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25.10.2013, 10:54 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [263]: Als würden wir vom lauen Himmel Italiens eingezogen ...

Friedrich Wilhelm Rust, nie gehört? Dabei war der Mann mal eine Größe: Hochfürstlich Anhaltisch- Dessauischer Musikdirektor, Komponist bedeutender Melodramen und aparter Kammermusikwerke. Geboren wurde er im Jahre 1739 in Wörlitz – also dort, wo er später auch Karriere machte –, gestorben ist er 1796: in Dessau[1], wo er Musikdirektor war.

Ein paar Stichworte zu seiner Biographie: Er besuchte das Gymnasium in Köthen, studierte dann Jurisprudenz in Halle, in Zerbst erhielt er seine erste musikalische Ausbildung, Wilhelm Friedemann Bach gehörte zu seinen Lehrern, auch, in Berlin, Franz Benda – der Bruder Georg Bendas – und Carl Philipp Emanuel Bach, dessen Vater Rust besonders schätzte. Dann ging es mit  Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau – dem Initiator des Wörlitz-Dessauer Gartenparadieses – nach Italien. Auf seiner musikalischen Kavalierstour traf er Leute wie Giuseppe Tartini. Dann zurück nach Dessau, wo er einige Jahre als Pädagoge diente. 1775 war es soweit: Er wurde zum Nachfolger des großen Johann Friedrich Fasch ernannt, damit Hofmusikdirektor und Leiter des Dessauer Theaters. Als Goethe im folgenden Jahr nach Wörlitz kam, lernte er Rust kennen – und er war begeistert: der Mann eignete sich, so Goethe, vortrefflich für die Vertonung seiner Gedichte.[2] Wanderers Nachtlied nannte Wilhelm Hosäus „vielleicht die beste der Compositionen dieses Liedes“.

In der Tat klingen Rusts Werke, soweit sie noch angehört werden können, elegant, glutvoll, sensibel. Er vermittelte mit seiner Ästhetik, so heißt es im Allgemeinen, zwischen Haydn/Mozart und Beethoven, ja: „Wir begegnen hier melodischen, harmonischen und rhythmischen Führungen, wie wir sie viel später erst bei Weber und Schubert, ja bei Chopin und Liszt  wiederfinden“ (steht 1890 in der ADB). Mit anderen Worten: Rust war ein Vertreter jener Vorromantik, die über Gluck und Mozart zu E.T.A. Hoffmann (seiner operngeschichtlich wichtigen wie klanglich wunderbaren Undine) und Wagner führte. Dass er auf den 2000 Seiten von Norbert Millers und Carl Dahlhaus' Europäische Romantik in der Musik nicht erwähnt wird, nicht einmal in einer Fußnote des Ersten Bandes, der den Jahren bis 1800 gewidmet ist, ist wohl eher ein Versehen. Hört man nämlich genau hin – etwa in das Melodram Colma, einer interessanten Abfolge aus Melodram und Arie, dessen Text sich Goethes Werther verdankt, und dessen Musik sowohl dem rhythmisch-perkussiven Spätbarock wie der aufbrechenden Vorromantik angehört –, dann nimmt man die Moderne jener Zeit wahr, die ziemlich elementar in Jean Pauls Jugendzeit hinein wehte und die empfindsamen Gemüter dramatisch und seelenbewegend anhauchte.

Rust war fleißig: er schuf Kantaten, Oden und weitere Melodramen, etwa Inkle und Jaryko. Den Text dieses Melodrams schrieb Johann Friedrich Schink[3], der ein Schüler Johann Friedrich Patzkes war, welcher nach Halle gezogen wurde von Baumgarten, der ein Anhänger Christian Wolffs war, welcher seinen Lehrer Christian Gryphius rühmte, einen Sohn des bekannten Andreas Gryphius, welcher von Johann Botsack verpflegt wurde, der ein ideologischer Kollege Johann Hülsemanns war, welcher mit dem nicht ganz unbedeutenden[4] Gerhard Johannes Vossius bekannt war, welcher bei Peter Molinäus Philosophie studierte, der zu Franciscus Junius zog, welcher von Johann van den Corput erzogen wurde, der ein Mitarbeiter des Grafen Wilhelm Ludwig von Nassau-Dillenburg war, welcher direkt mit „Wilhelm dem Schweiger“, also Wilhelm I. von Oranien familiert war, welcher mit Anna von Egmond verheiratet war, die mit Lamoral von Egmond verwandt war, der durch ein Trauerspiel bekannt blieb, das geschrieben wurde von Goethe, dessen Gedichte von Friedrich Wilhelm von Rust vertont wurden.

Die Welt ist eine Kugel. Wenn man irgendwo anfängt, geradeaus zu laufen, kommt man irgendwann wieder an den Ausgangsort zurück.

Allein wer kennt noch Fingal in Lochlie, Inamorulla (nach dem Fantasiedichter Ossian) und Colma? Wer kennt noch das Schäferspiel Korylas und Lalage? Die ADB vermeldet weiterhin: „Von Rust’s Arbeit wird besonders der in tiefen Schmerz getauchte Monolog des gefesselten Kombana: ‚Torkul, mit Locken des Alters‘ als Meisterstück declamatorischen Gesanges gerühmt.“ Es dürfte nun leicht sein, sich über die Titel dieser verschwundenen Werke lustig zu machen und das Genre des Schäferspiels oder des Melodrams als anachronistisch verstaubt zu brandmarken. Wer, beispielsweise, Martina Gedeck in Bendas Medea oder Colma einmal mit einer guten Sängerin und Sprecherin erlebt hat, wird begriffen haben, dass jede Zeit ihre eigene Modernität besitzt, die, wenn's glückt, noch bis in die Gegenwart ausstrahlt.

Rust blieb allerdings weniger als Melodramatiker denn als Instrumentalkomponist in Erinnerung: als Verfertiger schöner, anspruchsvoller Sonaten für diverse Streichinstrumente. Musik der Empfindsamkeit. In seinen letzten Jahren widmete er sich diesen Genres, auch der Kirchenmusik, deren Sprache sich der Gegenwartskunst eines Mozart und Haydn annäherte. „Seine Compositionen verlangen“, schrieb Herr Hosäus 1890 in der ADB, „sämmtlich tüchtige Spieler, und doch tritt nirgends die Technik um ihrer selbst willen auf. Seine Lehre vom Wortaccent führte überall zu knapperer Form und dramatischerer Haltung, und wenn die jüngeren Componisten das Ziel nicht immer erreichten, so beweist dies nur den Mangel an productiver Begabung, an künstlerischem Vermögen. Zum Ausdruck voller subjectiver Innerlichkeit führte erst später Mozart die Musik weiter. Einen glücklichen, ebenso originellen wie lebenskräftigen Uebergang von Gluck zu Mozart bildet aber auf diesem Gebiete Rust, so dass wir – wohin wir blicken – in ihm eine wenn auch immer mehr zur Anerkennung gelangende, doch bis jetzt noch nicht vollkommen gewürdigte geschichtliche musikalische Persönlichkeit zu verehren haben.“

Rust, ein „Kleinmeister“. Was ist ein „Kleinmeister“? Ein einstmals größerer oder großer Meister, den die Zeit und das Vergessen klein gemacht haben.

Jean Paul wusste noch, was er am Zeitgenossen hatte. Nun schildert er eine Szene, in der der Dessauer Meister seinen Auftritt erhält. Gustav nämlich betritt die Wohnung der Bouse, um ihr sein Selbstporträt zu bringen, und er erblickt Laura – und Beate am Klavier:

Sein einziger Wunsch war, die Elevin wäre außerordentlich dumm und sänge alles falsch, bloß damit die reizende Diskantistin ihr öfter vorsänge. Es war jenes göttliche „Idolo del mio cuore“ von Rust, bei dem mir und meinen Bekannten allemal ist, als würden wir vom lauen Himmel Italiens eingezogen und von den Wellen der Töne aufgelöset und als ein Hauch von der Donna eingeatmet, die unter dem Sternen-Himmel mit uns in einer Gondel fährt....

Als würden wir vom lauen Himmel Italiens eingezogen und von den Wellen der Töne aufgelöset... Man darf das gern für „Kitsch“ halten, aber wer die Musik Rusts einmal gehört und seinen zeitgenössischen Rang erkannt hat, wird Jean Paul zustimmen. Der Mann verstand einfach sein Handwerk – so wie der Dichter, der die rechten vorromantischen Töne fand, um die musikalischen Zaubertöne in der Melodie seiner Sätze einzufangen.

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[1] Aus Dessau stammte auch Wilhelm Müller, der 1826 die Rollwenzelin besuchte.

[2] Rust schrieb keine Musik zu Schauspielen Goethes. Dies erklärt auch, dass er im ausgezeichneten, überaus gründlichen ersten Supplementband des Goethe-Handbuchs, das „Musik und Tanz in den Bühnenwerken“ gewidmet ist, nicht vorkommt.

[3] Das in zwei Tagen hingeworfene Trauerspiel Adelstan und Röschen, nach der bekannten Ballade Höltys, erregte schon 1776 die Aufmerksamkeit der damaligen Kritiker; doch gründete er seinen Ruf erst durch das Trauerspiel Gianetta Montaldi (1777), das ihm auch den in Hamburg ausgesetzten Preis von 20 Friedrichsd’or eintrug.

[4] Auch, weil der Blogger ihn in seiner Magisterarbeit erwähnte.

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