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12.11.2012, 18:17 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [31]: Über Doppelgänger und Doppelgänger

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Eine Variante Gustavs und Guidos: die Doppelgängerthematik begegnet einem bis heute in der Hohen Literatur.

Das Kind taucht wieder auf! Seltsames ist geschehen: der Knabe hatte sich im Wald verirrt, er wurde, so muss man annehmen, von einer Frau gerettet und dann, nach ein paar langen, längsten Tagen wieder gebracht – aber die Überschrift sagt uns, dass es sich hier um die „Gewaltsame Entführung des schönen Gesichts“ handelte.

Der Sache haftet unzweifelbar etwas Zweideutiges an. Das Kind ist verschreckt, es hat natürlich enormes Heimweh – der Dichter spricht von „Heimsucht“ –, er hielt sich in einer Stadt auf, bekam unversehens eine Schwester geschenkt – und wurde wieder zurückgesetzt. Ein Brief klärt uns über die Entführung auf, die Seltsamkeiten beginnen: die Frau, die diesen Brief schrieb, scheint eine Italienerin zu sein; sie habe sich, schreibt sie, im Angesicht Gustavs an ihren verschollenen Sohn Guido erinnert. Gustav und Guido – im Zeichen des GU treffen sich die beiden, auch in der totalen Ähnlichkeit. „Wieder ein Doppelgänger!“, denkt sich der germanistisch und „romantisch“ versierte Leser; er freut sich schon auf die köstlichen Kruditäten, die Verwirrungen, die folgen werden. Der Autor lässt uns spekulieren, er deutet an, er gibt Fingerzeige: der Rittmeister vermute, dass dieser andere Knabe mit der selben ersten Vornamenssilbe sein anderes Kind sei, die Verfasserin aber – die ich mir als schöne Italienerin vorstelle – seine verflossene Geliebte, „die ihm der Kommerzien-Agent Röper aus den Händen gewunden hatte“, und dann schreibt er noch: „Ich werde erst nachher sagen warum.“  Er wird es aber nicht sagen, der Kommentar teilt uns das jetzt schon mit. Ein Porträt fehlt auch nicht: es ist das Bildnis Guidos, das alle für das Konterfei Gustavs halten dürften.

Bis hierher könnte die storia vielleicht auch von E. T. A. Hoffmann ersonnen worden sein. Freilich begann Hoffmann erst Jahre später zu schreiben. Jean Paul steht, wenn ich es richtig sehe, mit dem Motiv des Doppelgängers am Anfang dessen, was einmal Mode werden wird: bis zur Gegenwartsliteratur. Jean Paul erweist sich wieder einmal als Avantgardist, mag das Motiv vielleicht (!) auch gelegentlich vorher angeklungen sein.