten von Zusätzen und Ausschmückungen aller Art.“[1]

In der Tat sind Diess' Geschichten von jener Einfachheit und Stilsicherheit geprägt, die sie sowohl in die Nähe von erzählter Mündlichkeit als auch von erzählender Schriftlichkeit rücken lassen: Durchweg einsträngig, immer wieder durch Reihungen, bewusst eingesetzte Repetitionen und Tempuswechsel unterbrochen, mit Einschüben und spannungssteigernden Verzögerungen, literarischen Stilmitteln wie Ironie und Personifikation je nach Erzählduktus versehen, geben sie einen guten Eindruck von der dichterischen Breite des Niederbayers Wilhelm Diess.

Nähe zu den ganz normalen Dingen

Wilhelm Hausenstein meint deshalb, der Ton dieser Geschichten sei „überdies von einem Wohlsein durchwärmt, das auch nur die bewährten älteren Öfen hergeben. ‚Literatur‘ ist dies, so wird man bereits spüren, schon ganz und gar nicht. Mit ‚urkräftigem Behagen‘ erzählend, zwingt dieser Mann die Herzen, wo sie am inwendigsten schlagen. Die Dinge und die blitzgescheiten Wahrnehmungen stehen unmittelbar auf: es ist gar nicht, als wären sie geschrieben – sie sind da.“[2]

Erklären kann man sich diese Form des Erzählens aus der besonderen Nähe des Dichters zu den kleinen, ganz „normalen“ Dingen, die Diess bereits in seiner Kindheit und Jugend erlebt hat. In Pocking geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen, wurde Diess stark vom dörflichen Charakter, vom Leben und von der Atmosphäre des Heimatdorfes beeinflusst, was bei ihm Gefühle der Zugehörigkeit, Geborgenheit und Freude auslöste und in vielen seiner mitunter idyllisch anmutenden Erzählungen deutlich hervortritt. Am Anfang seiner Erzählung Heimweh stehen z.B. folgende Sätze: „Die Volksschule habe ich auf dem Dorfe besucht und das ist eine Zeit unbeschwertesten Glückes gewesen. Ein altes, gemütliches Schulhaus war da, dicht beim Glockenturm der Kirche, an der Innenseite der Friedhofsmauer. Viele kleine Fenster nach Osten und Westen haben die niederen Räume hell und freundlich gemacht.“[3]

Wie zur Bestätigung werden von der Schulbank aus die Dinge in ihrer Eigenheit beschrieben, wobei der subjektive Zugang zu den Dingen selbst gewahrt bleibt. Man meint, man sehe alles, was beschrieben wird, gerade vor sich, und im Miterleben wird der Leser zum heimlichen Komplizen des Erzählers. So, wenn Diess vom Glöckchen schreibt, das oben am Türstock des Krämerladens „so angebracht war, daß jede Bewegung der Türe es angeschlagen hat“ – „artig, jähzornig, gelassen oder erbittert“. So, wenn er von der großen Wirtschaft „mit eindrucksvollen und bedeutsamen Geräuschen“ berichtet, dass man immer auf die Urheber der Geräusche zu schließen vermag („Wir haben schütterndes Rollen auf holprigem Steinpflaster gehört und haben gewußt, jetzt wird ein frisches Faß angesteckt“). Oder wenn Diess einfach den Jahreszeitenwechsel im Schulzimmer miterlebt: „kalt der Winter, heiß der Sommer, blühend der Frühling, farbig der Herbst.“[4]

Literarische Tagträumerei

Im Gegensatz dazu steht die Welt des Gymnasiums in der Stadt Passau, wohin Wilhelm Diess 1894 „verpflanzt“ wird: das Gymnasium erscheint ihm als „eng“, „düster“, „völlig finster“ und „still“; von allem, Schulzimmer, Banknachbarn, Klassenkameraden, Lehrer und Pfarrer, ist er schwer enttäuscht. Da alles „mit einem grimmigen Ernst“ in Angriff genommen und als selbstverständlich hingenommen wird,[5] flüchtet sich der junge Schüler Diess in die Welt der dörflichen Erinnerung und des Tagtraumes:

Als eines Morgens der erste Schnee niederfällt und er „ganz taumelig“ davon wird, hat er nichts vom Schulalltag wahrgenommen, sondern ist „daheim gewesen auf dem Dorf“ und gedenkt der Schneeballschlachten, die zu Hause ausgetragen werden. Zwar gehen auch dort Fensterscheiben zu Bruche, doch spielen sich solche Ärgernisse menschlicher und glücklicher ab als in der Stadt. Die Erinnerung daran wird so groß, dass Diess glaubt, mit Schneeballen „erfolgreich gegen die Finsternis und Enge meines jetzigen Daseins vorgehen“ zu können, weshalb er zwei Scheiben seines Klassenzimmers einschlägt – und den Ingrimm der Lehrer auf sich zieht, die dafür, „wie die Dinge zusammenhängen“, keinerlei Verständnis haben.[6]

Weil Diess die unbegreifliche Welt der Stadt und des Gymnasiums nicht länger erträgt, läuft er in der nächsten Nacht weg, heimwärts nach Pocking. Die Freude über sein neues Sein hält indes nicht lange an. Diess kommt zu dem Schluss, dass Heimweh unterdrückt wird und „dann schon vergeht“; es sei aber „töricht und unzulässig, aus Heimweh eine Nacht hindurch zu laufen, um heimzukommen.“[7] So bleibt dem Leser auch nichts anderes übrig, als stillschweigend dem Geschehen beizupflichten, dass der junge Diess am anderen Morgen gleich wieder von der Mutter in die Stadt zurückgebracht wird: „Sie hat mich beim Abschied fest an sich gedrückt und hat mit mir geweint.“

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[1] Wilhelm Diess: Das erzählerische Werk in Einzelausgaben. Bd. 1: Stegreifgeschichten. Hg. von Friedhelm Kemp. München 1979, S. 126.

[2] Hausenstein, Wilhelm: „Bayrisches, erzählt“ in: Wilhelm Diess: Das erzählerische Werk in Einzelausgaben. Bd. 2: Das Geständnis. Erzählungen. Hg. von Friedhelm Kemp. München 1979, S. 130-132, hier S. 130.

[3] Wilhelm Dieß: Zwei Erzählungen aus dem Rottal (Pockinger Lesebogen, 3). Pocking 1982, S. 9.

[4] Ebda., S. 9f.

[5] Ebda., S. 11.

[6] Ebda., S. 11-14.

[7] Ebda., S. 15.

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