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10.04.2025, 15:41 Uhr
Thomas Kraft
Text & Debatte

Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 10: Friedrich Huch, Pitt und Fox (1909)

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Foto Friedrich Huchs, 1873-1913 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren –  darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.

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Der erste Eindruck: Pitt und Fox. Die Liebeswege der Brüder Sintrup liest sich fast in einem Atemzug: Pitt, ein melancholischer Hamlet, mit Gontscharows „Oblomow“ verwandt, und sein Bruder Fox, ein Spieler wie Felix Krull. Die Söhne wohlhabender Fabrikanten widmen sich ausgiebig sowohl ihrem Studium als auch den Frauen. Das Ergebnis sind aufwühlende Emotionen, eine ungewollte Schwangerschaft, der emanzipierte Rückzug einer Frau und ein unerwarteter Beziehungswechsel von Pitt zu Fox – ganz im brüderlichen Einvernehmen. Am Ende finden jedoch alle die passenden Partner.

„Es wird uns“, so heißt es in Friedrich Huchs Selbstrezension, „die Jugend- und Jünglingsgeschichte zweier ungleicher Brüder und Fabrikantensöhne aus gutem Bürgerhaus erzählt, die für beide in einer Heirat endet.“ In der verspielten Atmosphäre des Fin de Siècle, zwischen bürgerlichem Geschäftssinn und Dekadenz, konfrontiert der Roman seine Leser mit zwei Lebenshaltungen: „Pitt – so nannte Philipp Sintrup sein Spiegelbild, als er es als kleines Kind zum ersten Mal erblickte und mit dem Finger berührte. Die Familie heftete den Namen an ihn, und mit einer Art von Folgerichtigkeit ward nun sein jüngerer Bruder nur noch Fox gerufen. Pitt war es gleichgültig, wie er hieß. Fox dagegen wehrte sich gegen den ihm aufgehängten Namen, ohne dass er ihn vertreiben konnte.“

Die beiden Brüder sind höchst unterschiedlich: Fox von träge aufbrausendem Wesen und von einer großspurigen Selbstwahrnehmung geprägt, während Pitt, der in seiner stillen Bescheidenheit glänzt, nicht nur ein außergewöhnliches Talent besitzt, sondern auch das Abitur als einer der Besten seiner Jahrgangsstufe abschließt. Pitt verkörpert die „vornehme, feingeistige Hamletnatur“, während Fox als optimistischer Draufgänger erscheint, ein Exponent des „Typus unserer auf ungestüme Tatenlust posierenden Zeit“, wie es treffend beschrieben wird. Fox, der Spross und zukünftige Repräsentant des deutschen Großbürgertums an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, verkörpert die aufkommende Schicht skrupelloser und erfolgsversessener Geschäftsleute. Diese neue Generation verschließt die Augen vor dem moralischen Zerfall, den sie selbst mit vorantreibt, und kompensiert dies durch die Schaffung passender Lebenslügen. Er ist der Karrierist, wie er im modernen Zeitalter zu finden ist.

Friedrich Huch, 1873 in Braunschweig geboren und später zur Münchner Boheme zählend, zeichnet mit psychologischem Gespür, feiner Ironie und klarem Stil die Konturen der beiden ungleichen Brüder in diesem komplexen Entwicklungsroman nach. Die Situation um die Jahrhundertwende ist fragil, das Neue kämpft gegen das Alte, Tradition gegen Moderne. Man ist immer noch bürgerlich und spießig, während bereits die Vorboten des Unkonventionellen an die Tür klopfen. Papas Seitensprünge, alte Kavaliersschule, höhere Töchter, duldende Mütter, alles ist angespannt, leicht kränklich, und man blickt mit gemischten Gefühlen auf das, was kommen wird. Man befindet sich in einem endlosen Gespräch, parliert und diskutiert, eine Vielzahl an Stimmen, die Huch meisterhaft komponiert. Zum Beispiel, wenn Pitt mit Elfriede flirtet: „Es setzte sich mit einer pirouettenartigen Drehung dicht vor Elfriede auf die Hinterbeine wie eine kleine Schildwache, den Rücken gegen ihr Kleid gelehnt, leckte sich den Mund, hob die Pfoten und blickte vernünftig drein aus seinen rötlich umränderten dunklen Augen, die so aussahen, als sei das Fell nicht genügend weit um sie herum ausgeschnitten. Elfriede durchschaute es völlig, lachte und stieß es leicht vorwärts. Es schnellte bis zur nächsten Straßenecke, blieb dann stehen, da es nicht wusste, ob man sich nach links oder geradeaus wenden würde, kam wieder zurück, bewegte ausnehmend läppisch sein Hinterteil und versuchte es dann unter den Bauch zu ziehen, da es dort besonders fror. So ein Tier, sagte Pitt, führt ein ideales Leben. Es tut das, was ihm der Augenblick eingibt, kennt keine Konflikte; Wollen, Fühlen, Handeln, alles ist wie ein einziger starker Schlag. Beneidenswerte Primitivität.“

Friedrich Huchs Roman Pitt und Fox ist ein Werk von tiefgründiger psychologischer Spannung, das die Komplexität menschlicher Beziehungen und die tiefen Widersprüche des Lebens in eindrucksvolle Literatur übersetzt. Der Autor entführt seine Leser in die Welt der Protagonisten, die sich als alles andere als einfache Figuren entpuppen, sondern in ihrer Zerrissenheit und inneren Zuwendung zueinander eine ausdrucksvolle Darstellung der menschlichen Existenz bieten.

Pitt und Fox erscheinen als zwei Individuen, die sowohl durch ihre Ähnlichkeiten als auch ihre Differenzen miteinander verbunden sind. Diese Konstellation von Figuren lädt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Themen wie Freundschaft, Identität und dem Suchen nach einem Lebenssinn ein. Besonders bemerkenswert ist Huchs Fähigkeit, durch differenzierte Dialoge und subtile Beobachtungen der zwischenmenschlichen Dynamiken ein komplexes Bild von emotionaler Intimität und innerer Zerrissenheit zu zeichnen. Denn alles scheint zu zerfallen: eine Liaison, die Familie, die Freundschaft, die bürgerliche Gesellschaft. Man kann das offenbar nur mit angeborener Melancholie ertragen. Dazu immer neue Figuren, neue Schauplätze, große Gesten und große Verluste. Alles wird erzählt. Die Mutter hinterlässt ein beträchtliches Erbe. Das Leben kann weitergehen. Der Schriftsteller Klabund nannte Pitt und Fox den „schönsten deutschen Roman um 1900“.

Friedrich Huch: Pitt und Fox. Die Liebeswege der Brüder Sintrup. Roman. Mit einem Nachwort von Georg Seidel. Milena Verlag, Wien 2022

Lesen Sie nächste Woche über den umstrittenen Autor Hanns Heinz Ewers und seine dunklen Fantasien.

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