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Ein Besuch in der Bibliothek der Ukrainischen Freien Universität in München

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Die Ukrainische Freie Universität (UFU) ist eine private Exil-Universität, die 1921 in Wien gegründet wurde, nach Prag übersiedelte und seit 1945 ihren Sitz in München hat. Sie ist damit nicht nur eine der ältesten privaten Bildungseinrichtungen in Deutschland, sondern auch die weltweit einzige Hochschule außerhalb der Ukraine mit Ukrainisch als Unterrichtssprache, seit 1978 mit Promotions- und Habilitationsrecht. Katrin Hillgruber stellt die bewegte Geschichte dieser Universität und ihrer Bibliothek vor. 

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Stolze 104 Jahre ist die Ukrainische Freie Universität alt. Gegründet wurde sie am 27. Januar 1921 in Wien. Als die Rote Armee 1920 nach Kiew kam, hätten sich zahlreiche Professoren und Intellektuelle für das Exil entschieden, erläutert der junge Historiker Dr. Roman Tiutenko, der als Referent für Studienberatung an seiner Alma Mater arbeitet. Noch im Gründungsjahr wurde die UFU nach Prag verlegt, einer Einladung des fortschrittlichen tschechischen Präsidenten Tomáš G. Masaryk folgend. Doch mit dem Heranrücken der Roten Armee gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nahm die Universität Kontakt mit der US-Besatzung auf und verlegte ihren Sitz endgültig nach München, wo sich 1950 auch Radio Free Europe ansiedelte. 1995 ging der Sender den umgekehrten Weg: Er wählte auf Einladung des tschechischen Präsidenten Václav Havel Prag als Hauptsitz.

Die enge Verbundenheit der Ukrainischen Freien Universität zu den USA beweist bis heute eine dortige Stiftung, die ihr, der Bildungseinrichtung, mit Zuschüssen für Stipendien und Betriebskosten hilft. Das ist bitter nötig, weil sich die Zahl der Studierenden seit Ausbruch des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 deutlich erhöht hat. Viele von ihnen sind traumatisiert.

„Wir haben konstant Zulauf“, sagt die Rektorin Professor Dr. Maria Pryshlak: „Zahlreiche Universitäten in der Ukraine sind geschlossen und wurden bombardiert. Diejenigen, die noch funktionieren, sind völlig überlaufen. Viele Doktorandenprogramme wurden auf Eis gelegt.“ Maria Pryshlak ist nach Jaroslawa Melnyk erst die zweite Frau in der illustren Reihe der Rektoren und leitet die UFU seit 2016. Für diese Aufgabe sei sie das zweite Mal aus ihrem Ruhestand zurückgekehrt, erklärt sie lachend. Die Tochter ukrainischer Flüchtlinge wurde in einem Displaced-Persons-Lager in München geboren und ist in New York aufgewachsen. An der Georgetown-University Washington D.C. hat die Historikerin ihre Hochschulkarriere begonnen, die sie unter anderem an die Lazarski-Universität in Warschau führte, wo sie Prorektorin und später Präsidentin war: „Man muss flexibel sein und ein offenes Ohr für die Bedürfnisse der Studierenden haben“, betont sie.

Knapp 500 Studierende sind derzeit an der UFU eingeschrieben, vor dem Krieg waren es 200. Hinzu kommen etwa 150 Kommilitonen aus der Ukraine, die per Fernunterricht teilnehmen. Das Semestergeld beträgt 600 Euro. Die UFU ist die einzige Hochschule außerhalb der Ukraine, an der auf Ukrainisch gelehrt wird. Ihr Status als Privatuniversität ist im bayerischen Hochschulgesetz verankert. Es gibt Bestrebungen, ihre Abschlüsse weiter anzuerkennen und institutionell gleichzustellen.

Seit dem vergangenen Herbstsemester ist die UFU Untermieterin auf Zeit der Hochschule für Philosophie in der Kaulbachstraße, praktischerweise in Nachbarschaft des Osteuropa-Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität. Dort musste sich die UFU allerdings auf 600 Quadratmeter verkleinern, vorher konnte sie eine mehr als doppelt so große Büroetage der Versicherungsgesellschaft Münchener Rück nutzen. Ein dauerhafter Standort für den Lehrbetrieb wird nach wie vor dringend gesucht.

Das Herz der Ukrainischen Freien Universität schlägt aber weiterhin in ihrem Hauptgebäude, einem unauffälligen grauen Haus in der Nymphenburger Barellistraße. Dort ist auf mehreren Etagen einschließlich Keller die mit ca. 35.000 Bänden zweitgrößte ukrainische Bibliothek außerhalb des Landes untergebracht. Die Bücher haben den Unterrichtsbetrieb schon lange verdrängt.

„Außerhalb der Ukraine ist das hier die wichtigste Bibliothek in Europa“, unterstreicht Peter Hilkes. Der gebürtige Rheinländer hat Osteuropakunde bei Oskar Anweiler in Bochum studiert, an den er sich mit großer Dankbarkeit erinnert. Seit 2006 ist der Slawist Lehrbeauftragter für ukrainische Landeskunde der LMU. Mit seinen Studierenden kommt Hilkes mehrmals in der Woche nach Nymphenburg. Er kennt die Bibliothek aber schon seit Mitte der 1990er-Jahre. Damals hätten noch die Anhänger des ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera dominiert und ihre Meinung in der Lemberger Zeitschrift „Weg des Sieges“ kundgetan, die es nach wie vor gibt. Bandera wurde im Oktober 1959 in der Münchner Kreitmayerstraße von einem KGB-Agenten mit einer eigens konstruierten Blaugas-Pistole ermordet. Sein Grab auf dem Waldfriedhof ist bis heute eine Pilgerstätte seiner Anhänger.

Die größte ukrainische Auslandsbibliothek befindet sich allerdings im ukrainisch-kanadischen Institut in Edmonton: Das Canadian Institute of Ukrainian Studies (CIUS) wurde 1976 an der University of Alberta gegründet, mit einer Zweigstelle in Toronto. „Die UFU hat immer Ukrainisch als Kommunikations- und Vorlesungssprache gehabt“, erklärt Peter Hilkes: „Damit hat sie dazu beigetragen, dass auch solche Figuren wie ich Ukrainisch sprechen, und hat ganz viele wichtige Impulse nach außen vermittelt. Übrigens auch in die Sowjetukraine hinein. Und dank Radio Liberty und Radio Free Europe gab es auch während des Kalten Krieges Material und Kontakte, was zum Beispiel Publikationen von Dissidenten ermöglicht hat.“

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Die Archivalien in der Barellistraße reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Neben zumeist historischen und juristischen Büchern umfassen sie komplette Zeitungsjahrgänge und zahlreiche Nachlässe. Zeitungen aus mehr als zwanzig Ländern sind vertreten, die vom Alltag der ukrainischen Diaspora in Ländern wie Brasilien, Polen, Großbritannien oder Kanada berichten. Die Fotosammlung mit etwa 200 Exemplaren zeigt unter anderem Synagogen und Kirchen in der Zentral- und Nordukraine, die in den 1920er-Jahren auf Geheiß der Sowjets zerstört wurden. „Diese Bestände sind ein Abbild dessen, was Osteuropaforschung ist und war“, erläutert Peter Hilkes: „Insbesondere haben wir hier eben Lexika und Nachschlagewerke, alles Mögliche in unterschiedlichsten Sprachen. Und das kennzeichnet eben auch die Bibliothek und diejenigen, die die Universität in dieser Aufbauphase in München begleitet haben. Diese Hochschullehrer und andere Personen waren sehr eng verknüpft mit der Wissenschaft in Bayern, mit der LMU und mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen.“

Während des Kalten Krieges war die Ukrainische Freie Universität eine der wenigen Stellen, an denen unabhängig zur Ukraine geforscht werden konnte. In der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde das sogenannte Kleinrussland meist als Teil des eigenen Kulturraums dargestellt. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit 2014 hat die Bedeutung der UFU weiter erhöht. Dazu trägt auch die Fakultät für Ukrainistik bei. Sie legt Wert auf die Wiederentdeckung von Schlüsseltexten der Nationalliteratur, etwa von Lesja Ukraїnka oder des Philosophen und Laientheologen Hryhorij oder Gregorius Skoworoda (1722-1794). Sein Geburtshaus mit integriertem Museum in der Nähe von Charkiw wurde von den Russen gezielt bombardiert.

Derartige Angriffe sind Teil einer Strategie, die ukrainische Kultur und Geschichte auszulöschen. Angesichts solcher barbarischen Akte bringt sich die UFU heute mehr denn je als Institution aktiv in den ukrainischen Existenzkampf ein. Außerdem gelte es, das deutsche Publikum mit der ukrainischen Kultur noch vertrauter zu machen, sagt Professorin Maria Pryshlak. Alle öffentlichen Veranstaltungen erfreuen sich großer Beliebtheit. Gemeinsam mit dem LMU-Institut für Osteuropastudien gibt es Pläne für die Gründung eines ukrainischen Kulturzentrums.

Seit 2006 Lehrbeauftragter für ukrainische Landeskunde der LMU: Slawist Peter Hilkes © privat

Beim Rundgang durch die Regalreihen betont Peter Hilkes die Bedeutung der UFU-Bibliothek während des Kalten Krieges: „Jedenfalls war es so, dass sich die Universität von Anfang an darum bemüht hat, alle ukrainischen Themen zu sammeln, dazu Material einzuholen und zu publizieren in einer Zeit, wo das schwierig war, wo wir den Kalten Krieg hatten und danach im Rahmen der Entspannungspolitik, wo man ja viele Dinge nicht anpacken wollte. Dabei waren die Rahmenbedingungen eben nicht so wie in Harvard, Stanford oder in Princeton, sondern häufig ganz primitiv und schwierig, weil man einfach überleben musste, aber trotzdem etwas publizieren wollte.“ Und er ergänzt: „Dementsprechend hat man dann Dinge veröffentlicht, die wichtig waren zur ukrainischen Geschichte, Sprache und Kultur. Es wurden auch Publikationen herangezogen und aufbereitet, die zum Teil in der nicht ukrainischen Fachwissenschaft sehr skeptisch betrachtet wurden, die aber einfach da waren. Also für mich sind alle Quellen Quellen, und man kann natürlich auch aus solchen Quellen etwas herausziehen.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte die ukrainische Diaspora in München ca. 50.000 Menschen, von denen die meisten in Displaced-Persons-Lagern untergebracht waren. Viele von ihnen wanderten nach der Währungsreform 1948 in die USA und nach Kanada aus, ein Teil blieb aber auch hier. Hinzu kamen viele Arbeitsmigranten.

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Beim Betreten des ersten Stocks wird vielfarbig sichtbar, welchen immensen kulturellen Schatz die Ukrainerinnen und Ukrainer in den DP-Camps unmittelbar nach Kriegsende geschaffen haben, am Zeichenblock und an der Schreibmaschine. Denn ein besonders kostbarer Teil der UFU-Bibliothek besteht aus der Sammlung von Zeitschriften, wie einer „Publikation für die ukrainische Jugend“, einer Vielzahl von Frauentiteln oder „Watra“ (Feuerstelle) für Senioren. „Die Frauen haben sehr intensiv publiziert, nicht nur in den DP-Camps, sondern auch danach, was auch zu tun hat mit der Idee der Frauenunion. Es gibt ja bis heute den Ukrainischen Frauenverband in der Schönstraße 55, der eine herausragende Sozialarbeit betreibt“, erläutert Peter Hilkes.

Eine zentrale Rolle bei der Reflexion über das gesellschaftliche und politische Leben sowohl in der Ukraine als auch in der Diaspora spielten Satirezeitschriften wie „Komar“ (Mücke). Einige der wertvollen Originale waren in der Ausstellung „Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg" (2022) im Münchner Stadtmuseum zu sehen. „Ganz wichtig wäre, dass mit dem Material anders umgegangen wird, man müsste auch Handschuhe tragen“, zeigt sich Peter Hilkes besorgt: „Ich hoffe, das setzt sich noch durch. Es muss sich durchsetzen, denn sonst ist das Material verloren.“

„Komar“ nutzte das Mittel der Satire, um die politischen und sozialen Verhältnisse in der Sowjetunion zu kommentieren. Besonders auffällig ist die Ausgabe vom April 1948 mit einer Karikatur, auf der ein ukrainischer Kosake den sowjetischen Diktator Josef Stalin in einem offenen Gewässer untertaucht. In einer Hand hält Stalin ein Buch mit dem Titel „Plan zur Liquidierung der Ukraine“. Die Zeitschrift kritisierte jedoch nicht nur die sowjetische Politik, sondern reflektierte auch die prekäre Lage der hiesigen ukrainischen Displaced Persons: Ein Heft zeigt die Karikatur eines wohlgenährten US-amerikanischen Kapitalisten, der ausgezehrte Flüchtlinge für die Ausreise in die USA anwirbt. Später erschien „Komar“ in Kanada.

Um die einmaligen Originalausgaben von „Komar“ und anderer wichtiger Sprachrohre der ukrainischen Diaspora zu bewahren, müssen die Bibliotheksbestände schnellstmöglich digitalisiert werden. Öffentliche Institutionen wie der Bund und die Bayerische Staatsbibliothek, aber auch die Siemens-Stiftung haben ihr Interesse signalisiert, das laufende Pilotprojekt zu unterstützen. Der erste Schritt ist die Digitalisierung des UFU-Bibliothekskatalogs in Zusammenarbeit mit dem Digitalen Forum Mittel- und Osteuropa (DiFMOE). Ivan Zaritskyi jedenfalls, der freundliche Bibliothekar in der Barellistraße, hat alle Hände voll zu tun.