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Ukrainische Gegenwartsliteratur

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(c) Pixabay

Drei ukrainische und drei deutsche bedeutende literarische Stimmen stellen ab heute, dem 24. Februar 2025, im Literaturportal Bayern die neueste ukrainische Literatur vor. Sie ist im Krieg nicht verstummt. Vielmehr präsentiert sie sich als ein wichtiger Teil der europäischen Gegenwartsliteratur. Dr. habil. Alexander Kratochvil, Literaturübersetzer aus dem Ukrainischen und Tschechischen sowie Slawist an der LMU München, gewährt einen ersten Einblick in das kommende „Thema“ zur ukrainischen Literatur heute.

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Ja, Zeitenwende hieß es, und jüngst geht gar die Rede um vom Epochenbruch im Zusammenhang mit dem Vernichtungsfeldzug Russlands gegen die Ukraine und der gleichzeitigen Zerstörung des europäischen Koordinatensystems aus transatlantischer Sicherheit, europäischer Tradition und Kultur. Während die plakativen Begriffe Zeitenwende und Epochenbruch eher metaphorischen Charakter haben und so vieldeutig auslegbar sind, dass am Ende von ihrer ursprünglichen Motivation, dem russischen Krieg und seine Folgen, kaum etwas bleibt, ist „Krieg“ für viele ukrainische Autorinnen und Autoren keine Metapher mehr. Vielmehr bezeichnet es den Einbruch des Realen in die symbolische Ordnung, das Koordinatensystem, das wir uns als Europäer einschließlich der Ukrainer zurechtgelegt haben, auf dem wir unsere Orientierung und Sicherheit in der Welt gründen. Dieses brutale und unmenschlich Reale des Kriegs entzieht sich gewohnten Denkmustern, deshalb ist es für uns so schwer zu begreifen.

Im Hinblick auf die Ukraine und ihre Literatur gab es schon einmal eine solche Zeitenwende resp. einen Epochenbruch: Mitte der 1980er-Jahre, als die Sowjetunion mit der Explosion des AKW Tschernobyl implodierte. Das Atomkraftwerk Tschernobyl als Metapher für die Modernität und wissenschaftlich-technische Reife der Sowjetunion zerfiel mit dem radioaktiven Fallout in Europa. Der Super-GAU von Tschernobyl war das Reale, das in die Sowjetwirklichkeit einbrach und in wenigen Jahren die Sowjetunion zum totalen Einsturz brachte – und nicht was ein Führer im Kreml in seinen delirierenden Geschichtsbildern fantasiert.

Für die ukrainische Gesellschaft, Kultur und Literatur bedeutet das Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, 1986, einen realen Epochenbruch. Um bei der Literatur zu bleiben: Er markiert das Ende der sowjetukrainischen Literatur und den Beginn der Gegenwartsliteratur. Diese wird treffend auch als Post-Tschernobyl-Literatur oder Post-Tschernobyl-Bibliothek (Tamara Hundorova, Oksana Sabuschko) bezeichnet. Die Vertreter dieser Literatur schreiben zwar kaum über die Reaktorkatastrophe selbst, verabschieden aber in ihren Texten den als geistiges Tschernobyl wahrgenommenen allgegenwärtigen sozialen und kulturellen Niedergang sowie die Entmenschlichung der sowjetischen Lebensverhältnisse. In literaturwissenschaftlicher Perspektive handelt es sich um eine posttotalitäre und postkoloniale Literatur, die das totalitäre und koloniale Erbe Russlands und der Sowjetzeit reflektiert.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Die Literatur der Post-Tschernobyl-Bibliothek erstreckt sich mit zwei Generationen von Autorinnen und Autoren bis in Jahr 2014. Ihre Merkmale sind die Dekonstruktion des sozialistischen Realismus als verpflichtendes Regelwerk für Form und Inhalt der Literatur und als Stabilisator des sozialistisch-sowjetischen Kanons sowie – seit den ausgehenden 1980er-Jahren – eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Ehemals „offizielle“ Literatur mischt sich mit Samisdat- und Untergrundliteratur, mit Exilliteratur. Bisher nicht publizierte Texte von Autoren und Autorinnen früherer Generationen beanspruchen ebenso wie neu entstandene Texte Aufmerksamkeit und ermöglichen damit einen ästhetischen und weltanschaulichen Pluralismus. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ermöglicht außerdem eine Wiederentdeckung kulturell verschiedener Topografien wie Galizien, Charkiw oder die Krim.

Sie knüpft an die traditionell polyzentrische regionale Struktur der Ukraine an mit Poltawa, Charkiw, Kijiw, Lwiw, Czernowitz als Kulturzentren. Die heutigen ukrainischen Regionen waren in ihrer historischen Entwicklung unterschiedlichen politischen Formationen und imperialen Strukturen zugeordnet. Im Zug der Nationalbewegungen im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts waren Sprache und Literatur für die ukrainischen Autoren und Intellektuellen ein Mittel, um die Idee einer gemeinsamen Identität über einzelne Regionalidentitäten hinaus zu erzeugen. So beschwor der Romantiker und ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko eine ukrainische Gemeinschaft aus „Lebenden, Toten und Ungeborenen” in seinem gleichnamigen Poem, und sicher nicht zufällig erzählt das Initialwerk der neueren ukrainischen Literatur, Iwan Kotljarewskyjs Äneis-Travestie von der Suche der ukrainischen Kosaken nach einer neuen Heimat. Die Ukraine existierte nicht physisch als Staat auf der Landkarte, sondern vor allem als vorgestellte Gemeinschaft, als eine Erzählung in Wissenschaften und Literatur. Im Übrigen etwas, was für die meisten slawischsprachigen Kulturen des 19. Jahrhunderts gilt.

Seit den ausgehenden 1980er-Jahren bot Dezentralisierung und Regionalisierung zudem bisher unterdrückten oder marginalisierten regional-nationalen Geschichten Raum für Artikulationsmöglichkeiten und bezog rückblickend auch die jüdische, deutsche respektive österreichische sowie polnische Bevölkerung mit ein, sehr anschaulich in Lwiw, Drohobytsch oder Czernowitz (z. B. Bruno Schulz, Leopold Sacher-Masoch, Karl Emil Franzos oder Paul Celan).

Wesentliche Vertreter der Post-Tschernobyl-Bibliothek sind Oksana Sabuschko (1960) und Juri Andruchowytsch (1960). Beide – so unterschiedlich sie in ihrer Ästhetik und mit ihren literarischen Mitteln auch sein mögen – thematisieren in ihren Prosawerken Fragen nationaler, gesellschaftlicher und individueller Identitäten, der Zugehörigkeit zu Europa und reaktivieren dabei das kulturelle Gedächtnis. Ein weiterer Autor, der nicht nur durch sein anspruchsvolles Werk, sondern mit seinem „magischen Literaturportal“ (Irena Karpa), der Zeitschrift Chetver (Donnerstag), die Post-Tschernobyl-Bibliothek prägte, ist Jurko Izdryk.

Bei einem weiteren wichtigen Autor dieser Bibliothek, Serhij Zhadan (1972), wird ein regionaler und thematischer Perspektivwechsel deutlich. Mit seinem Schaffen bildet er ein Übergangsphänomen zur jüngsten Schriftstellergeneration. Sein Werk ist in Inhalt und Form eine Alternative zu allem, was bis in die 1990er-Jahre traditionell als ukrainisch galt. Dazu trägt wesentlich die Topografie von Zhadans Dichtung bei. Sie ist von einer Landschaft inspiriert, in der verrottende Industrieanlagen und Trabantenstädte wie Mahnmale und letzte Zeugen des Sowjetexperiments aufragen. In den 2000er-Jahren meldet sich dann eine neue Generation von Autorinnen und Autoren zu Wort, die die Probleme des kulturellen Gedächtnisses und postkoloniale Identitäten der Ukraine neu definieren. Sie sind Teil einer zunehmend erstarkenden Zivilgesellschaft, wie sich in der Orangenen Revolution und dann vor allem auf dem Maidan manifestiert. In literarischer Hinsicht verorten sie sich in der zeitgenössischen europäischen (Pop)-Kultur. Neben Serhij Zhadan sind wichtige Vertreter Irena Karpa, Oleksandr Myched, Andrij Ljubka, Ljubow Jakymtschuk, Viktoria Amelina sowie Bohdan Kolomijtschuk.

Eine der frischesten europäischen Gegenwartsliteraturen

Nach dem Majdan resp. der Revolution der Würde (tatsächlich ging es u.a. um die Würde der ukrainischen Zivilgesellschaft gegenüber einer von Russland korrumpierten, mafiösen Staatsführung) begann der russische Krieg gegen die Ukraine mit der Annexion der Krim und der verdeckten russischen Invasion in die Gebiete Donezk und Luhansk. Die Literatur reflektiert seitdem zunehmend die Folgen des Maidan und die Auswirkungen des Kriegs im Osten der Ukraine. Freilich ist oft der Maidan oder der Krieg nicht vordergründig das Thema, sondern mit ihnen verknüpfte Phänomene wie die Frage nach Alltag und Identitäten in der Ukraine vor 2014, nach individuellem und kollektivem Engagement und Verantwortung im Krieg einschließlich des Einsatzes als Soldat, dem Schicksal der Binnenflüchtlinge einschließlich der Krimtataren, dem Leben in den grauen Zonen bzw. den Grenzgebieten zwischen den Territorien, die die ukrainische Armee kontrolliert und jenen, die Russland mit sog. Separatisten okkupiert hat.

Herausragende Werke dieses Zeitabschnitts stammen von Autorinnen und Autoren, die unmittelbar mit dem Krieg konfrontiert sind, etwa als Bewohner der Frontstadt Charkiw, als Flüchtlinge und Vertriebene aus den von Russland besetzten Gebieten der Ostukraine, als Soldaten im Kampfeinsatz oder als zivilgesellschaftliche Aktivistinnen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren. Zu diesen Autorinnen und Autoren gehören Ljubow Jakymtschuk mit ihrem Langgedicht Aprikosen des Donbas, Andrij Ljubkas Karbid, Oleksandr Mycheds Dein Blut wird Kohle tränken und Sofia Andruchowytschs Amadoka-Trilogie, Viktoria Amelinas Ein Haus für Dom sowie Bohdan Kolomijtschuk, Ostap Slyvynskyj, Irena Karpa und Jurko Izdryk.

Der Februar 2022 ließ mit der versuchten Okkupation der gesamten Ukraine durch Russland die ukrainische Literatur verstummen. Doch nur für einen Moment.

Der ukrainische Kulturminister rief zu Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine dazu auf, dass die Ukrainer nun Gedichte schreiben sollten, um die Ereignisse für kommende Generationen zu dokumentieren und durch die Literatur in der Erinnerung zu bewahren – Gedichte als Mnemotechnik, um Ereignisse zu memorieren, ähnlich wie in der Antike und im Mittelalter. Und tatsächlich entstand eine Vielzahl lyrischer Texte von Amateuren wie Profiautoren. Seit dem totalen Krieg Russlands gegen die Ukraine diskutieren namhafte Schriftsteller, dass Krieg keine Metapher sei (Halyna Kruk), dass es Wörter des Kriegs gebe (Ostap Slyvynskyj), dass ein Geschoss die Sprache getroffen und zersplittert habe (Viktoria Amelina), dass Schreiben therapeutische Zwecke erfülle (Bohdan Kolomijtschuk), dass Schreiben unmoralisch sei (Andrij Ljubka).

Die genannten Autorinnen und Autoren treten mit dieser Reihe zur ukrainischen Gegenwartsliteratur in einen gedachten Dialog mit dem deutschen Lesepublikum, an dem auch drei deutsche Gegenwartsautorinnen beteiligt sind: Tanja Dückers, Kerstin Preiwuß und Ulrike Almut Sandig. Diese drei Autorinnen, Dichterinnen, Essayistinnen pflegen vielfältige Verbindungen zur ukrainischen Literatur, sie arbeiten in literarischen und multimedialen Projekten mit ukrainischen Autorinnen und Autoren sowie Musikerinnen und Musikern zusammen, treten mit ihnen gemeinsam bei Lesungen auf, übersetzen ihre Werke, kennen die Ukraine aus eigener Erfahrung. Sie präsentieren je einen Autor oder eine Autorin als wesentliche literarische Stimme der Ukraine. Von ukrainischer Seite sind die Autorin Irena Karpa sowie die Autoren Bohdan Kolomijtschuk und Oleksandr Myched beteiligt.

Diese erhellende ukrainisch-deutsche Sicht auf eine der frischesten und originellsten europäischen Gegenwartsliteraturen finden Sie ab heute sukzessiv im Literaturportal Bayern.