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17.11.2013, 15:42 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [283]: Weibliche und männliche Ohnmachten

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Pietro Longhi, der Meister der Darstellung des venezianischen Gesellschaftslebens des 18. Jahrhunderts, hat 1744 eine Ohnmacht ins Bild gebannt. Lo svenimento befindet sich heute in Washington, 16 Jahre später – 1760 – hat Longhi eine Kopie des Bildes gemalt, die heute im Palazzo Leoni Montanari in Vicenza hängt. 1987 sah der Blogger die Kopie in einer entzückenden Longhi-Ausstellung in Berlin (damals noch in der alten, unvergesslichen Gemäldegalerie in Berlin-Dahlem), die die Banca Cattolica des Veneto ausgerichtet hatte: ausschließlich mit den Longhis des Palazzo Leoni Montanari. Der Katalog dieser Ausstellung war dem Blogger durch die sog. Zeitläufte abhanden gekommen; erst vor wenigen Tagen konnte er ein Exemplar dieses Hefts kostenlos erwerben: gerade rechtzeitig, um sich wieder an Longhi zu erinnern, in dessen Werkverzeichnis (Terisio Pignatti: L'opera completa di Pietro Longhi. Rizzoli Editore, Milano 1974) ich Folgendes über das Originalgemälde lese: es würde als capolavori, also als Hauptwerk Longhis betrachtet werden. Im Übrigen: falls Sie den Blogger mal zufällig in Venedig treffen wollen, können Sie ihm vielleicht in der Ca' Rezzonico begegnen. Nicht zuletzt aufgrund der Longhis.

Oefel, der Lügner, fällt vor Beata in Ohnmacht, um sie weich zu kochen – doch tut er nur so, um ihr Mitleid, damit ihre „Liebe“ zu erregen. Normalerweise fallen ja, besonders im 18. und 19. Jahrhundert (nicht zuletzt aufgrund der krankhaft engen Schnürkorsetts), die Damen in Ohnmacht, aber es wundert mich doch, Folgendes zu lesen:

Doch nicht nur das weibliche Geschlecht ist vor einer Ohnmacht nicht gefeit, wie Beenen[1] abschließend mittels eines Films zeigte – mit vielen umkippenden Männern vorm Traualtar. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt? Nun, wie sagte Beenen doch noch? „Ohnmacht hat stets auch eine seelische Komponente.“[2]

Ohnmacht hat stets auch eine seelische Komponente... Beata könnte also annehmen, dass Oefel nicht flunkert, wenn er ihr einen „Sondier-Tod“ und „Vexier-Selbstmord“ vormacht. Gustav ist nun frustriert über Oefels „Glück“, denn jener Kerl nimmt an, dass Beata tatsächlich in ihn verliebt sei, weil sie ja unter den Hofdamen besonders sensibel ist. Gustav sieht nur nicht, was wirklich los ist, weil er Oefels Eitelkeit nicht in Betracht zieht. Guter Schlussaphorismus der Sequenz:

Ein Freund inokuliert sich unserem Ich so sehr und verwächst damit, dass wir seine Eitelkeit so leicht wie unsre eigne und aus gleichen Gründen übersehen.

Nachtrag

Man hätte auch gern gewusst, was ein Schal-Fichus ist, unter dem Beatas Herz schlägt. Da der Kommentar eine Antwort verweigert, muss man wieder am bekannten Orte nachschlagen. Also:

Fichu ist der französische Begriff für ein dreieckiges oder quadratisches, diagonal zu einem Dreieck gefaltetes Tuch, das Hals und Dekolleté von Frauen bedeckt.

Es ist seit dem 17. Jahrhundert Teil der Kleidung von Frauen vor allem der Unter- und Mittelschicht und seit dem 19. Jahrhundert Teil der meisten Trachten. Neben der wärmenden Funktion, die durch die Mode tiefer Ausschnitte nötig wurde, erfüllt das Fichu auch Anforderungen der jeweils gültigen Vorstellung von Anstand, indem es den Ausschnitt bedeckt, kann aber auch erotisch wirken, wenn es eher ent- als verhüllend arrangiert oder (wie in den 1780ern) über der Brust aufgebauscht wird, um mehr vorzutäuschen als vorhanden ist.

Das Fichu ist meist aus weißem Leinen oder weißer Baumwolle anzutreffen, evtl. mit Stickerei verziert, im 18. Jh. auch aus bedrucktem Baumwollstoff, ab dem 19. Jahrhundert und bei Trachten auch aus Seide, mit oder ohne Fransen.

Und schon hat man eine konkretere Vorstellung von Beatas Äußerem. Longhi malte seine in Ohnmacht gefallene signorina übrigens ohne ihren Fichu. Vermutlich hatte sie auch keinen (denn gehörte sie der Unter- oder Mittelschicht an? Wohl kaum).

Es sieht auch schöner aus.

1789 malte der in Kopenhagen geborene, dann in Boston arbeitende Christian Gullager die Lady Elizabeth Sewall Salisbury (also Mrs. Samuel Salisbury): nicht ohne ihren Fichu. Etwa zwei Jahre später, genau in der Logen-Zeit, entstand sein Porträt der Mathilda Davis Williams:

Eine junge Lady aus dem US-Amerikanischen Paralleluniversum der Jean-Paul-Zeit.

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[1] Nobert Beenen, leitender Oberarzt der Neurologie am Knappschaftskrankenhaus (was für ein Titel!), im Juni 2010 beim WAZ-Medizinforum in Recklinghausen, wo der Blogger – einen Tag vor Beginn der Wagner-Rallye – im Jahre 2004 den charismatischen Christoph Schlingensief interviewen durfte, der gewiss manch Zuschauer in die innere Ohnmacht getrieben hat.

[2] Teilte Sabine Kruse mit.

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