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18.03.2025, 18:48 Uhr
Pauline Graf
Gespräche

Gespräch mit Anatol Regnier über seine Kindheit, Träume als Schüler und die kollektive Verdrängung der NS-Zeit

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Foto: Mirco Taliercio

Der Autor und Gitarrist Anatol Regnier kam 1945 als Sohn der Schauspieler Charles Regnier und Pamela Wedekind zur Welt. Erst kürzlich erschienen seine Kindheitsmemoiren Erinnerungen eines Taugenichts im btb-Verlag. Ein Gespräch über eine Kindheit, umgeben von den großen Autoren und Schauspielerinnen der Münchner Nachkriegszeit, über Regniers Träume als Schüler am Maxgymnasium und über die kollektive Verdrängung der NS-Zeit.

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Theaterstücke in den Kammerspielen, Kabaretts im Vereinsheim, Musikabende rund um den Starnberger See: Die Wände in Anatol Regniers Flur sind übersäht mit Plakaten. Sonne fällt auf den Parkettboden und taucht die Wohnung in ein freundliches Licht. Anatol Regnier setzt Kaffee auf, dazu gibt es Blaubeerkuchen. „Und, wie geht es denn sonst so?“, beginnt er das Gespräch, das eigentlich von ihm handeln soll, von der Vergangenheit, von Regniers Aufwachsen in den 1950er-Jahren in der Schwabinger Künstlerszene. 

PAULINE GRAF: „Die Zeit ist still und dennoch voller Erwartungen.“ So beginnen Sie eines der Kapitel in Ihrer Autobiografie. Sie spazieren da als etwa 13- oder 14-Jähriger durch Schwabing und träumen vom Erwachsenenleben; von der Uni, vom ersten eigenen Moped, einer Freundin. Sie scheinen mit Vorfreude in die Zukunft zu blicken. Würden Sie sagen, dass Sie ein glückliches Kind waren?

ANATOL REGNIER: Ich bin überrascht, dass es so wirkt. Wirklich glücklich ist man als Kind doch fast nie. Meine Kindheit und Jugend verliefen zwar friedlich. Mir hat nichts gefehlt. Aber das habe ich ja nicht bewusst tagtäglich wahrgenommen. Wir haben ja nicht jeden Tag gedacht: Gott sei Dank geht es uns gut. Es war so, wie es war. Aber es war auch viel Unsicherheit dabei, was aus mir wird. 

GRAF: Liegt das in der Natur der Sache, am Erwachsenwerden? Oder an der Zeit, in der Sie groß wurden? 

REGNIER: Schon auch an der Erwachsenwerdung. Ich weiß nicht, wie es jungen Menschen heute geht, aber ich glaube, auch sie haben mit Unsicherheiten und Ängsten zu kämpfen. 

GRAF: Kann ich bestätigen.

REGNIER: Das ist zu einem gewissen Grad ja unausweichlich. Die Zeit damals war aber eine ganz andere. Es war eine sehr enge Zeit, mein Radius beschränkte sich lange auf den Starnberger See und auf Schwabing. Andererseits war es auch eine sehr sichere Zeit, denn der Krieg war vorbei und es war ganz klar, dass er so schnell nicht wiederkommen würde. Heute ist diese Sicherheit weg – heute findet Krieg vor der europäischen Haustür statt. Und es gibt andere bedrohliche Krisen, wie den Klimawandel. Das ist ein Unterschied.

GRAF: Die Autobiografie Ihrer Kindheit ist keine klassische Nachkriegsliteratur. Ihr Heranwachsen war nicht geprägt von Trümmern, von Armut und Rationierung.

REGNIER: Nein, nein. Der Hunger war mit der Währungsreform 1948 vorbei. Von da ging es nur noch aufwärts, wie einem die Erwachsenen auch immer wieder versicherten. 

GRAF: Denken Sie gern an Ihre Kindheit zurück? An das beschauliche Leben in der Dachgeschosswohnung an der Leopoldstraße, mitten in der Schwabinger Künstlerszene? 

REGNIER: (lacht) Also, ganz so beschaulich war es nicht. Sondern eher geprägt von der Nervosität meiner Mutter und von der Abwesenheit meines Vaters. Dann von der plagenden Schule, speziell im Maxgymnasium, wo ich völlig versagt habe. Danach durfte ich auf die Steiner-Schule wechseln. Dass meine Eltern mir das erlaubt haben, rechne ich ihnen hoch an. Überhaupt mache ich ihnen keine Vorwürfe.

GRAF: Wollten Charles Regnier und Pamela Wedekind, dass ihre Kinder einen künstlerischen Beruf ergreifen? War das mit einem Druck verbunden, wenn alle Erwachsenen um einen herum so erfolgreiche Kreative sind? Die allabendlich auf den großen Bühnen der Stadt stehen? 

REGNIER: Sie haben uns alle Freiheit gelassen. Ihre Zuneigung war nicht an unsere beruflichen Neigungen gekoppelt. Sie hätten es mir nicht verboten, Arzt oder Jurist werden zu wollen…

GRAF: ...oder Versicherungsangestellter.

REGNIER: …aber sie hätten sich gewundert. Gott sei Dank habe ich dann die Gitarre gefunden und meine Eltern konnten sagen: Jetzt ist der Anatol erstmal verräumt. Meine etwas exzentrische Mutter ist mir manchmal ziemlich auf die Nerven gegangen. Aber ihre Auftritte fand ich wunderbar, auch als Teenager. 

GRAF: Wie war es, sich in all diese Gefühle, auch in den Druck und in die Sorgen jetzt als Erwachsener für das Buch noch einmal hineinzuversetzen? 

REGNIER: Naja, das kommt drauf an, wie man gestrickt ist. Ich schreibe seit Jahrzehnten Tagebuch. Weil ich das Gefühl habe, dass sonst das Leben noch schneller vorbeigeht, als es ohnehin schon tut. Weil jeder Tag so eine Rechtfertigung und ein Erinnerungsdokument bekommt. Und so war es auch mit den Erinnerungen aus meiner Kindheit, als ich dieses Buch geschrieben habe. (Pause) Meine Schwester Adriana hat ganz andere, eigene Erinnerungen und sieht vieles vielleicht ganz anders. Erinnerungen sind subjektiv. 

GRAF: Das Buch ist aber nicht nur ein Zeugnis Ihrer persönlichen Gedanken als Jugendlicher, sondern auch der Atmosphäre in der Münchner Kunstszene nach dem Krieg. 

REGNIER: Ja, natürlich. Ich wurde unmittelbar vor Kriegsende geboren. In den Begegnungen mit Älteren schwang ihre emotionale Belastung mit. Sie alle hatten das Nazi-Regime erlebt und trugen alle ein Paket auf den Schultern, das war permanent spürbar und mir sogar als Kind immer wieder unterschwellig klar. Diese Schwere, über die sich eine oberflächliche Leichtigkeit gelegt hatte, war etwas sehr Typisches.

GRAF: Diese Gleichzeitigkeit beschreiben Sie auch in Ihrem Buch: Etwa, wenn Sie scheinbar nebenbei erwähnen, dass das Klacken der Lautsprecher im Maxgymnasium, wenn der Schulleiter eine Durchsage macht, klinge wie das Herannahen feindlicher Flugzeuge. Und Zack, plötzlich ist er wieder da, der Krieg – mitten im Klassenzimmer. 

REGNIER: Ja, diesen Vergleich sagte mir ein älterer Bekannter. Aber so wirklich konnte ich das nicht begreifen. Das Ausmaß von all dem, was vor nur ganz kurzer Zeit geschehen war, begriff ich erst im Ausland, vor allem natürlich in Israel, an der Seite meiner jüdischen Ehefrau, der berühmten Sängerin Nechama Hendel. 

GRAF: Wird es einem da unheimlich als Kind, bei so einem Vergleich?  

REGNIER: Als Kind wurde mir gruselig, nicht unheimlich. Versteht man den Unterschied? „Gruselig“, das ist wie Halloween, wenn ein Gespenst hinter der Tür lauert. „Unheimlich“, das ist echte Angst vor realer Bedrohung. Und das war das nicht. 

GRAF: Eine andere Art, wie die nationalsozialistische Vergangenheit in Ihre friedliche Kindheit einbrach, war in Form der Künstlerinnen und Schauspieler, die im NS-Regime tätig waren und auch nach dem Krieg weiter in den Schwabinger Kneipen saßen oder in Berlin Erfolge feierten. Etwa Gustaf Gründgens, Marianne Hoppe oder andere. 

REGNIER: Ja. All die Köpfe auf den großen, gemalten Filmplakaten an der Leopoldstraße oder über den Kinos hatten auch in den Propagandafilmen der Nazis gespielt. Da spürte ich als Kind gelegentlich schon eine Dissonanz, ein Unbehagen, aber nun ja, so war sie eben, unsere kollektive Verdrängung der Vergangenheit. Wo hätten sie auch herkommen sollen, die erwachsenen Künstler, wenn nicht aus der Nazizeit. Gesprochen hat man zumindest mit uns Kindern darüber nie. 

GRAF: Viele Künstlerinnen und Künstler kamen ja auch aus dem Exil zurück, etwa Erika Mann, die eine enge Freundin Ihrer Mutter war, oder Lotte Lenya, die Hauptdarstellerin vieler Stücke von Bertolt Brecht oder die berühmte Therese Giehse

REGNIER: Zwischen Heimkehrern und Hiergebliebenen gab es ein subtiles Hierarchiegefälle, das ich auch im Buch beschreibe. Man schaute auf zu den ehemaligen Emigranten, auch meine Eltern, die ja hiergeblieben waren, schauten auf. Man schämte sich, aber ging freundlich miteinander um, und natürlich wurde auch vertrauensvoll miteinander gearbeitet. Beide Seiten bemühten sich um einen Neuanfang. Ja, das war eigentlich das Gefühl, das meine Kindheit dominierte.

GRAF: Der Ambivalenz dieser illustren Persönlichkeiten, der Dunkelheit der deutschen Vergangenheit kurz vor Ihrer Geburt, dem „kollektiven schlechtes Gewissen“, von dem Sie schreiben – all dem haben Sie in Ihrem Leben mehrere Bücher gewidmet. Herr Regnier, wie bleiben Sie dennoch so ein optimistischer, fröhlicher Mensch? 

REGNIER: (Pause) Also erstens bin ich nicht immer optimistisch. Aber ja, ich habe ein positives Naturell, das nicht so schnell zu Despressionen neigt. Und zweitens: Auch wenn die Themen meiner Arbeit teils belastend waren – das Schreiben an sich bereitet mir ja Freude. Erst, als ich mich von der Gitarre ab- und dem Schreiben zugewandt habe, etwa im Alter von 50 Jahren, hat mein Leben richtig begonnen.