Logen-Blog [363]: Impromptu über eine der größten Dichterbegabungen aller Zeiten
Just im Bad, wenn auch nicht im Kurbad, begegnet mir gestern Abend – nein: keine Badefee. Mir begegnet der Hinweis auf Jean Paul: bei einem Autor, dessen Liebe zum Dichter bekannt ist. Hermann Hesse nämlich fuhr 1923 nach Baden an der Limmat, wo er sich von Gicht und Ischias erholen wollte. In Kurgast, den Aufzeichnungen von einer Badener Kur, hat er seine Erlebnisse und Gedanken festgehalten. Bei gutem Wetter, lese ich im Kapitel Tageslauf, suche ich den Hotelgarten auf, wo ich an verstecktem Ort einen Liegestuhl stehen habe, mein Notizbuch und Bleistift und einen Band Jean Paul dabei. Und was hat Hesse dabei? Eine Gesamtausgabe der Werke Jean Pauls?
Nein – denn es gab sie, wie er im Nachwort zu den Flegeljahren geschrieben hatte, noch gar nicht. Er liest – fast muss man sagen: natürlich – Dr. Katzenbergers Badereise. Schon in der Vorrede gedenkt er dieser durchaus sinnreichen Lektüre – so wie ein heutiger Kurgast vielleicht, wenn er an einen Ort wie Franzensbad fährt, sich den Kurgast ins Reisegepäck hineinsteckt.
Und indem ich später kleiner Dichter es unternehme, die Skizze eines Badeaufenthaltes zu entwerfen, denke ich an viele Dutzende von Badereisen und Baden-Fahrten, welche von guten und von schlechten Autoren geschrieben worden sind, und denke entzückt und verehrend an den Stern unter all den Raketen, an das Goldstück unter all dem Papiergeld, an den Paradiesvogel unter all den Sperlingen, an die Badereise des Doktors Katzenberger, lasse mich indessen durch diesen Gedanken nicht hindern, dem Stern meine Rakete, dem Paradiesvogel meinen Spatzen nachsteigen zu lassen. Fliege denn, mein Spatz! Steige, mein kleiner Papierdrache.
Die Erzählung selbst reflektiert, von zwei weiteren kleinen Erwähnungen[1] abgesehen, nicht mehr die Jean-Paul-Lektüre. Wusste Hesse, dass der Begriff Papierdrache ein originaler jeanpaulscher Werktitel war? Er wusste zumindest, dass der Dichter ihm darin verwandt war, dass sie beide buchstäblich das Papier in sich hineinfraßen, um es in Form von Werken wieder auszuscheiden – im Falle Hesses in Form von Aberhunderten von Rezensionen und literarischen Betrachtungen, die inzwischen in mehreren Bänden seiner Werkausgabe komplett publiziert wurden. Bekannt wurde die Sammlung, die „Hesses Statthalter auf Erden“[2], also Volker Michels, 1970 zusammengestellt hat: Eine Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Hier findet man auch jene beiden bedeutenden Huldigungs-Texte, in denen sich Hesse grundsätzlich über den Dichter äußerte, der so fern schien – und der doch so verwandt war. 1921 schrieb er Über Jean Paul, ein Jahr nach der ersten Badereise über den Siebenkäs. Die Zeilen des Literaturkenners und -liebhabers, der unmäßig viele schlechte Gedichte[3] und sehr gute Aufsätze schrieb, dürften dem Jeanpaulianer bekannt sein:
In Jean Paul hat jenes geheimnisvolle Deutschland, das noch immer lebt, obwohl seit manchen Jahrzehnten ein anderes, lauteres, hurtigeres, seelenloses Deutschland ihm im Lichte stand, seinen eigensten, reichsten und verworrensten Geist geboren, eine der größten Dichterbegabungen aller Zeiten, dessen Werke einen wahren Urwald der Poesie darstellen.
Scheint Hesse nicht ein wenig über sich selbst und sein Ideal zu schreiben, wenn er den Kollegen und dessen charakteristische Polarität analysiert?
Jean Paul ist nicht ein Gehirnmensch, oder ein Herzmensch, oder ein Ahner, oder ein Fühler – er ist dies alles, wie jeder Mensch jede dieser Fähigkeiten in sich hat. Jean Paul ist das Musterbeispiel eines Genialen, der nicht eine Spezialität in sich hochgezüchtet hat, sondern dessen Ideal das freie Spiel aller Seelenkräfte ist, der zu allem ja sagen, alles auskosten, alles lieben und leben möchte, So sehen wir den Dichter in jedem seiner Werke (abgesehen von ein paar kleinen Idyllen wie dem Wuz oder Fibel) unaufhörlich zwischen Heiß und Kalt, zwischen Hart und Weich, zwischen all den hundert Polen und Gegenpolen seiner Natur hin und wieder laufen, das Hin und Her, das elektrische Aufzucken zwischen all diesen Polen ist recht eigentlich das Leben seiner Dichtung.
Die Loge und ihre Figuren haben elementaren Anteil an diesem Spiel und Widerspiel der Charaktere und Gefühlslagen, der Ironie und des tiefen, unverblümten Gefühls, des Sarkasmus und der Herzenswärme. Sie auf einen Punkt zu bringen: es ist unmöglich. Es wäre denn nur möglich um den Preis jener Vereinfachung, die noch in den Widersprüchen etwas Konsistentes zu erblicken vermag: als sei das Gesprungene ein Ausdruck einer Totalität, die widerspruchsfrei zu genießen wäre. Allein im Fragment, das der Roman letzten Endes wurde, vermag man jene polaren Kräfte am Werk zu sehen: zu stark, als dass der Erzähler der Erzählung mit einem geschlossenen „Konzept“ beigekommen wäre. Es ist dies wohl keine Frage der Schwäche, sondern eher der Stärke: jener Übermacht dessen, was Hesse meinte, als er vom „Urwald der Poesie“ und vom Reichtum des Geistes sprach.
Gerade ihn, diesen „komplizierten“ Dichter, auf eine Kurreise mitzunehmen, die doch der Erholung, ja: der „Zerstreuung“ dienen sollte, mag paradox anmuten – doch ist es nicht gerade die Stärke seiner Dichtung, die eher der Gesundung dienen mag als ein noch so „vollkommenes“ Elaborat einer fatalen Harmonie?
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[1] „Wie oft habe ich in diesem Lehnstuhl Jean Paul gelesen! […] Hier habe ich, an jenem glücklichen Tage, damals die Vorrede der Psychologia [den Kurgast, der in der privaten Erstausgabe noch Psychologia Balneari hieß] vorgelesen und sah ihre Freude über die kleine Ehrung für Jean Paul, den auch sie so sehr liebt.“
[2] Ein kluges Wort des Jean-Paul-Kenners und Monographisten Ralf Vollmann.
[3] Zwei gute Gedichte machen noch keinen guten Lyriker (dies als Argument gegen die präsumtive Schelte der vereinigten Hesse-Leserschaft; der Blogger freut sich über Gegenargumente).
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Just im Bad, wenn auch nicht im Kurbad, begegnet mir gestern Abend – nein: keine Badefee. Mir begegnet der Hinweis auf Jean Paul: bei einem Autor, dessen Liebe zum Dichter bekannt ist. Hermann Hesse nämlich fuhr 1923 nach Baden an der Limmat, wo er sich von Gicht und Ischias erholen wollte. In Kurgast, den Aufzeichnungen von einer Badener Kur, hat er seine Erlebnisse und Gedanken festgehalten. Bei gutem Wetter, lese ich im Kapitel Tageslauf, suche ich den Hotelgarten auf, wo ich an verstecktem Ort einen Liegestuhl stehen habe, mein Notizbuch und Bleistift und einen Band Jean Paul dabei. Und was hat Hesse dabei? Eine Gesamtausgabe der Werke Jean Pauls?
Nein – denn es gab sie, wie er im Nachwort zu den Flegeljahren geschrieben hatte, noch gar nicht. Er liest – fast muss man sagen: natürlich – Dr. Katzenbergers Badereise. Schon in der Vorrede gedenkt er dieser durchaus sinnreichen Lektüre – so wie ein heutiger Kurgast vielleicht, wenn er an einen Ort wie Franzensbad fährt, sich den Kurgast ins Reisegepäck hineinsteckt.
Und indem ich später kleiner Dichter es unternehme, die Skizze eines Badeaufenthaltes zu entwerfen, denke ich an viele Dutzende von Badereisen und Baden-Fahrten, welche von guten und von schlechten Autoren geschrieben worden sind, und denke entzückt und verehrend an den Stern unter all den Raketen, an das Goldstück unter all dem Papiergeld, an den Paradiesvogel unter all den Sperlingen, an die Badereise des Doktors Katzenberger, lasse mich indessen durch diesen Gedanken nicht hindern, dem Stern meine Rakete, dem Paradiesvogel meinen Spatzen nachsteigen zu lassen. Fliege denn, mein Spatz! Steige, mein kleiner Papierdrache.
Die Erzählung selbst reflektiert, von zwei weiteren kleinen Erwähnungen[1] abgesehen, nicht mehr die Jean-Paul-Lektüre. Wusste Hesse, dass der Begriff Papierdrache ein originaler jeanpaulscher Werktitel war? Er wusste zumindest, dass der Dichter ihm darin verwandt war, dass sie beide buchstäblich das Papier in sich hineinfraßen, um es in Form von Werken wieder auszuscheiden – im Falle Hesses in Form von Aberhunderten von Rezensionen und literarischen Betrachtungen, die inzwischen in mehreren Bänden seiner Werkausgabe komplett publiziert wurden. Bekannt wurde die Sammlung, die „Hesses Statthalter auf Erden“[2], also Volker Michels, 1970 zusammengestellt hat: Eine Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Hier findet man auch jene beiden bedeutenden Huldigungs-Texte, in denen sich Hesse grundsätzlich über den Dichter äußerte, der so fern schien – und der doch so verwandt war. 1921 schrieb er Über Jean Paul, ein Jahr nach der ersten Badereise über den Siebenkäs. Die Zeilen des Literaturkenners und -liebhabers, der unmäßig viele schlechte Gedichte[3] und sehr gute Aufsätze schrieb, dürften dem Jeanpaulianer bekannt sein:
In Jean Paul hat jenes geheimnisvolle Deutschland, das noch immer lebt, obwohl seit manchen Jahrzehnten ein anderes, lauteres, hurtigeres, seelenloses Deutschland ihm im Lichte stand, seinen eigensten, reichsten und verworrensten Geist geboren, eine der größten Dichterbegabungen aller Zeiten, dessen Werke einen wahren Urwald der Poesie darstellen.
Scheint Hesse nicht ein wenig über sich selbst und sein Ideal zu schreiben, wenn er den Kollegen und dessen charakteristische Polarität analysiert?
Jean Paul ist nicht ein Gehirnmensch, oder ein Herzmensch, oder ein Ahner, oder ein Fühler – er ist dies alles, wie jeder Mensch jede dieser Fähigkeiten in sich hat. Jean Paul ist das Musterbeispiel eines Genialen, der nicht eine Spezialität in sich hochgezüchtet hat, sondern dessen Ideal das freie Spiel aller Seelenkräfte ist, der zu allem ja sagen, alles auskosten, alles lieben und leben möchte, So sehen wir den Dichter in jedem seiner Werke (abgesehen von ein paar kleinen Idyllen wie dem Wuz oder Fibel) unaufhörlich zwischen Heiß und Kalt, zwischen Hart und Weich, zwischen all den hundert Polen und Gegenpolen seiner Natur hin und wieder laufen, das Hin und Her, das elektrische Aufzucken zwischen all diesen Polen ist recht eigentlich das Leben seiner Dichtung.
Die Loge und ihre Figuren haben elementaren Anteil an diesem Spiel und Widerspiel der Charaktere und Gefühlslagen, der Ironie und des tiefen, unverblümten Gefühls, des Sarkasmus und der Herzenswärme. Sie auf einen Punkt zu bringen: es ist unmöglich. Es wäre denn nur möglich um den Preis jener Vereinfachung, die noch in den Widersprüchen etwas Konsistentes zu erblicken vermag: als sei das Gesprungene ein Ausdruck einer Totalität, die widerspruchsfrei zu genießen wäre. Allein im Fragment, das der Roman letzten Endes wurde, vermag man jene polaren Kräfte am Werk zu sehen: zu stark, als dass der Erzähler der Erzählung mit einem geschlossenen „Konzept“ beigekommen wäre. Es ist dies wohl keine Frage der Schwäche, sondern eher der Stärke: jener Übermacht dessen, was Hesse meinte, als er vom „Urwald der Poesie“ und vom Reichtum des Geistes sprach.
Gerade ihn, diesen „komplizierten“ Dichter, auf eine Kurreise mitzunehmen, die doch der Erholung, ja: der „Zerstreuung“ dienen sollte, mag paradox anmuten – doch ist es nicht gerade die Stärke seiner Dichtung, die eher der Gesundung dienen mag als ein noch so „vollkommenes“ Elaborat einer fatalen Harmonie?
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[1] „Wie oft habe ich in diesem Lehnstuhl Jean Paul gelesen! […] Hier habe ich, an jenem glücklichen Tage, damals die Vorrede der Psychologia [den Kurgast, der in der privaten Erstausgabe noch Psychologia Balneari hieß] vorgelesen und sah ihre Freude über die kleine Ehrung für Jean Paul, den auch sie so sehr liebt.“
[2] Ein kluges Wort des Jean-Paul-Kenners und Monographisten Ralf Vollmann.
[3] Zwei gute Gedichte machen noch keinen guten Lyriker (dies als Argument gegen die präsumtive Schelte der vereinigten Hesse-Leserschaft; der Blogger freut sich über Gegenargumente).