Der neue Roman von Takis Würger: „Für Polina“
Takis Würger, geboren 1985, besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und studierte Ideengeschichte in Cambridge. Er berichtete für den Spiegel aus Afghanistan und dem Irak. Seine Romane Der Club und Stella wurden beide zu Bestsellern und sind mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem aspekte-Literaturpreis. 2025 erscheint sein neuer Roman Für Polina bei Diogenes. Johanna Mayer hat ihn für das Literaturportal Bayern gelesen.
*
Es geschieht selten, dass wir innehalten. Dass wir uns unserer selbst bewusstwerden, sachte in uns hineinhören, welche Klänge da mit jedem Herzschlag ertönen. Häufig lässt uns das Leben keine Zeit dazu: Krieg, Klimakrise, KI, Neuwahlen, Stress, soweit das Auge reicht – in unserer schnelllebigen Welt ist es nicht schwer, aus dem Takt der eigenen Melodie zu geraten und sich selbst zu verlieren. Vielleicht – oder gerade deswegen – wird Musik in schweren Zeiten zum Rettungsanker für uns. Man muss nur Mozarts Klavierkonzerten lauschen oder Beethovens 5. Symphonie oder irgendeiner beliebigen Musik – sofort werden die Probleme weniger und kleiner, das eigene Dasein ist für einen Augenblick befreit von aller Schwere. Musik lässt uns alles vergessen, lässt uns alles und nichts fühlen.
Was könnte in dieser Zeitenwende also wunderbarer sein als ein Roman, der Musik, Leben und alles, was zum Leben gehört, miteinander verbindet – uns sanft an der Hand nimmt und zu unserer eigenen Melodie zurückführt? Einen solchen Roman hat der Schriftsteller Takis Würger mit Für Polina geschaffen.
Für Polina handelt von der Geschichte des musikalisch hochbegabten Hannes Prager und seinem Lebensweg, auf dem die 88 Tasten des Klaviers eine ebenso große Rolle spielen wie das Atmen. Der Roman beginnt mit Hannes Mutter Fritzi Prager, die kurz vor dem Abitur auf einer Italien-Reise schwanger wird und bei Hannes‘ Geburt im Krankenhaus auf die gleichaltrige Günes und deren neugeborene Tochter Polina trifft:
„Günes sagte, sie würde ihre Tochter Polina nennen, das sei ein Name aus ihrem liebsten Dostojewski … Dann legten sie ihre Kinder nebeneinander und schauten dem neuen Leben zu … Nach einer Weile spürten die Kinder einander und schmiegten sich zusammen, als würden sie die Wärme des anderen in sich aufnehmen wollen.“
Fritzi, die eigentlich in München (denn München ist zwar nicht ganz Italien, aber eben fast!) Jura studieren wollte, bezieht mit ihrem Sohn ein Zimmer in einer verlassenen, fernab der Stadt gelegenen Villa, die von dem mürrischen, im Grunde seines Herzens aber liebenswürdigen Heinrich Hildebrand bewohnt wird. Als schließlich noch Günes und Polina dazustoßen, scheint das Glück perfekt.
Während Polina sich als ein blitzgescheit, frech und schlagfertig entpuppt, ist Hannes ein verträumtes, stilles und in sich gekehrtes Kind. Niemand traut ihm eine höhere Begabung zu, bis er aus dem Nichts auf Hildebrands verstimmten Klavier Tschaikowskis Sonate in cis-Moll völlig fehlerfrei spielt. Immerzu ist Polina an Hannes Seite, und was am Anfang eine Kinderfreundschaft war, wird für Hannes mit der Zeit zur ersten Liebe seines Lebens. Die kleine heile Welt der Villa wird schließlich vom plötzlichen Tod Fritzi Pragers überschattet. Hannes zieht zu seinem leiblichen Vater nach Hamburg, weg von allem, was er kennt, und vor allem weg von Polina. Völlig erschüttert vom Tod seiner Mutter verschließt er sich immer mehr vor der Welt und gibt das Klavierspiel auf. Er beginnt nach dem Abitur in Hamburg bei einem Klaviertransport-Unternehmen zu arbeiten, der Kontakt zu Polina reißt schließlich ab. Die Leere, die Hannes in den folgenden Jahren umgibt, wird immer größer, bis er begreift, dass für ihn der einzige Weg zurück ins Leben die Musik ist – und Polina zu finden. Mit nur noch neun Fingern beginnt er wieder Klavier zu spielen mit dem einzigen Ziel, Polina mit der Melodie, die er für sie in Kindertagen komponiert hat, zu erreichen.
„Er setzte sich an den Erard und spielte. Er spielte nicht Haydn oder Grieg … Er spielte Hannes Prager. Mit neun Fingern spielte er Polinas Melodie, eine Variation, etwas Neues, das gleichzeitig etwas Altes war, aber er spielte, als hätte er zehn Jahre daran geübt. Oh ja, er spielte … Und die Menschen hörten ihn, als hörten sie Licht … Es war keine Zauberei. Oder vielleicht doch? Wann war Musik jemals etwas anderes als Zauberei?“
Dass seine Musik jeden, der sie hört, verändert und beflügelt, ist ihm zunächst nicht bewusst. Schließlich kommt es im Münchner Prinzregententheater – dem letzten Stopp seiner ersten Welttournee – zum entscheidenden Showdown, der über Hannes‘ Leben entscheidet.
So wunderbar und geradezu magisch Hannes Pragers Geschichte ist, so fantastisch ist der Roman erzählt. Takis Würger schreibt nicht nur spielerisch und leicht – es ist vor allem das Ehrliche, Glaubhafte und Menschliche in seinen Worten, das den Roman so meisterhaft macht. Nichts gibt einem das Gefühl von Arroganz oder Unehrlichkeit, jede Seite strahlt von dem Wissen, dass diese Geschichte eine der wahrhaftigsten in der neueren deutschsprachigen Literatur ist.
Zugleich reiht Würger sich mit seinem Buch in eine lange Reihe an berühmten Diogenes-Romanen ein: Für Polina erinnert – ohne zu kopieren – an Das Parfum von Patrick Süskind, an Vom Ende der Einsamkeit und Hard Land von Benedict Wells, ein wenig auch an die Romane eines Martin Suter. Fast scheint es, als hätte Würger das Beste aus diesen Werken in Für Polina zusammenfließen lassen: Ein wenig Genie, ganz viele Träume und eine unstillbare Sehnsucht nach mehr. Doch es sind vor allem die Figuren, die dem Roman Authentizität und Tiefe geben. Ob Fritzi Prager, die ihr Leben ihrem Sohn widmet, ob Polina, hinter deren Schlagfertigkeit sich eine solche Verletzlichkeit verbirgt, oder ob Hannes selbst, der die wundersamsten Melodien hervorbringt: Die Figuren sind so nahbar, so zerbrechlich und zugleich so voller Leben, dass sie einem im Laufe des Lesens ans Herz wachsen und man nur noch eines will: dass sie glücklich werden.
Für Polina ist eine Geschichte wie das Leben selbst. Eine Geschichte, die uns daran erinnert, wofür es sich zu leben lohnt. Die uns zurückführt zu unserer eigenen inneren Melodie – und uns auffordert, ihr zu folgen. Denn eines ist sicher: Nur über unsere Melodie können wir die Sehnsucht in uns stillen – und nach den Sternen greifen.
Takis Würger: Für Polina. Diogenes Verlag 2025, 304 Seiten, 26 Euro.
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Takis Würger, geboren 1985, besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und studierte Ideengeschichte in Cambridge. Er berichtete für den Spiegel aus Afghanistan und dem Irak. Seine Romane Der Club und Stella wurden beide zu Bestsellern und sind mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem aspekte-Literaturpreis. 2025 erscheint sein neuer Roman Für Polina bei Diogenes. Johanna Mayer hat ihn für das Literaturportal Bayern gelesen.
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Es geschieht selten, dass wir innehalten. Dass wir uns unserer selbst bewusstwerden, sachte in uns hineinhören, welche Klänge da mit jedem Herzschlag ertönen. Häufig lässt uns das Leben keine Zeit dazu: Krieg, Klimakrise, KI, Neuwahlen, Stress, soweit das Auge reicht – in unserer schnelllebigen Welt ist es nicht schwer, aus dem Takt der eigenen Melodie zu geraten und sich selbst zu verlieren. Vielleicht – oder gerade deswegen – wird Musik in schweren Zeiten zum Rettungsanker für uns. Man muss nur Mozarts Klavierkonzerten lauschen oder Beethovens 5. Symphonie oder irgendeiner beliebigen Musik – sofort werden die Probleme weniger und kleiner, das eigene Dasein ist für einen Augenblick befreit von aller Schwere. Musik lässt uns alles vergessen, lässt uns alles und nichts fühlen.
Was könnte in dieser Zeitenwende also wunderbarer sein als ein Roman, der Musik, Leben und alles, was zum Leben gehört, miteinander verbindet – uns sanft an der Hand nimmt und zu unserer eigenen Melodie zurückführt? Einen solchen Roman hat der Schriftsteller Takis Würger mit Für Polina geschaffen.
Für Polina handelt von der Geschichte des musikalisch hochbegabten Hannes Prager und seinem Lebensweg, auf dem die 88 Tasten des Klaviers eine ebenso große Rolle spielen wie das Atmen. Der Roman beginnt mit Hannes Mutter Fritzi Prager, die kurz vor dem Abitur auf einer Italien-Reise schwanger wird und bei Hannes‘ Geburt im Krankenhaus auf die gleichaltrige Günes und deren neugeborene Tochter Polina trifft:
„Günes sagte, sie würde ihre Tochter Polina nennen, das sei ein Name aus ihrem liebsten Dostojewski … Dann legten sie ihre Kinder nebeneinander und schauten dem neuen Leben zu … Nach einer Weile spürten die Kinder einander und schmiegten sich zusammen, als würden sie die Wärme des anderen in sich aufnehmen wollen.“
Fritzi, die eigentlich in München (denn München ist zwar nicht ganz Italien, aber eben fast!) Jura studieren wollte, bezieht mit ihrem Sohn ein Zimmer in einer verlassenen, fernab der Stadt gelegenen Villa, die von dem mürrischen, im Grunde seines Herzens aber liebenswürdigen Heinrich Hildebrand bewohnt wird. Als schließlich noch Günes und Polina dazustoßen, scheint das Glück perfekt.
Während Polina sich als ein blitzgescheit, frech und schlagfertig entpuppt, ist Hannes ein verträumtes, stilles und in sich gekehrtes Kind. Niemand traut ihm eine höhere Begabung zu, bis er aus dem Nichts auf Hildebrands verstimmten Klavier Tschaikowskis Sonate in cis-Moll völlig fehlerfrei spielt. Immerzu ist Polina an Hannes Seite, und was am Anfang eine Kinderfreundschaft war, wird für Hannes mit der Zeit zur ersten Liebe seines Lebens. Die kleine heile Welt der Villa wird schließlich vom plötzlichen Tod Fritzi Pragers überschattet. Hannes zieht zu seinem leiblichen Vater nach Hamburg, weg von allem, was er kennt, und vor allem weg von Polina. Völlig erschüttert vom Tod seiner Mutter verschließt er sich immer mehr vor der Welt und gibt das Klavierspiel auf. Er beginnt nach dem Abitur in Hamburg bei einem Klaviertransport-Unternehmen zu arbeiten, der Kontakt zu Polina reißt schließlich ab. Die Leere, die Hannes in den folgenden Jahren umgibt, wird immer größer, bis er begreift, dass für ihn der einzige Weg zurück ins Leben die Musik ist – und Polina zu finden. Mit nur noch neun Fingern beginnt er wieder Klavier zu spielen mit dem einzigen Ziel, Polina mit der Melodie, die er für sie in Kindertagen komponiert hat, zu erreichen.
„Er setzte sich an den Erard und spielte. Er spielte nicht Haydn oder Grieg … Er spielte Hannes Prager. Mit neun Fingern spielte er Polinas Melodie, eine Variation, etwas Neues, das gleichzeitig etwas Altes war, aber er spielte, als hätte er zehn Jahre daran geübt. Oh ja, er spielte … Und die Menschen hörten ihn, als hörten sie Licht … Es war keine Zauberei. Oder vielleicht doch? Wann war Musik jemals etwas anderes als Zauberei?“
Dass seine Musik jeden, der sie hört, verändert und beflügelt, ist ihm zunächst nicht bewusst. Schließlich kommt es im Münchner Prinzregententheater – dem letzten Stopp seiner ersten Welttournee – zum entscheidenden Showdown, der über Hannes‘ Leben entscheidet.
So wunderbar und geradezu magisch Hannes Pragers Geschichte ist, so fantastisch ist der Roman erzählt. Takis Würger schreibt nicht nur spielerisch und leicht – es ist vor allem das Ehrliche, Glaubhafte und Menschliche in seinen Worten, das den Roman so meisterhaft macht. Nichts gibt einem das Gefühl von Arroganz oder Unehrlichkeit, jede Seite strahlt von dem Wissen, dass diese Geschichte eine der wahrhaftigsten in der neueren deutschsprachigen Literatur ist.
Zugleich reiht Würger sich mit seinem Buch in eine lange Reihe an berühmten Diogenes-Romanen ein: Für Polina erinnert – ohne zu kopieren – an Das Parfum von Patrick Süskind, an Vom Ende der Einsamkeit und Hard Land von Benedict Wells, ein wenig auch an die Romane eines Martin Suter. Fast scheint es, als hätte Würger das Beste aus diesen Werken in Für Polina zusammenfließen lassen: Ein wenig Genie, ganz viele Träume und eine unstillbare Sehnsucht nach mehr. Doch es sind vor allem die Figuren, die dem Roman Authentizität und Tiefe geben. Ob Fritzi Prager, die ihr Leben ihrem Sohn widmet, ob Polina, hinter deren Schlagfertigkeit sich eine solche Verletzlichkeit verbirgt, oder ob Hannes selbst, der die wundersamsten Melodien hervorbringt: Die Figuren sind so nahbar, so zerbrechlich und zugleich so voller Leben, dass sie einem im Laufe des Lesens ans Herz wachsen und man nur noch eines will: dass sie glücklich werden.
Für Polina ist eine Geschichte wie das Leben selbst. Eine Geschichte, die uns daran erinnert, wofür es sich zu leben lohnt. Die uns zurückführt zu unserer eigenen inneren Melodie – und uns auffordert, ihr zu folgen. Denn eines ist sicher: Nur über unsere Melodie können wir die Sehnsucht in uns stillen – und nach den Sternen greifen.
Takis Würger: Für Polina. Diogenes Verlag 2025, 304 Seiten, 26 Euro.