Viktoria Amelina (1. Januar 1986 – 1. Juli 2023)
Die junge Autorin Viktoria Amelina starb infolge eines russischen Raketenangriffs. In ihrem gewaltsam abgebrochenen Schaffen geht es um Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit, sehr konkret auch un die Zeitgeschichte und Gegenwart der Ukraine und das Verhältnis zu Russland, das wiederholt destruktiv in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ukrainer eingreift.
*
1. Juli 2023. Tag 493 der umfassenden Invasion Russlands in die Ukraine. Die Nachricht vom Tod der ukrainischen Schriftstellerin von Büchern für Erwachsene und Kinder, Viktoria Amelina, verbreitet sich.
Einige Tage davor haben die Russen Kramatorsk mit Raketen angegriffen. Viktoria ist in Begleitung von kolumbianischen Journalisten und Schriftstellern. Es ist Abend, und die Russen nehmen zielgenau ein Café ins Visier, in dem sich normalerweise Journalisten und Vertreter von Menschenrechtsgruppierungen treffen. Offiziellen Statistiken zufolge gibt es bei dem russischen Angriff etwa 60 Verletzte und zwölf Tote, darunter drei Jugendliche. Viktoria wird schwer verletzt. Die Ärzte kämpfen um ihr Leben, aber Viktorias Herz hört auf zu schlagen.
Sie ist von Russland getötet worden.
Sie wird für immer 37 Jahre sein.
Der historische Kontext ist bedeutsam: Der Mai 2014 ist für die ukrainische Zeitgeschichte bedeutsam: Auf dem Maidan siegt die Revolution der Würde. 107 Maidan-Demonstranten werden getötet. Das Land entscheidet sich für Europa. Daraufhin besetzt Russland die ukrainische Krim und beginnt eine bewaffnete Aggression gegen die Ukraine in den Gebieten Donezk und Luhansk. Im Mai 2014 beendet Viktoria Amelina ihren ersten Roman Das Novembersyndrom oder Homo Compatiens. Er wird im selben Jahr veröffentlicht.
Der Roman spielt zwischen dem Ende der Sowjetunion (1989) und den Schüssen auf die Demonstranten auf dem Maidan (2014). Es ist die Geschichte von Kostja Netschaj, der je nach Sichtweise eine Gabe oder einen Fluch hat. Sein Einfühlungsvermögen ist so stark ausgeprägt, dass er die Gefühle einer anderen Person durchleben kann, einer Person, die physisch auch auf einem anderen Kontinent leben kann. Er hat Visionen aus Tunesien und sieht die Entstehung des Arabischen Frühlings. Später sieht er auch die Revolution in Ägypten. Kostja glaubt jedoch nicht, dass man mit Protesten etwas ändern und das politische Leben beeinflussen kann.
Und dann beginnt der Maidan. Zum ersten Mal sieht Kostja sich selbst als einen empathischen Menschen und nicht als verdammten Wunderling. Jetzt helfen seine Visionen, Menschenleben zu retten. Schließlich sagt sich Kostja: „Ist Mitgefühl, das zum Handeln führt, nicht das Einzige, das die Existenz von Mitgefühl rechtfertigt? Jetzt handle ich. Ich handle! Ich fühle mich nicht mehr abnormal. Außer vielleicht in dem Sinn, dass auch Batman und Superman als abnormal gelten.“
Kostja stirbt auf dem Maidan. Aber er spürt endlich, dass er sein Leben nicht umsonst gelebt hat. Dass die Menschheit mit einem einzigen Netz verbunden ist. Der Unterstützung. Der Empathie.
In einem Interview sagt Viktoria: „Keines meiner Bücher ist autobiografisch, aber in jedem steckt viel von mir ... Kostja Netschaj ist jene Person, als die ich mich manchmal entpuppe, wenn ich vor der Wahl stehe, zwischen meiner eigenen Bequemlichkeit, für die ich so hart gekämpft habe, und anderen Möglichkeiten, die ich so sehr versuche, nicht zu sehen.“
Auf die Frage nach den Büchern, die sie in ihrer Kindheit und Jugend geprägt haben, nennt Viktoria C. S. Lewis' Nacherzählung des Neuen Testaments in den Chroniken von Narnia, das Neue Testament selbst, Hamlet, Der Idiot von Fjodor Dostojewski und Harry Potter von J. K. Rowling.
Viktoria stellt selbstironisch fest: „Diese Liste zeigt, warum ich in meinen Texten hauptsächlich in der christologischen Geschichte lebe.“ Und schließlich: „Es scheint, dass meine Figuren in naher Zukunft nicht aufhören werden, um anderer willen zu sterben – aber es geht nicht um den Tod, sondern um die Auferstehung.“
Viktoria brach eine erfolgreiche Karriere in der IT-Branche ab („Ich verließ meinen Lieblingsjob, ruinierte meine Karriere, die ich seit meinem siebzehnten Lebensjahr aufgebaut hatte“) und konzentrierte sich auf das Schreiben. Im Jahr 2015 reflektiert sie in ihrem Essay Menschliche Programmiersprachen, dass „sowohl Programmierer als auch Schriftsteller mit Sprache etwas Neues schaffen“, und taucht in ein tieferes Verständnis der Sprache ein, die sich in den Verwerfungen der Realität seit dem Beginn des russischen hybriden Kriegs eingenistet haben.
Viktoria bemerkt: „Ich versuche einem Russen zu erklären, dass ich mich für die Freiheit einsetzte, doch er hört nur auf Russisch das Wort „Freiheit“ und assoziiert sogleich „Chaos“ und „Ohnmacht“.“
2016 veröffentlicht Viktoria ihr erstes Kinderbuch, Irgendeiner oder das Wasserherz, eine Geschichte über Aquarienbewohner, die das Alphabet lernen und verstehen können, wer sie wirklich sind. Vor dem Erscheinen ihres ersten Kinderbuchs veröffentlicht Vika, wie auch genannt wird, einen Essay mit dem Titel Der Peter-Pan-Effekt, eine Art Manifest ihres Verständnisses von Kinderliteratur, die zunächst nur einen Leser in der Familie hat – ihren Sohn. Viktoria ist sich ihrer Verantwortung bewusst: „Denn zu einem Menschen am Anfang seiner Lebenszeit zu sprechen, vor dem Schlafengehen, wenn alles Gesagte lebendig wird, bedeutet, die Zukunft zu verändern, nicht mehr und nicht weniger. Die Zukunft im Alltag zu verändern.“
2017 veröffentlichte sie ihren zweiten Roman, Ein Haus für Dom, eine Familiensaga, die der Pudel Dominik (Domik oder einfach Dom) erzählt. Die Chronologie der Ereignisse im Roman reicht von den 1980er Jahren bis zur Orangenen Revolution 2004, aber die Erzählung projiziert zugleich auch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelt sich um die Geschichte von drei Generationen der Familie Tsilyk, sie wird zu einer großformatigen Leinwand, getränkt mit dem Blut und dem Schmerz der täglichen Entscheidungen und Kompromisse, die das Sowjetvolk einging, um zu überleben.
Viktoria sagt dazu: „Ich wollte betonen, dass ein Ukrainer sowohl ein Opfer als auch ein Henker sein kann – einer, der den Holodomor überlebt hat, und einer, der ihn vergessen hat und in den 1950er Jahren über Korea geflogen ist.“
Drei Generationen der Familie leben jahrzehntelang in einer Wohnung in Lwiw, die ihnen nicht gehört. Für Viktoria geht es in dieser Geschichte „vor allem darum, wie ein Holodomor-Überlebender in der Wohnung eines Holocaust-Überlebenden lebt und sich an keine der Tragödien erinnert.“
Die Familie Tsilyk wohnt in einer Stadt, die ihnen als Sowjetmenschen fremd ist. Mit dem Zusammenbruch des Imperiums sind sie heimatlos, und ihre Identität ist eine Schichtung von Landschaften und Geografien, die durch die verdrehten Windungen des Sowjetseins entstanden ist. Viktoria meint dazu, dass dieser Roman für einige Leser eine Geschichte über die sowjetische Vergangenheit sei, während er für andere ein Buch über Lwiw (und der Neuerfindung von dessen Identität) sei. Aber das Wichtigste: „Besatzungen und Repressionen, der Holocaust und das Gemetzel des polnisch-ukrainischen Krieges bleiben in diesem Lwiw weiterhin unsichtbar, genau wie für die Figuren des Romans – nur wer sie sieht, kann sie sehen. Und das ist die Absicht.“
Dieser Roman hat einen idealen Erzähler – einen Hund, der als Jäger geboren wurde, aber nicht jagen kann. Er ist defekt, fühlt seine Andersartigkeit, Verlassenheit und versucht trotz allem, sein Zuhause zu finden.
Die Welt ist nicht in Ordnung
Viktoria gründet das New Yorker Literaturfestival im Gebiet Donezk: „Es geht darum, dass wir keine Angst haben, in Kriegszeiten wirklich zu leben.“ Im Jahr 2021 wird Viktorias zweites Kinderbuch, E-E- Stories des Baggers Eka veröffentlicht. Eka ist ein freundlicher Bagger, der gerne und viel redet, aber auch Mond und Meer ausbaggern kann.
Nach dem Beginn der russischen Invasion, schließt sich Viktoria im Sommer 2022 einer Menschenrechtsorganisation an und dokumentiert Kriegsverbrechen in den befreiten Gebieten im Osten, Süden und Norden der Ukraine. Sie ist eine Schriftstellerin, Menschenrechtsaktivistin und Zeugin, die in das aufgerissene Herz der Dunkelheit und der bestialischen Verbrechen der russischen Armee blickte.
Nachdem die Streitkräfte der Ukraine die Region Charkiw im September 2022 befreit haben, fährt Viktoria nach Kapitoliwka im Bezirk Izjum, zu den Eltern des Schriftstellers Wolodymyr Wakulenko, der seit Ende März 2022 vermisst wird. Wolodymyr hat das Gefühl, dass die russischen Besatzer ihn bald holen kämen, und er vergräbt deshalb sein Tagebuch der Besatzung unter einem Kirschbaum. Er sagt seinem Vater, er solle es herausgeben, wenn „die Unseren kommen“. Am nächsten Tag wird Wolodymyr Wakulenko von den Russen verschleppt.
Seine Leiche wird im November identifiziert.
Sein Vater kann das Tagebuch des Sohnes nicht finden. Viktoria findet es schließlich. Sie gräbt es eigenhändig mit einer Schaufel aus. Wieder einmal zerstört Russland, der selbsternannte Rechtsnachfolger der Sowjetunion, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Generationen von Ukrainern.
Viktoria ist ein Kettenglied der ukrainischen Geschichte, die niemals verschwinden wird.
Nach Beginn des großen Angriffs beginnt Viktoria Gedichte zu schreiben, was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gemacht hat. Gedichte, die so geschrieben sind:
Als hätte eine Granate
die Sprache getroffen
Die Sprachfragmente
sehen aus wie Poesie
aber sie sind es nicht.
Sprachfragmente, Schmerzklumpen, Sehnsucht, Trauer. Was die Autorin mit ihren eigenen Augen gesehen hat. Viktorias erster Gedichtband Zeugnisse wird nach ihrem Tod von ihren Schwestern herausgegeben. Es sind außergewöhnliche Texte.
Viktoria arbeitete an ihrem englischsprachigen Debüt-Sachbuch War and Justice Diary: Looking at Women Looking at War. Es geht darin um Frauen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren.
Im Mai 2023 treffen wir uns in Kijiw. Es ist ein weiterer Tag der russischen Kriegsverbrechen. Diesmal zerstören die Russen das Kulturzentrum New York im Gebiet Donezk, jenen besonderen Veranstaltungsort, an dem Viktoria und ihr Team ein Literaturfestival veranstalten wollten.
Ich frage sie: „Nun, sieht das nicht wie die finale Geschichte für dein Buch aus? Du kannst einen Endpunkt setzen.“
Viktoria lächelte: „Dieses Finale läuft ständig davon. Es passiert immer wieder etwas anderes.“
„Ja,“ sage ich, „die Russen begehen jeden Tag wieder und wieder Böses.“
Viktoria erzählt mir, dass sie bald mit einem Stipendium für ein Jahr nach Paris gehen wird, und sie träumt davon, mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen.
Einen Monat später findet in Kijiw das Literaturfestival „Arsenal“ statt. Der ukrainische PEN lädt die Familie von Wolodymyr Wakulenko nach Kijiw ein. Gemeinsam mit Viktoria präsentierten sie die Buchausgabe von Wolodymyrs gerettetem Tagebuch.
Dann trägt Viktoria ihre Gedichte vor.
Wir umarmen uns einen Moment lang. Viktoria hat es eilig – in einer Minute muss sie über Kriegsverbrechen sprechen. Die Diskussion hieß: „Welche Verbrechen begeht Russland?“ Danach fährt Viktoria nach Kramatorsk.
Viktoria stirbt am 1. Juli, dem Geburtstag von Wolodymyr Wakulenko. Sie hat dessen letzte Worte vor dem ewigen Vergessen bewahrt.
Zwei Romane.
Zwei Kinderbücher.
Ein erster Gedichtband. Posthum.
Ein erstes Sachbuch. Posthum.
In einem Gespräch, das drei Wochen vor dem russischen Einmarsch veröffentlicht wird, erörtert Viktoria, was die Zahlen von Stalins Terror und der Unterdrückung von Generationen ukrainischer Künstler wirklich bedeuten, wenn man es mit heutigen Ereignissen korrelieren würde. Sie sagt: „Eine solche Statistik würde die Vernichtung von achtzig Prozent meiner Freunde und Bekannten bedeuten.“
Ukrainische Schriftsteller wurden – und werden noch immer – selten 40 Jahre alt. Ukrainische Klassiker konnten oft nur ein oder zwei Bücher schreiben. Grandiose Debüts, in denen die Stimme ihren Tonfall zuweilen noch finden musste. Ein Versprechen auf eine grandiose Zukunft.
Viktoria erinnert in einem Interview daran, dass sie im Alter von fünf Jahren begann, Gedichte zu schreiben. Das Hauptthema dieser ersten Schreibversuche war: „die Welt ist kaputt und muss repariert werden.“ Dann fügt sie hinzu: „Im Prinzip hat sich seither nichts geändert: Das Thema ist noch dasselbe, und die Welt ist noch nicht in Ordnung.“
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil
Hier geht es zum Überblicksartikel „Ukrainische Gegenwartsliteratur“
Viktoria Amelina (1. Januar 1986 – 1. Juli 2023)>
Die junge Autorin Viktoria Amelina starb infolge eines russischen Raketenangriffs. In ihrem gewaltsam abgebrochenen Schaffen geht es um Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit, sehr konkret auch un die Zeitgeschichte und Gegenwart der Ukraine und das Verhältnis zu Russland, das wiederholt destruktiv in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ukrainer eingreift.
*
1. Juli 2023. Tag 493 der umfassenden Invasion Russlands in die Ukraine. Die Nachricht vom Tod der ukrainischen Schriftstellerin von Büchern für Erwachsene und Kinder, Viktoria Amelina, verbreitet sich.
Einige Tage davor haben die Russen Kramatorsk mit Raketen angegriffen. Viktoria ist in Begleitung von kolumbianischen Journalisten und Schriftstellern. Es ist Abend, und die Russen nehmen zielgenau ein Café ins Visier, in dem sich normalerweise Journalisten und Vertreter von Menschenrechtsgruppierungen treffen. Offiziellen Statistiken zufolge gibt es bei dem russischen Angriff etwa 60 Verletzte und zwölf Tote, darunter drei Jugendliche. Viktoria wird schwer verletzt. Die Ärzte kämpfen um ihr Leben, aber Viktorias Herz hört auf zu schlagen.
Sie ist von Russland getötet worden.
Sie wird für immer 37 Jahre sein.
Der historische Kontext ist bedeutsam: Der Mai 2014 ist für die ukrainische Zeitgeschichte bedeutsam: Auf dem Maidan siegt die Revolution der Würde. 107 Maidan-Demonstranten werden getötet. Das Land entscheidet sich für Europa. Daraufhin besetzt Russland die ukrainische Krim und beginnt eine bewaffnete Aggression gegen die Ukraine in den Gebieten Donezk und Luhansk. Im Mai 2014 beendet Viktoria Amelina ihren ersten Roman Das Novembersyndrom oder Homo Compatiens. Er wird im selben Jahr veröffentlicht.
Der Roman spielt zwischen dem Ende der Sowjetunion (1989) und den Schüssen auf die Demonstranten auf dem Maidan (2014). Es ist die Geschichte von Kostja Netschaj, der je nach Sichtweise eine Gabe oder einen Fluch hat. Sein Einfühlungsvermögen ist so stark ausgeprägt, dass er die Gefühle einer anderen Person durchleben kann, einer Person, die physisch auch auf einem anderen Kontinent leben kann. Er hat Visionen aus Tunesien und sieht die Entstehung des Arabischen Frühlings. Später sieht er auch die Revolution in Ägypten. Kostja glaubt jedoch nicht, dass man mit Protesten etwas ändern und das politische Leben beeinflussen kann.
Und dann beginnt der Maidan. Zum ersten Mal sieht Kostja sich selbst als einen empathischen Menschen und nicht als verdammten Wunderling. Jetzt helfen seine Visionen, Menschenleben zu retten. Schließlich sagt sich Kostja: „Ist Mitgefühl, das zum Handeln führt, nicht das Einzige, das die Existenz von Mitgefühl rechtfertigt? Jetzt handle ich. Ich handle! Ich fühle mich nicht mehr abnormal. Außer vielleicht in dem Sinn, dass auch Batman und Superman als abnormal gelten.“
Kostja stirbt auf dem Maidan. Aber er spürt endlich, dass er sein Leben nicht umsonst gelebt hat. Dass die Menschheit mit einem einzigen Netz verbunden ist. Der Unterstützung. Der Empathie.
In einem Interview sagt Viktoria: „Keines meiner Bücher ist autobiografisch, aber in jedem steckt viel von mir ... Kostja Netschaj ist jene Person, als die ich mich manchmal entpuppe, wenn ich vor der Wahl stehe, zwischen meiner eigenen Bequemlichkeit, für die ich so hart gekämpft habe, und anderen Möglichkeiten, die ich so sehr versuche, nicht zu sehen.“
Auf die Frage nach den Büchern, die sie in ihrer Kindheit und Jugend geprägt haben, nennt Viktoria C. S. Lewis' Nacherzählung des Neuen Testaments in den Chroniken von Narnia, das Neue Testament selbst, Hamlet, Der Idiot von Fjodor Dostojewski und Harry Potter von J. K. Rowling.
Viktoria stellt selbstironisch fest: „Diese Liste zeigt, warum ich in meinen Texten hauptsächlich in der christologischen Geschichte lebe.“ Und schließlich: „Es scheint, dass meine Figuren in naher Zukunft nicht aufhören werden, um anderer willen zu sterben – aber es geht nicht um den Tod, sondern um die Auferstehung.“
Viktoria brach eine erfolgreiche Karriere in der IT-Branche ab („Ich verließ meinen Lieblingsjob, ruinierte meine Karriere, die ich seit meinem siebzehnten Lebensjahr aufgebaut hatte“) und konzentrierte sich auf das Schreiben. Im Jahr 2015 reflektiert sie in ihrem Essay Menschliche Programmiersprachen, dass „sowohl Programmierer als auch Schriftsteller mit Sprache etwas Neues schaffen“, und taucht in ein tieferes Verständnis der Sprache ein, die sich in den Verwerfungen der Realität seit dem Beginn des russischen hybriden Kriegs eingenistet haben.
Viktoria bemerkt: „Ich versuche einem Russen zu erklären, dass ich mich für die Freiheit einsetzte, doch er hört nur auf Russisch das Wort „Freiheit“ und assoziiert sogleich „Chaos“ und „Ohnmacht“.“
2016 veröffentlicht Viktoria ihr erstes Kinderbuch, Irgendeiner oder das Wasserherz, eine Geschichte über Aquarienbewohner, die das Alphabet lernen und verstehen können, wer sie wirklich sind. Vor dem Erscheinen ihres ersten Kinderbuchs veröffentlicht Vika, wie auch genannt wird, einen Essay mit dem Titel Der Peter-Pan-Effekt, eine Art Manifest ihres Verständnisses von Kinderliteratur, die zunächst nur einen Leser in der Familie hat – ihren Sohn. Viktoria ist sich ihrer Verantwortung bewusst: „Denn zu einem Menschen am Anfang seiner Lebenszeit zu sprechen, vor dem Schlafengehen, wenn alles Gesagte lebendig wird, bedeutet, die Zukunft zu verändern, nicht mehr und nicht weniger. Die Zukunft im Alltag zu verändern.“
2017 veröffentlichte sie ihren zweiten Roman, Ein Haus für Dom, eine Familiensaga, die der Pudel Dominik (Domik oder einfach Dom) erzählt. Die Chronologie der Ereignisse im Roman reicht von den 1980er Jahren bis zur Orangenen Revolution 2004, aber die Erzählung projiziert zugleich auch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelt sich um die Geschichte von drei Generationen der Familie Tsilyk, sie wird zu einer großformatigen Leinwand, getränkt mit dem Blut und dem Schmerz der täglichen Entscheidungen und Kompromisse, die das Sowjetvolk einging, um zu überleben.
Viktoria sagt dazu: „Ich wollte betonen, dass ein Ukrainer sowohl ein Opfer als auch ein Henker sein kann – einer, der den Holodomor überlebt hat, und einer, der ihn vergessen hat und in den 1950er Jahren über Korea geflogen ist.“
Drei Generationen der Familie leben jahrzehntelang in einer Wohnung in Lwiw, die ihnen nicht gehört. Für Viktoria geht es in dieser Geschichte „vor allem darum, wie ein Holodomor-Überlebender in der Wohnung eines Holocaust-Überlebenden lebt und sich an keine der Tragödien erinnert.“
Die Familie Tsilyk wohnt in einer Stadt, die ihnen als Sowjetmenschen fremd ist. Mit dem Zusammenbruch des Imperiums sind sie heimatlos, und ihre Identität ist eine Schichtung von Landschaften und Geografien, die durch die verdrehten Windungen des Sowjetseins entstanden ist. Viktoria meint dazu, dass dieser Roman für einige Leser eine Geschichte über die sowjetische Vergangenheit sei, während er für andere ein Buch über Lwiw (und der Neuerfindung von dessen Identität) sei. Aber das Wichtigste: „Besatzungen und Repressionen, der Holocaust und das Gemetzel des polnisch-ukrainischen Krieges bleiben in diesem Lwiw weiterhin unsichtbar, genau wie für die Figuren des Romans – nur wer sie sieht, kann sie sehen. Und das ist die Absicht.“
Dieser Roman hat einen idealen Erzähler – einen Hund, der als Jäger geboren wurde, aber nicht jagen kann. Er ist defekt, fühlt seine Andersartigkeit, Verlassenheit und versucht trotz allem, sein Zuhause zu finden.
Die Welt ist nicht in Ordnung
Viktoria gründet das New Yorker Literaturfestival im Gebiet Donezk: „Es geht darum, dass wir keine Angst haben, in Kriegszeiten wirklich zu leben.“ Im Jahr 2021 wird Viktorias zweites Kinderbuch, E-E- Stories des Baggers Eka veröffentlicht. Eka ist ein freundlicher Bagger, der gerne und viel redet, aber auch Mond und Meer ausbaggern kann.
Nach dem Beginn der russischen Invasion, schließt sich Viktoria im Sommer 2022 einer Menschenrechtsorganisation an und dokumentiert Kriegsverbrechen in den befreiten Gebieten im Osten, Süden und Norden der Ukraine. Sie ist eine Schriftstellerin, Menschenrechtsaktivistin und Zeugin, die in das aufgerissene Herz der Dunkelheit und der bestialischen Verbrechen der russischen Armee blickte.
Nachdem die Streitkräfte der Ukraine die Region Charkiw im September 2022 befreit haben, fährt Viktoria nach Kapitoliwka im Bezirk Izjum, zu den Eltern des Schriftstellers Wolodymyr Wakulenko, der seit Ende März 2022 vermisst wird. Wolodymyr hat das Gefühl, dass die russischen Besatzer ihn bald holen kämen, und er vergräbt deshalb sein Tagebuch der Besatzung unter einem Kirschbaum. Er sagt seinem Vater, er solle es herausgeben, wenn „die Unseren kommen“. Am nächsten Tag wird Wolodymyr Wakulenko von den Russen verschleppt.
Seine Leiche wird im November identifiziert.
Sein Vater kann das Tagebuch des Sohnes nicht finden. Viktoria findet es schließlich. Sie gräbt es eigenhändig mit einer Schaufel aus. Wieder einmal zerstört Russland, der selbsternannte Rechtsnachfolger der Sowjetunion, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Generationen von Ukrainern.
Viktoria ist ein Kettenglied der ukrainischen Geschichte, die niemals verschwinden wird.
Nach Beginn des großen Angriffs beginnt Viktoria Gedichte zu schreiben, was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gemacht hat. Gedichte, die so geschrieben sind:
Als hätte eine Granate
die Sprache getroffen
Die Sprachfragmente
sehen aus wie Poesie
aber sie sind es nicht.
Sprachfragmente, Schmerzklumpen, Sehnsucht, Trauer. Was die Autorin mit ihren eigenen Augen gesehen hat. Viktorias erster Gedichtband Zeugnisse wird nach ihrem Tod von ihren Schwestern herausgegeben. Es sind außergewöhnliche Texte.
Viktoria arbeitete an ihrem englischsprachigen Debüt-Sachbuch War and Justice Diary: Looking at Women Looking at War. Es geht darin um Frauen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren.
Im Mai 2023 treffen wir uns in Kijiw. Es ist ein weiterer Tag der russischen Kriegsverbrechen. Diesmal zerstören die Russen das Kulturzentrum New York im Gebiet Donezk, jenen besonderen Veranstaltungsort, an dem Viktoria und ihr Team ein Literaturfestival veranstalten wollten.
Ich frage sie: „Nun, sieht das nicht wie die finale Geschichte für dein Buch aus? Du kannst einen Endpunkt setzen.“
Viktoria lächelte: „Dieses Finale läuft ständig davon. Es passiert immer wieder etwas anderes.“
„Ja,“ sage ich, „die Russen begehen jeden Tag wieder und wieder Böses.“
Viktoria erzählt mir, dass sie bald mit einem Stipendium für ein Jahr nach Paris gehen wird, und sie träumt davon, mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen.
Einen Monat später findet in Kijiw das Literaturfestival „Arsenal“ statt. Der ukrainische PEN lädt die Familie von Wolodymyr Wakulenko nach Kijiw ein. Gemeinsam mit Viktoria präsentierten sie die Buchausgabe von Wolodymyrs gerettetem Tagebuch.
Dann trägt Viktoria ihre Gedichte vor.
Wir umarmen uns einen Moment lang. Viktoria hat es eilig – in einer Minute muss sie über Kriegsverbrechen sprechen. Die Diskussion hieß: „Welche Verbrechen begeht Russland?“ Danach fährt Viktoria nach Kramatorsk.
Viktoria stirbt am 1. Juli, dem Geburtstag von Wolodymyr Wakulenko. Sie hat dessen letzte Worte vor dem ewigen Vergessen bewahrt.
Zwei Romane.
Zwei Kinderbücher.
Ein erster Gedichtband. Posthum.
Ein erstes Sachbuch. Posthum.
In einem Gespräch, das drei Wochen vor dem russischen Einmarsch veröffentlicht wird, erörtert Viktoria, was die Zahlen von Stalins Terror und der Unterdrückung von Generationen ukrainischer Künstler wirklich bedeuten, wenn man es mit heutigen Ereignissen korrelieren würde. Sie sagt: „Eine solche Statistik würde die Vernichtung von achtzig Prozent meiner Freunde und Bekannten bedeuten.“
Ukrainische Schriftsteller wurden – und werden noch immer – selten 40 Jahre alt. Ukrainische Klassiker konnten oft nur ein oder zwei Bücher schreiben. Grandiose Debüts, in denen die Stimme ihren Tonfall zuweilen noch finden musste. Ein Versprechen auf eine grandiose Zukunft.
Viktoria erinnert in einem Interview daran, dass sie im Alter von fünf Jahren begann, Gedichte zu schreiben. Das Hauptthema dieser ersten Schreibversuche war: „die Welt ist kaputt und muss repariert werden.“ Dann fügt sie hinzu: „Im Prinzip hat sich seither nichts geändert: Das Thema ist noch dasselbe, und die Welt ist noch nicht in Ordnung.“
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil
Hier geht es zum Überblicksartikel „Ukrainische Gegenwartsliteratur“