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Über die „Amadoka“-Trilogie der Autorin Sofia Andruchowitsch

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Sofia Andruchowitsch (c) Wanja Nolte

Sofia Andruchowytschs dreibändiges Amadoka-Epos ist ein Stück Weltliteratur über das Erfinden und Erinnern der eigenen Geschichte.

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Ein Junge taucht mit einem Mädchen in einen See, den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Es ist nicht die Art von Gewässer, an dessen Ufer man gemeinsam Eis essen oder Tretboot in Form eines Kunststoffschwans fahren kann. Eigentlich ist es mehr ein Sumpf als ein See. Aber für Pinkas, der Seite um Seite eines großen Notizbuches mit seinen Recherchen über ihn gefüllt hat, ist es der sagenumwobene Amadoka, der größte See Europas. Pinkas ist der Sohn des Schochets (Schlachters) Abel Birnbaum. Und auch die stürmische Kinderliebe zwischen ihm und dem ukrainischen Mädchen Uljana dürfte es nach Ansicht der Eltern eigentlich nicht geben. Im galizischen Städtchen Butschatsch der 1930er-Jahre sprengt sie religiöse Konventionen.

Diese kleine Geschichte von zwei Kindern im See, in dem sich Wirklichkeit und Legende, Retten und Gerettetwerden miteinander vermischen wie Süßwasser mit Schwarzerde, empfinde ich als die dunkle Mitte des Amadoka-Epos der ukrainischen Schriftstellerin Sofia Andruchowytsch.

Mein Name ist Ulrike Almut Sandig, ich bin Schriftstellerin und seit einer Reise nach Kijiw vor neun Jahren innig mit diesem hart umkämpften Land im Herzen der europäischen Kontinentalplatte beschäftigt. Sofia Andruchowytsch bin ich zum ersten Mal im ostukrainischen Mariupol begegnet. Auf einem deutsch-ukrainischen Literaturtreffen mit dem passenden Namen Eine Brücke aus Papier saßen wir, eine Gruppe von Publizisten und Schriftstellerinnen aus Deutschland und der Ukraine, an einem runden Tisch im Kulturzentrum TYU! und tauschten uns über das, was unsere Bücher ausmacht, aus. Es ging oft um Erinnerung und den Schmerz der Zugehörigkeit zu einem Land im Krieg. 20 Kilometer vor den Toren der Stadt begann die Grauzone, in der von Russland unterstützte Separatistentruppen die Ukraine angriffen. Sofia Andruchowytsch, Tochter des Schriftstellers Juri Andruchowytsch, empfand ich als eine zurückhaltende, präzise Beobachterin dessen, was um sie her vorging.

Das Mariupol von damals existiert nicht mehr. Menschen, die wir dort trafen, wurden von den russischen Invasoren ermordet oder verschleppt. Alle Straßen, der Strand, das Stahlwerk, die Restaurants, die Werft – alles, was wir sahen, ist zerstört. Neulich traf ich eine Aktivistin von TYU! In Berlin. Das Kulturzentrum ist nun heimatlos, aber nicht mundtot. Eine von ihm produzierte Doku über neun junge Frauen während des Krieges wird im November 2024 auf dem FilmFest Cottbus gezeigt. Ginge sie jemals nach Mariupol zurück, um ihre Familie zu besuchen, erzählt meine Bekannte, sie würde sofort verhaftet. Vielleicht ist es mit Mariupol ein bisschen wie mit diesem See im Notizbuch eines Jungen. Man kann einen Ort bis auf den Grund zerstören. Er wird nie ganz verschwinden. Er lebt in Erzählungen weiter.

Zurück zum dunklen See. Andruchowytschs Amadoka wurde von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck so ins Deutsche übertragen, dass man vergisst, es mit einer Übersetzung zu tun zu haben, weil alle Stimmen einen so eigenen Ton besitzen, wie ich ihn sonst nur in Originaltexten vorfinde. Hier ist das Epos in drei Teilen erschienen. Eine kluge Entscheidung des österreichischen Residenz-Verlags, denn dieses Kaleidoskop von Geschichten umfasst nicht nur mehrere Generationen, sondern auch verschiedene Epochen ukrainischer Geschichte – und die hat es in sich. 

Der erste Teil spielt in der jüngsten Vergangenheit. 2014 wird ein bis zur Unkenntlichkeit verstümmelter Soldat aus der Ostukraine in eine Klinik eingeliefert. Wer er vor dem Krieg war, scheint er vergessen zu haben. Dort findet ihn Romana, die sich – nomen est omen – zur Erzählerin aller drei Bände entwickelt. Als Archivarin für das Bewahren und Rekonstruieren von Erinnerung zuständig, erkennt sie in dem Soldaten ihren Mann Bohdan und beschließt, ihm seine Familiengeschichte zu erzählen. Doch dem Wiedergefundenen passen weder Bohdans Schuhe noch seine Kleider. Ist Romana eine Betrügerin, die ihm ein falsches Leben aufzwingt? Und gibt es ein richtiges Leben im Falschen?

Die Geschichte von Romana lesend, schauen wir dem Mann, den Romana Bohdan nennt, dabei zu, wie er aus der Betrachtung eines winzigen Fisches im Klinikaquarium in ein neues Leben auftaucht, das ihn bald einhüllt wie die Luft zum Atmen. Da ist er wieder, der See Amadoka. In seinen sumpfigen Tiefen wohnt das Vergessen. Im Auftauchen entspinnt sich eine Erzählung, die manche auch das Ich nennen.

Und während ich, mich Schicht um Schicht durch das dicht bevölkerte Diorama aus Erinnertem und Gegenwärtigem blätternd, eine Familie kennenlerne, die es so vielleicht gar nicht gibt, denke ich, dass nicht nur jeder Mensch eine Geschichte braucht, mit der er leben kann, ohne dass sein Ich zerfällt, sondern auch jedes Land. Lebensgeschichten wollen wieder und wieder neu erzählt sein, aus anderen Blickwinkeln und mit neuen Fragen. Aber auch die Geschichte der Orte, an denen wir leben. Tun wir es nicht, zerfällt unser Menschsein.

In Band Zwei des Amadoka-Epos, Die Geschichte von Uljana, zeichnet Andruchowytsch ein lebendiges Bild der Heimat von Pinkas und Uljana. Wir lernen ein multiethnisches Galizien kennen, das mit dem Einmarsch der Deutschen ein brutales Ende nimmt. Dabei wird nicht verschwiegen, wie Teile der Bevölkerung die systematische Ermordung ihrer jüdischen Mitmenschen aktiv unterstützten und vorantrieben. Und ich begreife gerade als deutsche Leserin, die mit Geschichten des Widerstands gegen den Faschismus aufgewachsen ist, einmal mehr, wie es sich angefühlt haben muss, diesen Genozid aktiv zu unterstützen.

Im Herbst 2024 ist nun der abschließende Teil der Amadoka-Trilogie erschienen. Die Geschichte von Sofia beginnt im Kijiw der Zwanziger Jahre. Der Stalinismus verursacht in der Sowjetukraine nicht nur eine sowjetischgemachte gewaltige Hungersnot (Holodomor), sondern vernichtet u.a. auch das kulturelle und intellektuelle literarische Leben. Auch Sofias Mann Mykola Serow wird verhaftet und auf den Solowki-Inseln erschossen. Ihr gemeinsamer Sohn Kostik stirbt an Scharlach. Nach dem Tod ihres Mannes und ihres Sohnes wird Sofia von Wiktor Petrow unterstützt, einem Archäologen und Literaten, der sowohl für die sowjetische als auch für die deutsche Regierung als Geheimagent tätig war. Als auch ihr zweiter Ehemann stirbt, wird sie von Erinnerungen an Mykola und Kostik heimgesucht. Die seltsame und düstere Liebesgeschichte zwischen Petrow und Sofia stand ursprünglich als Ausgangspunkt des ganzen Romans. Sie verdeutlicht ebenso wie die anderen unglücklichen Lieben (Bohdan und Romana, Pinkas und Uljana) im Roman, wie das zwanzigste und nun auch das einundzwanzigste Jahrhundert in seiner Gewalttätigkeit das Leben der Menschen bestimmt.

Die Geschichte von Sofia ist zudem eine belletrisierte Geschichte der ukrainischen Autoren und Autorinnen (nicht so sehr der Literatur) der 1920er- und 1930er-Jahre.

Heute wird Mykola Serow zur Generation der „Erschossenen Wiedergeburt“ gerechnet, einer blühenden Kulturszene der Sowjetukraine, die im Stalinismus in Gulag-Straflagern umkam oder hingerichtet wurde. Vielleicht werden ihre Dichter und Dichterinnen heute so viel gelesen, weil die ukrainische Literaturwelt, obgleich blühend und international vernetzt, wieder von Auslöschung bedroht ist. Dichterinnen und Publizisten kämpfen für die ukrainische Armee, andere betreuen traumatisierte Kinder, wieder andere können nicht mehr zu den Orten ihrer Kindheit zurück.

Wie tief muss man in die Geschichte Europas eintauchen, um auf den Grund für all das Blutvergießen zu stoßen? Das frage ich mich und denke an den Kinderbuchautor Wolodymyr Wakulenko, dessen Leiche anhand von DNA-Tests in einem Massengrab bei Isjum identifiziert wurde.

„Man muss beim Tod beginnen“, schreibt Andruchowytsch. „Beim größten See Europas, der im Laufe der Geschichte spurlos in der Erde versickerte. Bei den skythischen Grabhügeln und den Hügelgräbern der Anten. Bei den in den Wäldern und auf den Feldern Osteuropas ausgehobenen Gruben, die gefüllt waren mit Sumpfwasser und Leichen, auf die sich die noch lebenden Opfer möglichst platzsparend legen mussten.“ Da ist er wieder, der unsichtbare See. Während ich diese Zeilen schreibe, habe ich das Ende des dritten Bandes der Amadoka-Trilogie noch nicht zu Ende gelesen. Ob dieses Leuchtfeuer an Geschichten, in denen geliebt und erinnert, verloren und gerettet wird, auch mit dem Tod endet? Ich glaube, dass es anders kommt. 

Sofia Andruchowytschs dreibändiges Amadoka-Epos (Die Geschichte von Romana 2023, Die Geschichte von Uljana 2023, Die Geschichte von Sofia 2024) in der Übersetzung von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck ist im Residenz-Verlag erschienen.

 

Hier geht es zum Überblicksartikel „Ukrainische Gegenwartsliteratur“