Info
02.08.2013, 11:50 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
images/lpbblogs/logenlogo_164.jpg
Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [216]: Auch Musik kann keine Lebensprobleme lösen

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/loge/klein/loge216_laute_500.jpg
Musik macht nicht wirklich glücklich. Die Laute war einst das Instrument der Melancholiker, weniger euphemistisch ausgedrückt: der Depressiven. Giovanni Cariani hat im goldenen Zeitalter der Melancholie, der Renaissance, einem unbekannten Lautenspieler ein allegorisches Denkmal gesetzt: samt einsam wandernder Hintergrundgestalt.

Man kann noch so viel reisen – man wird immer bei sich bleiben. Man kann noch so sehr umherziehen – man wird ewig unerlöst nach etwas Anderem suchen.

Dies ist die Quintessenz aus Ottomars Brief, dies ist vielleicht schon die Quintessenz des Lebens. Ottomar scheint viel herum gekommen zu sein – weder der Rhein noch die Wolga noch der Guadiana (zwischen Portugal und Spanien fließt er dahin), weder die Alpen noch der Kaukasus befriedigen die Sehnsüchte seines Herzens. Die Frage muss offen bleiben:

Was ists denn da am Ende? Was wollt' ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit auf dem Stein meines Torwegs saß und sehnend dem Zug der langen Straße nachsah und dachte, wie sie fortliefe, über Berge schösse, immer immerfort...? und endlich?

Die Frage ist berechtigt, aber man merkt doch auch, dass Ottomar zur Depression neigt: „Ach ihr Freuden der Erde alle, ihr sättigt die Brust bloß mit Seufzern und das Auge mit Wasser, und in das arme Herz, das sich vor euerem Himmel auftut, gießet ihr eine Blutwelle mehr! Und doch lähmen uns diese paar elenden Freuden, wie Giftblumen Kindern, die damit spielen, Arme und Beine.“ Dem Mann scheint in seinem metaphysischen Elend – also wörtlich übersetzt: in seiner Heimatlosigkeit – nicht zu helfen zu sein. Interessanterweise schließt er in seine depressiven Überlegungen nun auch die schönste aller Künste, die Musik ein.

Nur keine Musik, diese Spötterin unserer Wünsche, sollt' es geben: fließen nicht auf ihren Ruf alle Fibern meines Herzens auseinander und strecken sich als so viele saugende Polypenarme aus und zittern vor Sehnsucht und wollen umschlingen – wen? was?... Ein ungesehenes, in andern Welten stehendes Etwas.

Der Satz kommt mir bekannt vor, denn Theodor W. Adorno hat ihn später paraphrasiert:

Musik provoziert Gefühle, die Musik nicht befriedigen kann.

Damit hat Adorno unterm Strich Recht behalten. Ich weiß nur nicht, ob Adorno hier nicht wieder das Regressive der Musik überbetont hat; er war ja nicht gerade als Pathetiker bekannt. Ich müsste vielleicht die Dissonanzen (Musik in der verwalteten Welt) und hier den Aufsatz Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens lesen, um den Satz zu finden. Tatsache bleibt, dass man dieses ewige Unbefriedigtsein vor Musik nicht über Gebühr problematisieren sollte. Es genügt, mit Ottomar darauf hinzuweisen, dass Musik keine Lebensprobleme lösen kann.

Jean Pauls eigene „Musiktheorie“ war wesentlich vielfältiger. Nicht allein, dass er Musik als Spiegel und Ausdruck der Seele anerkannt hat, ist entscheidend. Bei Ottomar geht es also eher dissonant zu: „und dann zerdrücke ich unter diesem phantastischen Unsinn die Klaviersaiten, als wollt' ich aus ihnen eine Quelle auspressen, als wär' es nicht genug, dass der Druck dieses Sehnens die dünnen Saiten meines innern Tonsystems verstimmt und absprengt....“ Jean Paul, der selber auf dem Instrument improvisierte, hat dagegen immer wieder auf die Heilkraft der Musik hingewiesen:

Wenn die Liebe uns verlassen, besucht uns doch die Musik.

Vielleicht hat er mit diesem Aphorismus eigene Erfahrungen verarbeitet. Ich selbst würde auch diesen Satz – gelegentlich – aus eigener Erfahrung unterschreiben (und ich glaube nicht, dass ich mit dieser Ansicht gänzlich allein im All stehe).