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22.01.2014, 16:03 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [327]: Mit solcher Tugend ist kein Staat zu machen

Apropos Tugend

Der Zufall (der Zufall? Ja, wieder einmal der glückliche literarische Zu-Fall) sorgt dafür, dass ich in dem Roman Venus im Pelz, den ich anlässlich der Aufführung des Films zu lesen beginne, einen interessanten Verweis auf die Tugend finde, der Jean Pauls Anmerkungen sinnreich kommentiert. Die Heldin der bekanntlich berühmt-berüchtigten Novelle – Wanda von Dunajew[1] – erklärt hier ihrem Liebessklaven gleich zu Beginn der Erzählung, also quasi als theoretische Grundlage, Folgendes:

Aber der einzelne, der sich gegen die Einrichtungen der Gesellschaft empört, wird ausgestoßen, gebrandmarkt, gesteinigt, wollen Sie sagen. Nun gut. Ich wage es, meine Grundsätze sind recht heidnisch, ich will mein Dasein ausleben. Ich verzichte auf euren heuchlerischen Respekt, ich ziehe es vor, glücklich zu sein. Die Erfinder der christlichen Ehe haben gut daran getan, auch gleich dazu die Unsterblichkeit zu erfinden. Ich denke jedoch nicht daran, ewig zu leben, und wenn mit dem letzten Atemzuge hier für mich als Wanda von Dunajew alles zu Ende ist, was habe ich davon, ob mein reiner Geist in den Chören der Engel mitsingt oder ob mein Staub zu neuen Wesen zusammenquillt? Sobald ich aber, so wie ich bin, nicht fortlebe, aus welcher Rücksicht soll ich dann entsagen? Einem Manne angehören, den ich nicht liebe, bloß deshalb, weil ich ihn einmal geliebt habe? Nein, ich entsage nicht, ich liebe jeden, der mir gefällt, und mache jeden glücklich, der mich liebt. Ist das hässlich? Nein, es ist mindestens weit schöner, als wenn ich mich grausam der Qualen freue, die meine Reize erregen, und mich tugendhaft von dem Armen abkehre, der um mich verschmachtet. Ich bin jung, reich und schön, und so, wie ich bin, lebe ich heiter dem Vergnügen, dem Genuss.

That's it: Was nützt die „Tugend“, wenn sie unglücklich macht? Was ist die Tugend, wenn sie auf ein Himmelreich vertraut, das nicht bewiesen werden kann? Was hat „die Gesellschaft“ damit zu schaffen, die sich aus all diesen Privatangelegenheiten heraushalten sollte?

Ein Traumpaar: Leopold und Fanny

Nun könnte „man“ behaupten, dass Wandas (und Severins) Lebenshaltung nichts weiter wäre als sexuell-eskapistischer Hedonismus: insofern unnütz und amoralisch. Die Frage bleibt: für wen diese Position unnütz und amoralisch ist – weiter: ob sie nicht den (zugegeben: eigentümlich) Liebenden nützt und eine Moral behauptet, über die schlichtweg nicht zu rechten ist. Jean Paul wäre, das ist keine Frage, entsetzt gewesen – aber ist nicht das Moralisieren des Erzählers über die Tugendapostel selbst der größte Ausweis einer Tugendapostelei, der vom Wesentlichen: der untrennbaren Verbindung von Körper und Seele abstrahiert?

Man muss kein Gehirnforscher sein, um festzustellen, dass Jean Paul bestimmte Fragen viel zu „idealistisch“ aufgefasst hat. Nicht, dass der Leser ihn deshalb verurteilen müsste: im Gegenteil – wir werden weiter zu fragen haben, welche Gründe für diesen Idealismus vorliegen und was er seinen Helden sozusagen „bringt“ – auch wenn dieses Insistieren auf den produktiven Erfolg ihres Idealismus vielleicht schon zu materialistisch ist, um dem Dichter gerecht zu werden – aber wie soll man anders im Zeichen von Seele und Körper fragen?

Wer nun wieder denkt: Mein Gott, diese Abschweifungen – der irrt: denn auch der Ausschnitt aus einer bedeutenden, einen Begriff prägenden Novelle aus dem Jahre 1870 hat mit diesem Blog, genauer: mit dem Literaturportal zu tun, insofern es ein Bayerisches ist.[2] Nämlich so: Wanda von Sacher-Masoch, die Frau des Meisters, hat in ihrer 1906 veröffentlichten Lebensbeichte die „Lösung“ eines Falles gegeben, mit dem wir uns direkt in das Königreich Bayern des tiefen 19. Jahrhunderts begeben. 1878 also erhielt Sacher-Masoch, der damals in Graz lebte, einen Brief von einem Verehrer, der sich so nannte wie später ein Held Arthur Schnitzlers. Anatol. „Anatol“ fragte den Schriftsteller, indem er sich auf Sacher-Masochs Novelle Die Liebe des Plato bezog: „Wie viel vom 'neuen Plato' nennst Du noch Dein? Was vermag Dein Herz zu bieten? Liebe um Liebe? Überlege! Wenn Deine Sehnsucht nicht Lüge war, ist, was Du suchst, gefunden.“ Sacher-Masoch drang auf ein Treffen; man begegnete sich in Bruck, wo er auf einen „mysteriösen schönen Mann“ stieß (wie es in der Rowohlt-Monographie Lisbeth Exners heißt). Nun wird es seltsam: Wanda von Sacher-Masoch traf im Grazer Hotel Zum Elefanten noch zweimal den geheimnisvollen „Anatol“ – aber nun war er „klein“ und „verwachsen“.

Der enttäuschte „Anatol“ hat später Carl Felix von Schlichtegroll[3] Materialien zur Verfügung gestellt, die die Identität des zweiten Herren als „Paul“ chiffrierte; 1906 hat Schlichtegroll das veröffentlicht. In ihren Memoiren hat Wanda von Sacher-Masoch schließlich den seltsamen Fall „aufgeklärt“:

Im Jahre 1881 verbrachten wir einen Teil des Sommers auf dem Dorfe Heubach in der Umgebung von Passau. Dort lernten wir Dr. Grandauer kennen. Er war Arzt, praktizierte jedoch nicht, war aber am Hoftheater in München als Regisseur angestellt. Er war ein großer Kunstkenner und Forscher, und wir verbrachten viele angenehme Stunden mit dem geist- und gemütvollen Mann.

Eines Tages in einem Gespräch über Kunst erzählte er uns, was alles in den bayrischen Königsschlössern vorhanden ist, kam dabei auf die Kunstrichtung des Königs Ludwig II., von da auf die Seltsamkeiten desselben, die er vom Standpunkt des Arztes beurteilte, sprach von dem Verhältnis des Königs zu Richard Wagner, von ihrem seltsamen Briefwechsel, der Scheu des Königs vor dem Verkehr mit Menschen, seiner Abkehr von den Frauen, dem Suchen der Einsamkeit, dem leidenschaftlichen, nie befriedigten Sehnen nach einer idealeren Ausgestaltung des Lebens.

Wir lauschten gespannt auf alles, was Dr. Grandauer erzählte –, es klang uns so bekannt – wir schauten uns an, und ein Name schwebte auf unseren Lippen: Anatol.

Als der Doktor eine Pause machte, frug ich auf gut Glück:

„Und wer ist der kleine verwachsene Mann, der, wie man erzählt, der Freund des Königs ist?“

„Ach, Sie meinen wohl den Prinzen Alexander von Oranien, den ältesten Sohn des Königs von Holland? Ein armer Schlucker, der.“

Paul!

Wieder nach Jahren, als ich in Paris lebte, verkehrte ich dort mit Personen, die den Bruder des Prinzen von Oranien, den „Prinz Citron“, der in Paris seiner Armut wegen diesen Spottnamen hatte, genau gekannt haben; von diesen erfuhr ich, dass der holländische Thronerbe ein ganz einsames, abgeschiedenes Leben geführt, sich nur mit Kunst und Literatur beschäftigt habe, und einsam, verlassen und vergessen gestorben sei.

Der einsam Verstorbene – Paul – und der königliche Schwärmer, der auf der Suche nach dem Ideal auf Irrwege geraten, die ihn in den Starnberger See geführt haben – Anatol. „Das Leben wird vorübergehen ... was liegt daran, leben oder sterben ...“

Ludwig II. als heimlicher Briefeschreiber, verwoben in eine perverse Liebesgeschichte? Die Geschichte ist vermutlich zu gut, um wahr – und erfunden zu sein...[4]

Auf jeden Fall merkt der Leser, dass die Tugenddiskussion und die Sehnsucht nach Liebe, in der die „Tugend“ notwendigerweise auf den Prüfstand gestellt werden muss, weder von Gestern noch von Irgendwo ist. Bayern ist, so betrachtet, überall.

Und was meinen die Tugendapostel am Scheerauer Hof zu den „schlechten“ Frauen? Sie beziehen sich, leicht hämisch, auf Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse :

Die Julie des Jean Jaques ist wie tausend Julien oder wie Jean Jaques selber: sie beginnt mit Schwärmen, endigt mit Beten – aber das Fallen ist zwischen beiden.

Die „gefallene“ Frau – sie wäre nicht „gefallen“, hätte es nicht die Tugendwächter gegeben, die um des Prinzips, doch nicht um der Liebe willen verurteilten – und immer noch verurteilen. Und sie wäre nicht gestorben, wenn der tugendhafte Monsieur Rousseau sie nicht ermordet hätte.[5]

Leopold von Sacher-Masoch hatte es erkannt: mit der „Tugend“ dieser Art ist kein Staat zu machen:

An wahrhaft schlechten Frauen sei kein Mangel, und er ziehe es vor, sich von einem schönen dämonischen Weibe zugrunde richten zu lassen, als sich mit einer sogenannten tugendhaften Frau sein ganzes Leben zu langweilen und geistig zu versumpfen. Das Leben habe nur den Wert, den man ihm gäbe. Er schätze eine Stunde berauschenden Genusses höher, als ein ganzes Jahrhundert eines inhaltslosen Daseins.

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[1] „Vorbild“ der Wanda war Fanny von Pistor, die sich in einem berühmten Foto mit dem Dichter verewigen ließ.

[2] Abgesehen davon, dass hiermit der Gegenpol zum Sadismus ins Spiel kommt, der hier bereits eine Rolle spielte.

[3] Schlichtegroll? Natürlich: der Jeanpaulianer kennt den Namen – denn Friedrich von Schlichtegroll, der Urgroßvater des Carl Felix, war mit Jean Paul sehr bekannt. Im Bayreuther Jean-Paul-Museum kann man zwei Briefe des Dichters an Schlichtegroll entdecken. Auch er war übrigens ein Münchner; ab 1807 amtierte er hier an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er liegt auf dem Alten Südlichen Friedhof, in Englschalking hat man eine Straße nach ihm benannt.

[4] Die Begegnung mit Ludwig II. findet sich auch im Anhang zur Edition der Novelle, die der Insel-Verlag mit einem Text von Gilles Deleuze (Sacher-Masoch und der Masochismus) zum Druck befördert hat. Interessant ist, dass Deleuze dem Masochismus – neben anderen Kategorien, die ihn meist vom Sadismus abgrenzen – „Ästhetizismus“ zuweist: was auf ein kreatives Moment hindeuten mag.

[5] NB: Jean Paul war bekanntlich ein großer Verehrer Jean Jacques', dessen ersten Vornamen er zu seinem eigenen ersten machte (und dessen zweiten er in der Unsichtbaren Loge zweimal falsch schrieb – oder war dies das Versehen des Setzers?).

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