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07.03.2025, 09:45 Uhr
Abraham Katz
Rezensionen

„Flimmern im Ohr“ von Barbara Schibli

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(c) Dörlemann

Barbara Schibli erzählt von einer etwa 50-jährigen Schweizerin, die ausgerechnet durch Punkmusik ihr Hörvermögen zurückgewinnen will. Der spannungsreiche Heilungsprozess entwickelt sich zu einer poetischen Erinnerung an eine rebellische Jugend und an eine tragische Liebe während des Kalten Krieges.

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„Mother’s Ruin“ ist englischer Slang für Gin, mit dem sich Ehefrauen „getröstet“ und ihre Gesundheit ruiniert haben, während ihre Gatten in zwei Weltkriegen im Kugel- und Bombenhagel standen. Die Spannbreite zwischen Trost, Rausch und Selbstzerstörung gefiel ein paar jungen Schweizer Punk-Musikern Ende der Siebziger Jahre so gut, dass sie ihre Band ebenso genannt haben. Ein beliebter Song von „Mother’s Ruin“ war „Want more“. Dieser Titel durchzieht auch Barbara Schiblis Roman Flimmern im Ohr, dessen Handlung im Jahr 2010 anfängt.

In dem einen Ohr der Ich-Erzählerin, Priska, flimmert es. Das liegt daran, dass sie seit einem Unfall stark schwerhörig ist. Jahrzehnte hat sie sich damit abgefunden und das Beste daraus gemacht: Bei Gesprächen nicht nur die Ohren gespitzt, sondern auch viele Wörter von den Lippen abgelesen. Kurz bevor der Roman beginnt, hat Priska sich bei einer Gehirnoperation eine Prothese in die Hörschnecke einsetzen lassen, die ihr Hörvermögen verbessern soll. 

Die Geräusche, die Priska direkt nach der OP wahrnehmen kann, sind enttäuschend. Ihre Therapeutin, Frau Häusermann, empfiehlt, Lieblingssongs aus der Zeit vor dem Unfall zu hören. Die Melodien sollen der Erinnerung auf die Sprünge helfen und diese dem Gehör. Bei dem Monate langen intensiven Hörtraining lernt das Gehirn, den „neuen“ Tönen die „alten“ Hörmuster zuzuordnen. Doch wie so oft, wenn man ein Türchen in die Vergangenheit öffnen will, springt ein Tor auf, und man kann nicht mehr aufhalten, was alles herausdrängt. 

Die intensiven Erinnerungen bringen ein ganzes Leben zum Vorschein. Glückliche und traurige Phasen, Zweifel, Hoffnungen und Fragen. Was ist aus den damaligen Idealen geworden? Aus den Punkmusikern? Und was aus den Hörern ihrer wütenden Songs? Die Hör-Therapie entwickelt sich zu einer Suche nach Rausch, Glück und dem Sinn des Lebens im Alter von über 50 Jahren.

Als Priska Anfang 20 war, klang der Song „Want more“ sehnsüchtig und aufmüpfig. In den Ohren der Älteren dagegen hemmungslos und provokativ, genau so wie Punk, bevor er vom Mainstream aufgesaugt und kommerzialisiert wurde, klingen sollte. Die zwei Worte waren ein griffiger Slogan, der die diffusen Sehnsüchte der jungen Generation auf den Punkt brachte: mehr Chancen für Selbstverwirklichung in der wirtschaftlich starken, kulturell eher spießigen Schweiz. Gleichberechtigung für Frauen, Lesben, Schwule und Bisexuelle war nicht in Sicht, das aktuelle Label „queer“ war noch 20 Jahre entfernt. 

Gina, die große Liebe

Zum Kampf für eine buntere, freiere Welt gehörten damals natürlich auch noch Rausch und Ekstase durch Musik, Tanzen, Drogen und Sex. Ebenso gehörten Ressentiments und Rivalität zwischen Lesben, Feministinnen, Hedonisten, Kapitalismuskritikern, Friedensaktivisten und Unterstützern linker Terroristen dazu. Wie der RAF in der BRD oder den Roten Brigaden in Italien. Jede Gruppe hatte eine eigene Vision, wie eine bessere Welt aussehen sollte.

Die Schweizer Behörden unternahmen alles, um sich gegen die reale oder vermeintliche Gefahr durch den Kommunismus zu schützen. Alles bedeutete: legale als auch illegale Methoden, wie grenzenlose Überwachung und maßlose Sammelwut, die als „Fichen-Affäre“ bekannt wurde. 

„Fichen“ nennt man in der Schweiz die Karteikarten, auf denen Behörden ohne gesetzliche Grundlage Informationen über verdächtige Personen sammelten. Wobei jeder Schweizer aufgerufen war, Mitbürger zu bespitzeln und zu melden und es schon als verdächtig galt, in einer Wohngemeinschaft zu leben oder häufiger in fremden Betten zu schlafen. Kein Wunder, dass die Affäre bis heute als der größte innenpolitische Skandal der Schweizer Geschichte gilt. 

Wenn Barbara Schibli diese ungefähr 40 Jahre zurückliegenden Ereignisse erklärt, erinnert das an ein journalistisches Dossier. Es ist zwar informativ, jedoch schwächer als die literarisch verarbeiteten Erlebnisse der Ich-Erzählerin. 

Fesselnder wird es, wenn Priska den Stillstand oder die Fortschritte bei den Versuchen beschreibt, ihr Gehör zurückzugewinnen. Oder wie ihr Körper sich beim Älterwerden verändert. Diese Passagen sind streckenweise so poetisch, dass man gerne noch viel mehr davon lesen würde.

Mitreißenden Schwung bekommt der Roman, wenn die Ich-Erzählerin sich an ihre große Liebe erinnert, Gina. Bei der Beschreibung dieser Beziehung entstehen zwei eindrucksvolle, vielschichtige Frauen-Porträts. Priska ist glücklich, wenn sie einfach nur so viel wie möglich mit Gina teilen kann und sie harmonisch zusammenwohnen. Ähnlich wie die Hetero-Paare um sie herum. Gina dagegen engagiert sich bei ambitionierteren Projekten: den repressiven Staat bekämpfen und die Welt verbessern. Bei so einer Beziehungs-Konstellation sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Davon erzählt der Roman austariert und genau, sodass sowohl Priskas als auch Ginas Lebensmodell überzeugen. Als Gina von einem Tag auf den anderen spurlos verschwindet, bricht für Priska eine Welt zusammen. 

Ekstase und Verbesserung der Welt

Wie sieht die Priska aus dem Jahr 2010 auf diese unglückliche Beziehung und die hoffnungsvolle Aufbruchstimmung ihrer Jugend zurück? Haben sich ihre Wünsche und Ziele im Verlauf von über dreißig Jahren verändert? Sind Ekstase und Verbesserung der Welt für eine Dreiundfünfzigjährige, die seit Jahren mit einem konsumorientierten, angepassten Mann, Bengt, zusammenlebt, überhaupt noch ein Thema?

Priska schwankt, ob ihre Beziehung unter einer schleichenden Entfremdung leidet oder ob sie auf einer stabilen, tiefen Verbundenheit basiert, die keine großen Worte mehr benötigt. Für Letzteres spricht, dass es Bengt ist, der Priska dazu ermuntert, der Ex-Partnerin nachzuforschen. 

Die größten Strecken des Romans folgt man den Erinnerungen, Assoziationen und Reflexionen der Erzählerin gebannt, ohne dass man sich einen Plot wünscht. Doch als Priska sich tatsächlich auf die Suche nach Gina macht, werden alle Ebenen und Erzählfäden straffgezogen und verbunden. Es wird sogar, was man nicht erwartet hätte, der tragische Unfall geschildert, der zu Priskas Hörschaden geführt hat. Ohne allzu viel zu verraten, kann man sagen, dass das Geheimnis um Gina und ihr weiteres Schicksal nicht gelüftet werden.

Und was passiert mit Priskas Hörvermögen? Die Verbesserungen dank des Implantats sind enorm. Trotzdem unterscheidet sich das „neue“ Hörvergnügen von dem alten. In ihrer Jugend war Musikhören ein kollektives Erlebnis. Sein rauschartiger Zustand entstand nicht nur durch die Musik, sondern durch das gemeinsame Hören, Tanzen, Trinken und Zigarettenrauchen in der Menge. Heute bieten die gleichen Songs eher melancholisches, einsames Vergnügen vor Priskas Plattenspieler. 

Am Ende überwiegt das Positive bei Weitem. Die fruchtbare Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat Priska dabei geholfen, das Leben, das noch vor ihr liegt, neu wertzuschätzen und zu gestalten. Die Leser haben tiefe Einblicke in einige Seelen und eine vergangene Zeit bekommen, die verblüffende Ähnlichkeiten mit der Gegenwart aufweist.

Barbara Schibli: Flimmern im Ohr. Verlag Dörlemann, 288 S., € 25,00, ISBN-978-3-03820-143-4