Der Krieg und die Wanderungen von Andrij Ljubka
Wer ist zivilisiert und wer „Barbar“? Wann ist es besser, für die Armee zu sammeln als zu schreiben? Und warum ist es am Ende wichtig, mit dem Schreiben nicht aufzuhören? Fragen wie diesen geht der Schriftsteller Andrij Ljubka nach und trifft mit seiner Auseinandersetzung Europa ins Herz.
*
Andrij Ljubka und ich lernen uns im Jahr 2010 unter für Schriftsteller fast normalen Umständen kennen: Mir kommt sein Roman Karbid unter, ich lese ihn und schreibe eine kurze Rezension auf Facebook. Andrij bedankt sich virtuell bei mir und postet den Beitrag auf seiner Seite. Eine solche Geste bedeutet, dass wir bei einer persönlichen Begegnung bereits „Halbbekannte“ sind. Später, bei einer seiner Lesungen, trafen wir uns tatsächlich offline und wurden zu „ganzen Bekannten“, die gleich ein Thema für den ersten Smalltalk hatten – wir sprachen über sein Buch.
Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es handelt sich um eine gepfefferte Satire, gut wiedererkennbare, irgendwie jedem bekannte Charaktere eines überschaubaren halbkriminellen Milieus, das die Macht in einer kleinen Grenzstadt übernommen hat, viel Humor und ein nicht triviales Ende. Überaus sympathisch ist auch das Bild eines idealistischen Lehrers gezeichnet, der davon träumt, die Ukraine mit der EU zu vereinen, oder besser gesagt, allen Ukrainern zu helfen, in die EU zu übersiedeln. Allerdings auf einem eher zweifelhaften Weg – durch einen unterirdischen Tunnel nach Ungarn – denn da es Europa ja nicht gerade eilig hat, uns aufzunehmen, helfen wir Europa eben ein bisschen nach.
Der Roman Karbid wird 2015 veröffentlicht, ein Jahr nach der Revolution der Würde auf dem Maidan in Kijiw. Trotz des Krieges im Donbas verspürten wir Ukrainer noch immer Freude über unseren jüngsten Sieg und glaubten mehr denn je an die Überlegenheit demokratischer Werte und unsere Zukunft in der europäischen Familie.
Das Buch eignet sich sowohl für jene Leser, die ihren „Euro-Optimismus“ bewahrt haben, wenn auch mit Selbstironie, als auch für jene, die zusehends desillusioniert sind: Die Behörden agieren zu träge (weil sie korrupt sind, wie in Karbid), und die Beamten in Brüssel kommen über vollmundige Versprechungen nicht hinaus.
Als die Ukrainer ab 2017 visafrei und fast ungehindert durch Europa reisen können, reagiert unsere Internet-Community mit zahlreichen Memes und Witzen, an einen entsinne ich mich noch: „Der letzte an der Grenze in Tschop macht das Licht aus.“ Natürlich erinnert mich das an Karbid.
Es gibt dann aber keine Schlangen vor dem Grenzübergang in Tschop oder an anderen Übergängen. Warum soll man auch woanders hingehen, wenn man den Wind der Freiheit auch in der Ukraine spürt? Man braucht keine Sichtvermerke mehr im Pass oder einen Tunnel wie in Karbid. Es braucht nur noch ein wenig Geduld und Anstrengung, und wir werden in Europa sein …
Dann stellt sich jedoch heraus, dass wir plötzlich und auf tragische Weise und auf halbem Wege stehen geblieben sind. Wiederum wie die Figuren in Ljubkas Roman.
Mich trösten jedoch die Worte von Jurij Andruchowytsch auf der Bühne des Internationalen Literaturfestivals Meridian Czernowitz antwortet in einem Interview mit einem Journalisten der Zeitung Ukrajinska Prawda (Ukrainische Wahrheit) auf die Frage, ob unser Land schließlich Europa beitreten werde: „Dies ist ein Weg, der mit dem Weg eines sehr betrunkenen Mannes verglichen werden kann. Er weiß, wohin er gehen muss, aber er läuft sehr lange, verirrt sich, verbringt einige Zeit im Graben, steht wieder auf und geht weiter. Aber am Ende kommt er ganz bestimmt ans Ziel und übernachtet zu Hause, in seinem Europa, wohin er gehört. So war es früher. Doch jetzt spielt der Faktor Krieg eine Rolle. Und der hat den betrunkenen Nachtschwärmer ernüchtert – er ist diszipliniert geworden ...“
Um auf Karbid zurückzukommen, dieser Roman gehört zweifellos zu den erfolgreichsten in der Karriere des Schriftstellers. Im Jahr 2015 ist das Buch unter den Finalisten eines der renommiertesten Literaturpreise der Ukraine, außerdem ist es das BBC Book of the Year 2015 (der ukrainischen Abteilung). Ebenso war die polnische Übersetzung 2017 im Finale des renommierten mitteleuropäischen Angelus-Preises. Die englische Fassung von Karbid kam in die engere Auswahl für den „Neuen Literaturpreis der Europäischen Union“ 2021. Der Roman wird ins Slowakische, Slowenische, Serbische und Litauische übersetzt.
Andrij Ljubka wird am 3. Dezember 1987 in Lettland geboren, wächst aber in dem kleinen Ort Wynohradiw am Fuße der ukrainischen Karpaten auf. Auf der persönlichen Website des Schriftstellers lässt sich nachlesen, dass er 2009 sein Studium der ukrainischen Philologie an der Nationalen Universität Uschhorod und 2014 sein Studium der Balkanistik an der Universität Warschau abschließt.
Die ukrainische Kultur bekommt damit auch einen brillanten Übersetzer (mit beachtlichen Übersetzungen aus dem Serbischen, Bosnischen und Polnischen, u.a. der Roman Komo von Srdjan Valjarević, Volga, Volga von Miljenka Jergović, Der verdammte Hof von Ivo Andrić und viele andere), vor allem aber einen originellen Autor, der in der Lage ist, die historischen und kulturellen Landschaften des Balkans und seiner Karpaten-Heimat aus der Perspektive eines Reisenden subtil zu analysieren.
Obwohl der Autor zunächst als Lyriker bekannt wird (Ljubkas erster Gedichtband Acht Monate Schizophrenie (Visim misjaciv šyzofrenji. Uschhorod 2007), ist er einem breiteren Publikum v.a. als Prosaautor bekannt. Bei literarischen Lesungen und auf Festivals liest er freilich immer auch Gedichte.
An dieser Stelle möchte ich kurz von einer unserer gemeinsamen Literaturveranstaltungen in Karlsruhe im Winter 2017 berichten. Während Andrij auf der Bühne steht, bleibe ich im Publikum und höre ihm zusammen mit den anderen zu. Als es um seine „Vergangenheit als Dichter“ geht, liest der Autor einige Gedichte und erzählt dann, wie er 2006 in Belarus als Beobachter für den oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Aljaksandr Milinkewitsch während der Präsidentschaftswahlen unterwegs ist. „Ich war Dichter, und ein echter Dichter, so schien es mir, sollte ‚brennen‘ …“, erklärte Ljubka sein damaliges Verhalten. Sein Aufenthalt endet nach einer 15-tägigen Inhaftierung und der Ausweisung aus Belarus. Er ist dort wohl immer noch Persona non grata.
Unabhängig davon, ob Ljubka als Dichter „ausgebrannt“ ist oder nicht, seine Prosa ist überaus spannend und interessant zu lesen. Er ist heutzutage einer der bekanntesten ukrainischen Schriftsteller und ein gern gesehener Gast auf internationalen Literaturfestivals.
Zivilisierte und „Barbaren“
Im Jahr 2019 erscheint bei Meridian Czernowitz eines, meiner Meinung nach, der bedeutendsten Bücher von Andrij Ljubka mit dem Titel Auf der Suche nach Barbaren. Eine Reise in die Länder, wo der Balkan beginnt und nicht endet (U pošukach varvarach. podorož do krajiv, de počynajet’sja j ne zakinčujet’sja Balkany. Meridian Czernowitz 2019). Der Form nach ist es eine Sammlung von Reiseberichten und Essays, die zuweilen in eine literarische Reportage übergehen. Sie alle eint das Thema des Balkans in Gegenwart und Vergangenheit, und besonders dessen Verbindungen und Gemeinsamkeiten mit der Ukraine.
In einem Interview während einer Lesereise gesteht der Autor: „Als ich dieses Buch über den Balkan schrieb, dachte ich immer, dass Transkarpatien, die Nordbukowina und Bessarabien drei Regionen sind, die kulturell, historisch und einst sogar geopolitisch Teil der Balkanhalbinsel waren. Ist man irgendwo in Serbien oder in einem Dorf in Transkarpatien zu einer Hochzeit eingeladen, sieht es mehr oder weniger gleich aus: Die Leute kochen ähnliche Gerichte, haben ähnliche Trinkgewohnheiten und spielen eine ähnliche Musik.“
Das Buch Auf der Suche nach Barbaren ist also nicht einfach eine Geschichte über Ähnlichkeiten, sondern vielmehr über die unerwarteten Gemeinsamkeiten dieser Landschaften und Regionen. Zumindest betont dies der Autor immer wieder. Ljubkas Figuren scherzen viel und erzählen bei einem Glas Sliwowitz bereitwillig von ihren klischeehaften Vorstellungen über ihre Nachbarn, z.B. Serben über Montenegriner und umgekehrt.
Und reden wir im informellen Kreis von Freunden oder Bekannten nicht genauso? Wenn wir sicher sein können, dass das Gespräch nicht die eigenen vier Wände oder den Cafétisch verlässt? Mit anderen Worten: Jede Nation hat ihre eigenen „Barbaren“. Normalerweise haben wir mit jenen, mit denen wir eine Grenze teilen, oft eine gemeinsame Geschichte, eine ähnliche Sprache, Kultur und historische Traumata.
Der Titel des Buches versetzt den Leser unerwartet in die römische Zeit, als der berühmte Ovid, Autor der Metamorphosen, an den Rand des Imperium Romanum verbannt wurde. Im Jahr 8 n. Chr. musste sich der Dichter auf Anordnung von Augustus auf das Gebiet des heutigen Rumäniens begeben und dortbleiben. Ovid war ein Bürger Roms, d.h. ein „zivilisierter“ Mensch, und das Zusammenleben mit „Barbaren“ war für ihn eine harte Strafe. Der Dichter schrieb tränenreiche Briefe an den Kaiser, in denen er bat, ihn zu begnadigen und die Rückkehr in die „zivilisierte Welt“ zu erlauben. Auch nach dem Tod von Augustus wurde die Lage für Ovid nicht besser. Er akzeptierte schließlich sein Schicksal und verbrachte den Rest seines Lebens bei den „Barbaren“.
Es ist bemerkenswert, dass die Römer alle Nicht-Römer und Nicht-Griechen als Barbaren bezeichneten, insbesondere die Germanen. Und nach dem Untergang des Römischen Reiches übernahmen die Germanen selbst diese Sichtweise – nun betrachteten sie ihre östlichen Nachbarn, die ihrer Meinung nach in der kulturellen Entwicklung zurückgeblieben waren, als Barbaren. Die Zuschreibung der „Barbarei“ migriert also durch die Geschichte. Und, natürlich, will jedes Volk so schnell wie möglich diese Zuschreibung auf andere abschieben.
Zu Beginn dieses Artikels erwähnte ich einen wichtigen Schritt, den die Europäische Union den Ukrainern entgegengekommen ist – die Gewährung der visafreien Einreise nach Europa. Irgendwann haben viele von uns vielleicht unbewusst aufgehört, sich als „Barbaren“ zu fühlen. Und gleichzeitig, um die Wahrheit zu sagen, begannen wir auf diejenigen, die eine solche Möglichkeit wegen ihres Passes nicht hatten, leicht überheblich herabzublicken. Das heißt, wir hatten unsere „Barbarei“ mit einem erleichterten Seufzer an andere weitergegeben, natürlich relativ gesehen.
Auf der Suche nach Barbaren ist die Geschichte eines jungen Ukrainers, der sich schließlich seines Platzes in Europa bewusst wird, er spürt und verinnerlicht, was früheren Generationen jahrzehntelang unzugänglich war. Auf Ljubkas Reisen ist alles wichtig: der Geschmack von Oliven und Balkanwein, der Geruch von Tabak in den Grenzkneipen, die Schlagzeilen der Lokalzeitungen, die alten Brücken über die Drina, die Wege und sogar wegloses Gelände.
Gleichzeitig lernt der Leser durch die Augen der Figuren eine andere Seite des Balkans kennen, anders als jene, mit der Werbebroschüren Touristen locken wollen. Der reisende Ljubka braucht schließlich keine schönen Landschaften oder malerischen Strände. Ihm ist etwas anderes wichtig.
Die Figur des Ljubka ist im gewissen Sinn ein Alter Ego des Autors, der keine bequemen und schnellen Flugverbindungen mag, da der Reisende durch sie übergangslos von einer Realität in eine andere versetzt wird. Er wählt das Auto, weil er auf diese Weise nicht den Geschmack des Reisens verliert, wenn langsam eine neue, unerwartete Landschaft hinter der Kurve auftaucht.
Die Straße, auf der er reist, ist nicht eine der Hauptverkehrsadern des Landes und führt nicht zu den Locations im TripAdvisor. Eher im Gegenteil – kein Reiseführer wird Ihnen empfehlen, die Orte in Ljubkas Buch zu besuchen. Und ebenso wenig hilft er Ihnen irgendwie auf der „Suche nach Barbaren“.
Gleichzeitig ist das Reisen für den Helden ein klassisches Mittel, um zu entkommen. Er fühlt sich jedoch noch immer unwohl in seinem Alltag und an den Grenzen, die er überschreitet. Wenn er an einem Grenzübergang seinen Pass vorzeigt, ist er immer noch nervös. Zu frisch sind die Erinnerungen an die späten 1990er- und frühen 2000er-Jahre, als wir noch „Barbaren“ waren und der Grenzer uns wegen irgendeiner Kleinigkeit zurückschicken konnte.
Aber nachdem er den Rubikon überschritten hat, ist der Reisende frei und glücklich: „Ich reise in erster Linie, um nicht zu Hause zu sein. Und dann, weil ich neue Kulturen und Orte kennen lernen möchte, der Wunsch, durch das Reisen etwas Unbekanntes in mir selbst zu entdecken. Aber vor allem reizt mich das Reisen, weil es mir die Möglichkeit gibt, von zu Hause wegzukommen. Und das verstehe ich am besten zu Hause. An dem Ort, den ich sehr liebe und mit dem ich verbunden bin. Der Ort, von dem ich träume, wenn ich nicht dort bin. Er erfüllt mich mit Kraft und hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und zu strukturieren.“
Deshalb geht es in diesem Buch auch um Freiheit. Ich würde den Untertitel sogar umformulieren: „Eine Reise zu dem Ort, an dem die Freiheit beginnt und nicht endet“.
Geld sammeln für die Armee
Mit dem Beginn des totalen Kriegs von Russland gegen die Ukraine musste jeder von uns innerhalb und außerhalb unserer Grenzen seinen Platz in einer neuen gefährlichen Realität finden. Denn wenn man es mit einem Land zu tun hat, dessen Armee und Territorium zehnmal größer ist, muss jeder, vom Schriftsteller und Intellektuellen über den Politiker bis hin zum Landwirt, an der Konfrontation beteiligt sein. Oder zumindest sollte die Zahl der Gleichgültigen, wie die Mathematiker sagen würden, gegen Null tendieren.
Natürlich beschreibe ich hier eine Art Idylle, denn in allen Kriegen und zu allen Zeiten gab es weit mehr Zuschauer als Teilnehmer am Widerstand. Die Intellektuellen sind da keine Ausnahme.
Andrij Ljubka stürzte sich kopfüber in die neue Realität: Zunächst half er Menschen aus dem Osten und Norden des Landes, die vor den Kämpfen geflohen waren, in Transkarpatien eine vorübergehende Heimstatt zu finden, und dann begann er, Geld für Jeeps für die Armee zu sammeln. Diese Aktionen erwiesen sich als äußerst effektiv. Nach eigenen Angaben des Autors gelang es ihm und seinem Freiwilligenteam bis zum Herbst 2024, mehr als dreihundert Fahrzeuge zu kaufen, zu reparieren und an die Front zu liefern.
Alle Fragen, die ukrainische und ausländische Journalisten den Schriftstellern in dieser Zeit, vom Februar 2022 bis heute, stellten, liefen irgendwie auf eines hinaus: Ist es überhaupt möglich, etwas zu schreiben, und ist die Literatur nicht im Strudel der Ereignisse untergegangen? Und wenn Texte entstehen, wie spiegeln sie die neue Realität wider?
Im Jahr 2024 erschien im Verlag Meridian Czernowitz das neue Buch von Andrij Ljubka, Die Rückseite des Kriegs (Vijna z tyl’noho boku. Merdian Czernowitz 2024). Wer Ljubkas Aktivitäten in den sozialen Medien verfolgt, wusste wahrscheinlich gleich, dass es sich um die gesammelten Erfahrungen der Freiwilligen-Arbeit aus mehr als zwei Jahren Krieg und, wie der Autor selbst scherzen würde, mit 300 Autos handelte. Aber nicht nur das.
Man könnte das Buch auch als Tagebuch bezeichnen, denn es enthält viele persönliche Erlebnisse und unterhaltsame Reisenotizen von den Fahrten des Autors an die Front und zurück in seine Heimat Transkarpatien. Er bleibt seinem leichten Erzählstil dabei treu und findet sogar Platz für Humor. Wie er selbst in einem Artikel für den Radiosender Suspilne. Kultur erklärt: „Humor ist, glaube ich, eine natürliche Eigenschaft der Ukrainer und zudem eine natürliche Qualität des Raumes, den ich Mitteleuropa nenne. Denn Humor hatte in diesem Teil der Welt immer eine Schutzfunktion.“ Ähnlich äußert er sich in einem der Essays: „Es ist unmöglich, einen Krieg ohne Humor zu überleben. Ja, das Lachen mag manchmal bitter sein, der Humor kann schwarz sein, manchmal wird ein müdes Lächeln von Tränen weggespült, aber Humor ist einer der wirksamsten Mechanismen zum Schutz der menschlichen Psyche.“
Denn wenn sich ständig maximal ernsthaft mit seiner Situation beschäftigt, kann man verrückt werden.
Schon auf den ersten Seiten von Die Rückseite des Kriegs gesteht der Autor, dass er zu Kriegsbeginn die Vergeblichkeit jeglichen Schreibens spürte: „… Ich war enttäuscht von den Worten. Der Beginn der großen Invasion war für mich so etwas wie eine persönliche Niederlage, ein privates Fiasko als Schriftsteller und Kolumnist. Als Vertreter einer Kohorte von Menschen, die schreiben und sinnvoll formulieren … Als die ersten Raketen auf verschlafene, friedliche Städte fielen, zeigte sich, dass Worte machtlos und leer waren, dass die Zeit der Artillerie gekommen war. Deshalb war ich in den ersten Kriegsmonaten nicht nur apathisch, sondern geradezu angewidert vom Schreiben: Es erschien mir egoistisch und sinnlos.“
Man kann in seinen Texten beobachten, dass es teilweise dieses Gefühl war, das ihn dazu veranlasste, angesichts der neuen Realität etwas „Bedeutsameres“ zu machen. Und die leistungsstarken Geländewagen, die die Armee brauchte und heute noch braucht, gaben ihm das Gefühl, einen wichtigen Beitrag zur gemeinsamen Sache zu leisten. Und danach konnte er wieder zu seiner üblichen Arbeit, dem Schreiben, zurückkehren.
Ljubka beschreibt sich und seine Leser als Gemeinschaft, die sich im Laufe der Jahre herausbildete und die ihren Autor in jenem kritischen Moment auch unterstützte. Schließlich stammten die meisten der Spenden für den Kauf von Jeeps von Menschen, die zuvor seine Bücher gelesen hatten und auch weiterhin lesen. Auf gewisse Weise ist es ein einzigartiges Phänomen, wenn Literatur auf die Art einem Land beim Überleben helfen kann. Und gleichzeitig eine Antwort auf die Frage von Ausländern, nicht nur von Journalisten, wie wir es schaffen, so lange durchzuhalten und zu kämpfen.
Der Autor betont, dass die schwierigsten Zeiten in unserer Geschichte uns – wie nie zuvor – geeint haben. Weder während der Orangenen Revolution noch während der Revolution der Würde war die Einheit zwischen den Bewohnern des Ostens und des Westens der Ukraine so stark wie heute. Was die staatlichen Strukturen anbelangt, so sind sie nach Ansicht des Verfassers ebenfalls sauberer geworden. Der Präsident hat sich als elementare und willensstarke Führungspersönlichkeit erwiesen, der Geheimdienst gezeigt, dass er „Spione enttarnen und nicht nur das Business einschüchtern kann“, und so weiter.
Und auch wenn solche Überlegungen im Jahr 2025 etwas idealisiert erscheinen, so beschreiben sie doch genau unsere Gefühle (oder unsere Hoffnungen), etwa im Frühjahr 2022, als es uns gelang, die ersten Wellen der russischen Offensive abzuwehren, und insbesondere im Herbst desselben Jahres, als die ukrainische Armee ihre erste Gegenoffensive startete.
Gleichzeitig wird in diesen Aufsätzen treffend beschrieben, dass nicht nur die Armee gegen den Feind kämpft, sondern zahllose freiwillige Helfer, die tagtäglich an die Front fahren und ihr Leben riskieren. Tausende von Bediensteten der ukrainischen Eisenbahn geben ihre schlecht bezahlte Arbeit nicht auf und fahren regelmäßig in die Städte an der Front, obwohl die Bahnhöfe ein vorrangiges Ziel der russischen Raketen sind. Und die Elektrikerbrigaden beginnen sofort nach einem Beschuss mit der Wiederherstellung von Umspannwerken und Stromleitungen.
Der Autor zeichnet diese Porträts mit der gewohnten Kompetenz und Präzision, und zudem mit Neugierde und Interesse. Denn zusammen mit den Darstellungen der Militärs, mit denen der freiwillige Helfer Ljubka manchmal seinen Alltag teilt, ergeben sie ein Gesamtporträt der heutigen kriegsversehrten Ukraine.
Der europäische Leser wird in den Texten dieses schmalen Buches unerwartet eine Warnung finden. Ljubka weist zu Recht darauf hin, dass vor etwa drei Jahren fast niemand in der Ukraine (oder in der Welt) glauben konnte, dass ein so großer Krieg wie der, den wir derzeit erleben, möglich sei. Allen schien, die Menschen hätten die die Lektionen des Zweiten Weltkriegs gelernt und verinnerlicht.
Schöpfung als Gegenpol
Ja, die Kriege enden nicht auf unserem Planeten. Und ja, ein hybrider Krieg, wie wir ihn seit 2014 erleben, findet auch in unserem Land statt. Aber die Bombardierung friedlicher Städte mit ballistischen Raketen und Drohnen konnte man sich nicht einmal in den schlimmsten Alpträumen vorstellen. Die Welt sollte sich daran erinnern, dass für die Verrückten im Kreml Kramatorsk und Berlin in der gleichen Schusslinie liegen. Und je entschlossener die Unterstützung unserer Verbündeten von „der Rückseite aus“ ist, desto wahrscheinlicher wird es sein, dass die Flammen des Krieges nicht bis zu ihnen züngeln werden.
Darüber hinaus ist die Hilfe für die Ukraine auch ein Akt der Selbstverteidigung Europas.
Trotz des Pathos, mit dem hier der aktuelle Kampf des ukrainischen Volkes und der ukrainischen Armee gegen den Feind geschildert wird, ist der Autor gleichzeitig ehrlich zu den Lesern und vermeidet keine schmerzhaften „Trigger“ und problematischen Fragen wie die Korruption in der ukrainischen Regierung, die anhaltenden Probleme bei der Versorgung der Streitkräfte oder das akute Problem unserer Flüchtlinge im Ausland.
Gleichzeitig ist Die Rückseite des Krieges auch aufrichtig einschließlich sehr persönlicher Details. Es gibt Kindheitserinnerungen, die dem Autor auf der Straße plötzlich durch den Kopf gehen, eine Geschichte über Dörfer und Städte, die von der Besatzung befreit wurden und dann wieder unter russische Kontrolle gerieten, und das Phantom eines „normalen“ Lebens, das man trotz allem führen möchte. Und von den Städten, die der Feind von der Landkarte getilgt hat.
„Krieg ist Zerstörung, feuriges Chaos, das Menschen, Tiere, Pflanzen und den Planeten Erde insgesamt vernichtet. Er zerstört das Unsichtbare – soziale Bindungen, den Glauben an die Menschheit und die Grundlagen der Menschheit. Und die Ablehnung des Krieges heißt nicht einfach Frieden. Frieden ist nur ein Zwischenschritt zwischen dem Krieg und seinem wahren Gegenpol. Denn wenn das Wesen des Krieges die Zerstörung ist, so ist der Gegenpol zum Krieg die Schöpfung ...“
Was meine eigene Erfahrung als Schriftsteller mit dem Schreiben während des Krieges angeht, so wäre das Wort „Therapie“ vielleicht am besten geeignet. Als ich in dem denkwürdigen Jahr 2022 Soldat wurde, begann ich meinen eigenen Beruf wiederzuentdecken. Ja, was für ein Beruf … An der Front hatte ich zuweilen den Eindruck, dass ich nicht nur die richtigen Worte für meine Texte fand, sondern auch ein neues Alphabet für sie schuf, als sei das alte Alphabet plötzlich verschwunden. Jeder Buchstabe schien schwer zu wiegen. Aber als ich die Freude am Schreiben wieder spürte, war ich sehr erleichtert. Und wo es Erleichterung gibt, gibt es Hoffnung auf bessere Zeiten und bessere Umstände. Und sei es nur, weil Texte oft länger leben als wir selbst.
Im Jahr 2023 erhielt ich eine Einladung, einen Essay für die Zeitschrift die horen zu schreiben. Diese Ausgabe, die ausschließlich aus Texten ukrainischer Autoren bestand, wurde ein Jahr später, 2024, auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Leider war es mir aufgrund meiner militärischen Verpflichtungen nicht möglich gewesen, an der Präsentation teilzunehmen. Als die Ausgabe erschien, wurde mir mit einem Mal bewusst, wie wichtig mir mein eigener Aufsatz war. Und das nicht nur, weil er viele persönliche Informationen enthielt, einschließlich meiner eigenen militärischen Erfahrungen. Ich schrieb ein Dutzend weiterer solcher Texte, und jedes Mal stellte ich mir vor, sie wieder zu lesen, wenn all das Grauen um mich herum vorbei sein würde. Denn Kriege enden irgendwann, aber die Literatur nicht.
Texte und Schreiben sind für mich zu einem Wegweiser inmitten des Gewittersturms geworden. Buchstäblich ein Leuchtturm im Sturm. Und ich denke, dies gilt nicht nur für mich, sondern für viele ukrainische Schriftsteller und Freiwillige.
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil
Hier geht es zum Überblicksartikel „Ukrainische Gegenwartsliteratur“
Der Krieg und die Wanderungen von Andrij Ljubka >
Wer ist zivilisiert und wer „Barbar“? Wann ist es besser, für die Armee zu sammeln als zu schreiben? Und warum ist es am Ende wichtig, mit dem Schreiben nicht aufzuhören? Fragen wie diesen geht der Schriftsteller Andrij Ljubka nach und trifft mit seiner Auseinandersetzung Europa ins Herz.
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Andrij Ljubka und ich lernen uns im Jahr 2010 unter für Schriftsteller fast normalen Umständen kennen: Mir kommt sein Roman Karbid unter, ich lese ihn und schreibe eine kurze Rezension auf Facebook. Andrij bedankt sich virtuell bei mir und postet den Beitrag auf seiner Seite. Eine solche Geste bedeutet, dass wir bei einer persönlichen Begegnung bereits „Halbbekannte“ sind. Später, bei einer seiner Lesungen, trafen wir uns tatsächlich offline und wurden zu „ganzen Bekannten“, die gleich ein Thema für den ersten Smalltalk hatten – wir sprachen über sein Buch.
Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es handelt sich um eine gepfefferte Satire, gut wiedererkennbare, irgendwie jedem bekannte Charaktere eines überschaubaren halbkriminellen Milieus, das die Macht in einer kleinen Grenzstadt übernommen hat, viel Humor und ein nicht triviales Ende. Überaus sympathisch ist auch das Bild eines idealistischen Lehrers gezeichnet, der davon träumt, die Ukraine mit der EU zu vereinen, oder besser gesagt, allen Ukrainern zu helfen, in die EU zu übersiedeln. Allerdings auf einem eher zweifelhaften Weg – durch einen unterirdischen Tunnel nach Ungarn – denn da es Europa ja nicht gerade eilig hat, uns aufzunehmen, helfen wir Europa eben ein bisschen nach.
Der Roman Karbid wird 2015 veröffentlicht, ein Jahr nach der Revolution der Würde auf dem Maidan in Kijiw. Trotz des Krieges im Donbas verspürten wir Ukrainer noch immer Freude über unseren jüngsten Sieg und glaubten mehr denn je an die Überlegenheit demokratischer Werte und unsere Zukunft in der europäischen Familie.
Das Buch eignet sich sowohl für jene Leser, die ihren „Euro-Optimismus“ bewahrt haben, wenn auch mit Selbstironie, als auch für jene, die zusehends desillusioniert sind: Die Behörden agieren zu träge (weil sie korrupt sind, wie in Karbid), und die Beamten in Brüssel kommen über vollmundige Versprechungen nicht hinaus.
Als die Ukrainer ab 2017 visafrei und fast ungehindert durch Europa reisen können, reagiert unsere Internet-Community mit zahlreichen Memes und Witzen, an einen entsinne ich mich noch: „Der letzte an der Grenze in Tschop macht das Licht aus.“ Natürlich erinnert mich das an Karbid.
Es gibt dann aber keine Schlangen vor dem Grenzübergang in Tschop oder an anderen Übergängen. Warum soll man auch woanders hingehen, wenn man den Wind der Freiheit auch in der Ukraine spürt? Man braucht keine Sichtvermerke mehr im Pass oder einen Tunnel wie in Karbid. Es braucht nur noch ein wenig Geduld und Anstrengung, und wir werden in Europa sein …
Dann stellt sich jedoch heraus, dass wir plötzlich und auf tragische Weise und auf halbem Wege stehen geblieben sind. Wiederum wie die Figuren in Ljubkas Roman.
Mich trösten jedoch die Worte von Jurij Andruchowytsch auf der Bühne des Internationalen Literaturfestivals Meridian Czernowitz antwortet in einem Interview mit einem Journalisten der Zeitung Ukrajinska Prawda (Ukrainische Wahrheit) auf die Frage, ob unser Land schließlich Europa beitreten werde: „Dies ist ein Weg, der mit dem Weg eines sehr betrunkenen Mannes verglichen werden kann. Er weiß, wohin er gehen muss, aber er läuft sehr lange, verirrt sich, verbringt einige Zeit im Graben, steht wieder auf und geht weiter. Aber am Ende kommt er ganz bestimmt ans Ziel und übernachtet zu Hause, in seinem Europa, wohin er gehört. So war es früher. Doch jetzt spielt der Faktor Krieg eine Rolle. Und der hat den betrunkenen Nachtschwärmer ernüchtert – er ist diszipliniert geworden ...“
Um auf Karbid zurückzukommen, dieser Roman gehört zweifellos zu den erfolgreichsten in der Karriere des Schriftstellers. Im Jahr 2015 ist das Buch unter den Finalisten eines der renommiertesten Literaturpreise der Ukraine, außerdem ist es das BBC Book of the Year 2015 (der ukrainischen Abteilung). Ebenso war die polnische Übersetzung 2017 im Finale des renommierten mitteleuropäischen Angelus-Preises. Die englische Fassung von Karbid kam in die engere Auswahl für den „Neuen Literaturpreis der Europäischen Union“ 2021. Der Roman wird ins Slowakische, Slowenische, Serbische und Litauische übersetzt.
Andrij Ljubka wird am 3. Dezember 1987 in Lettland geboren, wächst aber in dem kleinen Ort Wynohradiw am Fuße der ukrainischen Karpaten auf. Auf der persönlichen Website des Schriftstellers lässt sich nachlesen, dass er 2009 sein Studium der ukrainischen Philologie an der Nationalen Universität Uschhorod und 2014 sein Studium der Balkanistik an der Universität Warschau abschließt.
Die ukrainische Kultur bekommt damit auch einen brillanten Übersetzer (mit beachtlichen Übersetzungen aus dem Serbischen, Bosnischen und Polnischen, u.a. der Roman Komo von Srdjan Valjarević, Volga, Volga von Miljenka Jergović, Der verdammte Hof von Ivo Andrić und viele andere), vor allem aber einen originellen Autor, der in der Lage ist, die historischen und kulturellen Landschaften des Balkans und seiner Karpaten-Heimat aus der Perspektive eines Reisenden subtil zu analysieren.
Obwohl der Autor zunächst als Lyriker bekannt wird (Ljubkas erster Gedichtband Acht Monate Schizophrenie (Visim misjaciv šyzofrenji. Uschhorod 2007), ist er einem breiteren Publikum v.a. als Prosaautor bekannt. Bei literarischen Lesungen und auf Festivals liest er freilich immer auch Gedichte.
An dieser Stelle möchte ich kurz von einer unserer gemeinsamen Literaturveranstaltungen in Karlsruhe im Winter 2017 berichten. Während Andrij auf der Bühne steht, bleibe ich im Publikum und höre ihm zusammen mit den anderen zu. Als es um seine „Vergangenheit als Dichter“ geht, liest der Autor einige Gedichte und erzählt dann, wie er 2006 in Belarus als Beobachter für den oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Aljaksandr Milinkewitsch während der Präsidentschaftswahlen unterwegs ist. „Ich war Dichter, und ein echter Dichter, so schien es mir, sollte ‚brennen‘ …“, erklärte Ljubka sein damaliges Verhalten. Sein Aufenthalt endet nach einer 15-tägigen Inhaftierung und der Ausweisung aus Belarus. Er ist dort wohl immer noch Persona non grata.
Unabhängig davon, ob Ljubka als Dichter „ausgebrannt“ ist oder nicht, seine Prosa ist überaus spannend und interessant zu lesen. Er ist heutzutage einer der bekanntesten ukrainischen Schriftsteller und ein gern gesehener Gast auf internationalen Literaturfestivals.
Zivilisierte und „Barbaren“
Im Jahr 2019 erscheint bei Meridian Czernowitz eines, meiner Meinung nach, der bedeutendsten Bücher von Andrij Ljubka mit dem Titel Auf der Suche nach Barbaren. Eine Reise in die Länder, wo der Balkan beginnt und nicht endet (U pošukach varvarach. podorož do krajiv, de počynajet’sja j ne zakinčujet’sja Balkany. Meridian Czernowitz 2019). Der Form nach ist es eine Sammlung von Reiseberichten und Essays, die zuweilen in eine literarische Reportage übergehen. Sie alle eint das Thema des Balkans in Gegenwart und Vergangenheit, und besonders dessen Verbindungen und Gemeinsamkeiten mit der Ukraine.
In einem Interview während einer Lesereise gesteht der Autor: „Als ich dieses Buch über den Balkan schrieb, dachte ich immer, dass Transkarpatien, die Nordbukowina und Bessarabien drei Regionen sind, die kulturell, historisch und einst sogar geopolitisch Teil der Balkanhalbinsel waren. Ist man irgendwo in Serbien oder in einem Dorf in Transkarpatien zu einer Hochzeit eingeladen, sieht es mehr oder weniger gleich aus: Die Leute kochen ähnliche Gerichte, haben ähnliche Trinkgewohnheiten und spielen eine ähnliche Musik.“
Das Buch Auf der Suche nach Barbaren ist also nicht einfach eine Geschichte über Ähnlichkeiten, sondern vielmehr über die unerwarteten Gemeinsamkeiten dieser Landschaften und Regionen. Zumindest betont dies der Autor immer wieder. Ljubkas Figuren scherzen viel und erzählen bei einem Glas Sliwowitz bereitwillig von ihren klischeehaften Vorstellungen über ihre Nachbarn, z.B. Serben über Montenegriner und umgekehrt.
Und reden wir im informellen Kreis von Freunden oder Bekannten nicht genauso? Wenn wir sicher sein können, dass das Gespräch nicht die eigenen vier Wände oder den Cafétisch verlässt? Mit anderen Worten: Jede Nation hat ihre eigenen „Barbaren“. Normalerweise haben wir mit jenen, mit denen wir eine Grenze teilen, oft eine gemeinsame Geschichte, eine ähnliche Sprache, Kultur und historische Traumata.
Der Titel des Buches versetzt den Leser unerwartet in die römische Zeit, als der berühmte Ovid, Autor der Metamorphosen, an den Rand des Imperium Romanum verbannt wurde. Im Jahr 8 n. Chr. musste sich der Dichter auf Anordnung von Augustus auf das Gebiet des heutigen Rumäniens begeben und dortbleiben. Ovid war ein Bürger Roms, d.h. ein „zivilisierter“ Mensch, und das Zusammenleben mit „Barbaren“ war für ihn eine harte Strafe. Der Dichter schrieb tränenreiche Briefe an den Kaiser, in denen er bat, ihn zu begnadigen und die Rückkehr in die „zivilisierte Welt“ zu erlauben. Auch nach dem Tod von Augustus wurde die Lage für Ovid nicht besser. Er akzeptierte schließlich sein Schicksal und verbrachte den Rest seines Lebens bei den „Barbaren“.
Es ist bemerkenswert, dass die Römer alle Nicht-Römer und Nicht-Griechen als Barbaren bezeichneten, insbesondere die Germanen. Und nach dem Untergang des Römischen Reiches übernahmen die Germanen selbst diese Sichtweise – nun betrachteten sie ihre östlichen Nachbarn, die ihrer Meinung nach in der kulturellen Entwicklung zurückgeblieben waren, als Barbaren. Die Zuschreibung der „Barbarei“ migriert also durch die Geschichte. Und, natürlich, will jedes Volk so schnell wie möglich diese Zuschreibung auf andere abschieben.
Zu Beginn dieses Artikels erwähnte ich einen wichtigen Schritt, den die Europäische Union den Ukrainern entgegengekommen ist – die Gewährung der visafreien Einreise nach Europa. Irgendwann haben viele von uns vielleicht unbewusst aufgehört, sich als „Barbaren“ zu fühlen. Und gleichzeitig, um die Wahrheit zu sagen, begannen wir auf diejenigen, die eine solche Möglichkeit wegen ihres Passes nicht hatten, leicht überheblich herabzublicken. Das heißt, wir hatten unsere „Barbarei“ mit einem erleichterten Seufzer an andere weitergegeben, natürlich relativ gesehen.
Auf der Suche nach Barbaren ist die Geschichte eines jungen Ukrainers, der sich schließlich seines Platzes in Europa bewusst wird, er spürt und verinnerlicht, was früheren Generationen jahrzehntelang unzugänglich war. Auf Ljubkas Reisen ist alles wichtig: der Geschmack von Oliven und Balkanwein, der Geruch von Tabak in den Grenzkneipen, die Schlagzeilen der Lokalzeitungen, die alten Brücken über die Drina, die Wege und sogar wegloses Gelände.
Gleichzeitig lernt der Leser durch die Augen der Figuren eine andere Seite des Balkans kennen, anders als jene, mit der Werbebroschüren Touristen locken wollen. Der reisende Ljubka braucht schließlich keine schönen Landschaften oder malerischen Strände. Ihm ist etwas anderes wichtig.
Die Figur des Ljubka ist im gewissen Sinn ein Alter Ego des Autors, der keine bequemen und schnellen Flugverbindungen mag, da der Reisende durch sie übergangslos von einer Realität in eine andere versetzt wird. Er wählt das Auto, weil er auf diese Weise nicht den Geschmack des Reisens verliert, wenn langsam eine neue, unerwartete Landschaft hinter der Kurve auftaucht.
Die Straße, auf der er reist, ist nicht eine der Hauptverkehrsadern des Landes und führt nicht zu den Locations im TripAdvisor. Eher im Gegenteil – kein Reiseführer wird Ihnen empfehlen, die Orte in Ljubkas Buch zu besuchen. Und ebenso wenig hilft er Ihnen irgendwie auf der „Suche nach Barbaren“.
Gleichzeitig ist das Reisen für den Helden ein klassisches Mittel, um zu entkommen. Er fühlt sich jedoch noch immer unwohl in seinem Alltag und an den Grenzen, die er überschreitet. Wenn er an einem Grenzübergang seinen Pass vorzeigt, ist er immer noch nervös. Zu frisch sind die Erinnerungen an die späten 1990er- und frühen 2000er-Jahre, als wir noch „Barbaren“ waren und der Grenzer uns wegen irgendeiner Kleinigkeit zurückschicken konnte.
Aber nachdem er den Rubikon überschritten hat, ist der Reisende frei und glücklich: „Ich reise in erster Linie, um nicht zu Hause zu sein. Und dann, weil ich neue Kulturen und Orte kennen lernen möchte, der Wunsch, durch das Reisen etwas Unbekanntes in mir selbst zu entdecken. Aber vor allem reizt mich das Reisen, weil es mir die Möglichkeit gibt, von zu Hause wegzukommen. Und das verstehe ich am besten zu Hause. An dem Ort, den ich sehr liebe und mit dem ich verbunden bin. Der Ort, von dem ich träume, wenn ich nicht dort bin. Er erfüllt mich mit Kraft und hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und zu strukturieren.“
Deshalb geht es in diesem Buch auch um Freiheit. Ich würde den Untertitel sogar umformulieren: „Eine Reise zu dem Ort, an dem die Freiheit beginnt und nicht endet“.
Geld sammeln für die Armee
Mit dem Beginn des totalen Kriegs von Russland gegen die Ukraine musste jeder von uns innerhalb und außerhalb unserer Grenzen seinen Platz in einer neuen gefährlichen Realität finden. Denn wenn man es mit einem Land zu tun hat, dessen Armee und Territorium zehnmal größer ist, muss jeder, vom Schriftsteller und Intellektuellen über den Politiker bis hin zum Landwirt, an der Konfrontation beteiligt sein. Oder zumindest sollte die Zahl der Gleichgültigen, wie die Mathematiker sagen würden, gegen Null tendieren.
Natürlich beschreibe ich hier eine Art Idylle, denn in allen Kriegen und zu allen Zeiten gab es weit mehr Zuschauer als Teilnehmer am Widerstand. Die Intellektuellen sind da keine Ausnahme.
Andrij Ljubka stürzte sich kopfüber in die neue Realität: Zunächst half er Menschen aus dem Osten und Norden des Landes, die vor den Kämpfen geflohen waren, in Transkarpatien eine vorübergehende Heimstatt zu finden, und dann begann er, Geld für Jeeps für die Armee zu sammeln. Diese Aktionen erwiesen sich als äußerst effektiv. Nach eigenen Angaben des Autors gelang es ihm und seinem Freiwilligenteam bis zum Herbst 2024, mehr als dreihundert Fahrzeuge zu kaufen, zu reparieren und an die Front zu liefern.
Alle Fragen, die ukrainische und ausländische Journalisten den Schriftstellern in dieser Zeit, vom Februar 2022 bis heute, stellten, liefen irgendwie auf eines hinaus: Ist es überhaupt möglich, etwas zu schreiben, und ist die Literatur nicht im Strudel der Ereignisse untergegangen? Und wenn Texte entstehen, wie spiegeln sie die neue Realität wider?
Im Jahr 2024 erschien im Verlag Meridian Czernowitz das neue Buch von Andrij Ljubka, Die Rückseite des Kriegs (Vijna z tyl’noho boku. Merdian Czernowitz 2024). Wer Ljubkas Aktivitäten in den sozialen Medien verfolgt, wusste wahrscheinlich gleich, dass es sich um die gesammelten Erfahrungen der Freiwilligen-Arbeit aus mehr als zwei Jahren Krieg und, wie der Autor selbst scherzen würde, mit 300 Autos handelte. Aber nicht nur das.
Man könnte das Buch auch als Tagebuch bezeichnen, denn es enthält viele persönliche Erlebnisse und unterhaltsame Reisenotizen von den Fahrten des Autors an die Front und zurück in seine Heimat Transkarpatien. Er bleibt seinem leichten Erzählstil dabei treu und findet sogar Platz für Humor. Wie er selbst in einem Artikel für den Radiosender Suspilne. Kultur erklärt: „Humor ist, glaube ich, eine natürliche Eigenschaft der Ukrainer und zudem eine natürliche Qualität des Raumes, den ich Mitteleuropa nenne. Denn Humor hatte in diesem Teil der Welt immer eine Schutzfunktion.“ Ähnlich äußert er sich in einem der Essays: „Es ist unmöglich, einen Krieg ohne Humor zu überleben. Ja, das Lachen mag manchmal bitter sein, der Humor kann schwarz sein, manchmal wird ein müdes Lächeln von Tränen weggespült, aber Humor ist einer der wirksamsten Mechanismen zum Schutz der menschlichen Psyche.“
Denn wenn sich ständig maximal ernsthaft mit seiner Situation beschäftigt, kann man verrückt werden.
Schon auf den ersten Seiten von Die Rückseite des Kriegs gesteht der Autor, dass er zu Kriegsbeginn die Vergeblichkeit jeglichen Schreibens spürte: „… Ich war enttäuscht von den Worten. Der Beginn der großen Invasion war für mich so etwas wie eine persönliche Niederlage, ein privates Fiasko als Schriftsteller und Kolumnist. Als Vertreter einer Kohorte von Menschen, die schreiben und sinnvoll formulieren … Als die ersten Raketen auf verschlafene, friedliche Städte fielen, zeigte sich, dass Worte machtlos und leer waren, dass die Zeit der Artillerie gekommen war. Deshalb war ich in den ersten Kriegsmonaten nicht nur apathisch, sondern geradezu angewidert vom Schreiben: Es erschien mir egoistisch und sinnlos.“
Man kann in seinen Texten beobachten, dass es teilweise dieses Gefühl war, das ihn dazu veranlasste, angesichts der neuen Realität etwas „Bedeutsameres“ zu machen. Und die leistungsstarken Geländewagen, die die Armee brauchte und heute noch braucht, gaben ihm das Gefühl, einen wichtigen Beitrag zur gemeinsamen Sache zu leisten. Und danach konnte er wieder zu seiner üblichen Arbeit, dem Schreiben, zurückkehren.
Ljubka beschreibt sich und seine Leser als Gemeinschaft, die sich im Laufe der Jahre herausbildete und die ihren Autor in jenem kritischen Moment auch unterstützte. Schließlich stammten die meisten der Spenden für den Kauf von Jeeps von Menschen, die zuvor seine Bücher gelesen hatten und auch weiterhin lesen. Auf gewisse Weise ist es ein einzigartiges Phänomen, wenn Literatur auf die Art einem Land beim Überleben helfen kann. Und gleichzeitig eine Antwort auf die Frage von Ausländern, nicht nur von Journalisten, wie wir es schaffen, so lange durchzuhalten und zu kämpfen.
Der Autor betont, dass die schwierigsten Zeiten in unserer Geschichte uns – wie nie zuvor – geeint haben. Weder während der Orangenen Revolution noch während der Revolution der Würde war die Einheit zwischen den Bewohnern des Ostens und des Westens der Ukraine so stark wie heute. Was die staatlichen Strukturen anbelangt, so sind sie nach Ansicht des Verfassers ebenfalls sauberer geworden. Der Präsident hat sich als elementare und willensstarke Führungspersönlichkeit erwiesen, der Geheimdienst gezeigt, dass er „Spione enttarnen und nicht nur das Business einschüchtern kann“, und so weiter.
Und auch wenn solche Überlegungen im Jahr 2025 etwas idealisiert erscheinen, so beschreiben sie doch genau unsere Gefühle (oder unsere Hoffnungen), etwa im Frühjahr 2022, als es uns gelang, die ersten Wellen der russischen Offensive abzuwehren, und insbesondere im Herbst desselben Jahres, als die ukrainische Armee ihre erste Gegenoffensive startete.
Gleichzeitig wird in diesen Aufsätzen treffend beschrieben, dass nicht nur die Armee gegen den Feind kämpft, sondern zahllose freiwillige Helfer, die tagtäglich an die Front fahren und ihr Leben riskieren. Tausende von Bediensteten der ukrainischen Eisenbahn geben ihre schlecht bezahlte Arbeit nicht auf und fahren regelmäßig in die Städte an der Front, obwohl die Bahnhöfe ein vorrangiges Ziel der russischen Raketen sind. Und die Elektrikerbrigaden beginnen sofort nach einem Beschuss mit der Wiederherstellung von Umspannwerken und Stromleitungen.
Der Autor zeichnet diese Porträts mit der gewohnten Kompetenz und Präzision, und zudem mit Neugierde und Interesse. Denn zusammen mit den Darstellungen der Militärs, mit denen der freiwillige Helfer Ljubka manchmal seinen Alltag teilt, ergeben sie ein Gesamtporträt der heutigen kriegsversehrten Ukraine.
Der europäische Leser wird in den Texten dieses schmalen Buches unerwartet eine Warnung finden. Ljubka weist zu Recht darauf hin, dass vor etwa drei Jahren fast niemand in der Ukraine (oder in der Welt) glauben konnte, dass ein so großer Krieg wie der, den wir derzeit erleben, möglich sei. Allen schien, die Menschen hätten die die Lektionen des Zweiten Weltkriegs gelernt und verinnerlicht.
Schöpfung als Gegenpol
Ja, die Kriege enden nicht auf unserem Planeten. Und ja, ein hybrider Krieg, wie wir ihn seit 2014 erleben, findet auch in unserem Land statt. Aber die Bombardierung friedlicher Städte mit ballistischen Raketen und Drohnen konnte man sich nicht einmal in den schlimmsten Alpträumen vorstellen. Die Welt sollte sich daran erinnern, dass für die Verrückten im Kreml Kramatorsk und Berlin in der gleichen Schusslinie liegen. Und je entschlossener die Unterstützung unserer Verbündeten von „der Rückseite aus“ ist, desto wahrscheinlicher wird es sein, dass die Flammen des Krieges nicht bis zu ihnen züngeln werden.
Darüber hinaus ist die Hilfe für die Ukraine auch ein Akt der Selbstverteidigung Europas.
Trotz des Pathos, mit dem hier der aktuelle Kampf des ukrainischen Volkes und der ukrainischen Armee gegen den Feind geschildert wird, ist der Autor gleichzeitig ehrlich zu den Lesern und vermeidet keine schmerzhaften „Trigger“ und problematischen Fragen wie die Korruption in der ukrainischen Regierung, die anhaltenden Probleme bei der Versorgung der Streitkräfte oder das akute Problem unserer Flüchtlinge im Ausland.
Gleichzeitig ist Die Rückseite des Krieges auch aufrichtig einschließlich sehr persönlicher Details. Es gibt Kindheitserinnerungen, die dem Autor auf der Straße plötzlich durch den Kopf gehen, eine Geschichte über Dörfer und Städte, die von der Besatzung befreit wurden und dann wieder unter russische Kontrolle gerieten, und das Phantom eines „normalen“ Lebens, das man trotz allem führen möchte. Und von den Städten, die der Feind von der Landkarte getilgt hat.
„Krieg ist Zerstörung, feuriges Chaos, das Menschen, Tiere, Pflanzen und den Planeten Erde insgesamt vernichtet. Er zerstört das Unsichtbare – soziale Bindungen, den Glauben an die Menschheit und die Grundlagen der Menschheit. Und die Ablehnung des Krieges heißt nicht einfach Frieden. Frieden ist nur ein Zwischenschritt zwischen dem Krieg und seinem wahren Gegenpol. Denn wenn das Wesen des Krieges die Zerstörung ist, so ist der Gegenpol zum Krieg die Schöpfung ...“
Was meine eigene Erfahrung als Schriftsteller mit dem Schreiben während des Krieges angeht, so wäre das Wort „Therapie“ vielleicht am besten geeignet. Als ich in dem denkwürdigen Jahr 2022 Soldat wurde, begann ich meinen eigenen Beruf wiederzuentdecken. Ja, was für ein Beruf … An der Front hatte ich zuweilen den Eindruck, dass ich nicht nur die richtigen Worte für meine Texte fand, sondern auch ein neues Alphabet für sie schuf, als sei das alte Alphabet plötzlich verschwunden. Jeder Buchstabe schien schwer zu wiegen. Aber als ich die Freude am Schreiben wieder spürte, war ich sehr erleichtert. Und wo es Erleichterung gibt, gibt es Hoffnung auf bessere Zeiten und bessere Umstände. Und sei es nur, weil Texte oft länger leben als wir selbst.
Im Jahr 2023 erhielt ich eine Einladung, einen Essay für die Zeitschrift die horen zu schreiben. Diese Ausgabe, die ausschließlich aus Texten ukrainischer Autoren bestand, wurde ein Jahr später, 2024, auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Leider war es mir aufgrund meiner militärischen Verpflichtungen nicht möglich gewesen, an der Präsentation teilzunehmen. Als die Ausgabe erschien, wurde mir mit einem Mal bewusst, wie wichtig mir mein eigener Aufsatz war. Und das nicht nur, weil er viele persönliche Informationen enthielt, einschließlich meiner eigenen militärischen Erfahrungen. Ich schrieb ein Dutzend weiterer solcher Texte, und jedes Mal stellte ich mir vor, sie wieder zu lesen, wenn all das Grauen um mich herum vorbei sein würde. Denn Kriege enden irgendwann, aber die Literatur nicht.
Texte und Schreiben sind für mich zu einem Wegweiser inmitten des Gewittersturms geworden. Buchstäblich ein Leuchtturm im Sturm. Und ich denke, dies gilt nicht nur für mich, sondern für viele ukrainische Schriftsteller und Freiwillige.
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil
Hier geht es zum Überblicksartikel „Ukrainische Gegenwartsliteratur“