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06.03.2025, 09:00 Uhr
Thomas Kraft
Text & Debatte

Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 5: Karl Müchler, Kriminalgeschichten (1792)

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Karl Friedrich Müchler

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren –  darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.

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Der Schriftsteller und Jurist aus Pommern berichtet auf dokumentarischer Grundlage mit aufklärerischem Impetus von realen Verbrechen und beleuchtet dabei soziale Milieus und politische Territorien. Mit seinem Interesse an Moralität, Recht und Strafvollzug und seinem unterhaltend-belehrenden Gestus wirkt Karl Müchler wie ein Geistesverwandter und früher Vorläufer von Friedrich von Schirach.

Karl Friedrich Müchler wird 1763 in Stargard, Pommern, geboren, studiert später Jura in Berlin und tritt in den Verwaltungsdienst ein. Wie Meißner ist Müchler Freimaurer und preußischer Patriot, wie Meißner ist er in erster Linie Unterhaltungsschriftsteller, der die Ideen der Aufklärung einer breiten Leserschicht nahebringen will. Er dürfte auch als „Erfinder“ des Genres „Kriminalgeschichte“ in der deutschsprachigen Literatur gelten. Diese Kriminalgeschichten tragen, dem großen Erfolg entsprechend, in einer auf vier Bände erweiterten Neuauflage (1828-1833) den programmatischen Titel „Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde“. Hier stehen Sätze wie „der Körper bringt in der Seele wie die Seele in dem Körper Veränderungen hervor“ und nun gelte es, bei den Tätern „die geheimen Triebfedern ihrer Handlungen nach Möglichkeit“ zu erforschen. Von den Opfern ist, das muss man auch festhalten, bedauerlicherweise selten ausführlich die Rede.

Bevor die Kriminalromane von englischsprachigen Autoren wie Edgar Allan Poe, Arthur Conan Doyle und Agatha Christie im späten 19. Jahrhundert populär werden, existiert das Genre der Kriminalerzählung bereits seit über hundert Jahren. Man denke nur an den Nürnberger Barockdichter Georg Philipp Harsdörffer und seinen Großen Schau-Platz jaemmerlicher Mord-Geschichte von 1651, 1656 erschienen, also weit vor dem 19. Jahrhundert.

Schon die Texte von François Gayot de Pitaval, Johann Friedrich Eisenhart, August Gottfried Meißner und Paul Johann Anselm von Feuerbach beschäftigen sich vorrangig mit den Wechselwirkungen zwischen Verbrechen, Recht und Moral. Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde die Entwicklung der Rechtsphilosophie sowie die Reformierung von Recht und Strafrecht in zahlreichen Sammlungen von Fallberichten sowie in fiktionalen Erzählungen behandelt, die häufig auf realen Ereignissen basierten. Auch Müchlers Geschichten belegen sein starkes Interesse an den psychologischen und sozialen Ursachen für Verbrechen. Sie beruhen auf historisch dokumentierten Fällen. Im Gegensatz zu Meißners Texten hat Müchler die Vorlagen viel stärker literarisiert und ausgeschmückt. Mit diesen exemplarischen Fällen will er auf populäre Weise grundsätzlich ethische und gesellschaftspolitische Fragen anreißen und thematisieren.

So beginnt eine Geschichte wie folgt: „Friedrich Jeremias wurde im Jahr 1760 zu Halberstadt geboren, woselbst sein Vater, Gottfried Jeremias, ein Leinweber war. In seiner Kindheit wurde er im Christenthum, nach dem lutherischen Lehrsystem, gehörig unterrichtet, und sein Vater zwang ihn, wider seinen Willen zur Erlernung der väterlichen Profeßion, zu der er ganz und gar keine Lust und Neigung hatte. Aus Mißvergnügen über eine Lebensart, die er nicht lieben konnte, entlief er seinem Vater und ließ sich beim Ausbruch des Amerikanischen Krieges unter die Churfürstl. Braunschweigischen in Englischen Sold genommenen Truppen anwerben, und ging mit ihnen nach Amerika. Aber all seine chimärischen Träume von glänzendem Glück, von denen damals so mancher unerfahrne Jüngling bethört wurde, der Verwandte, Freunde und Vaterland verließ, um dort Tod oder Elend zu finden, wurden nicht erfüllt; Jeremias kam eben so arm wie hilfsbedürftig wieder nach Europa zurück, als er es verlassen hatte, und erhielt hier, mit einem großen Theil seiner übrigen Kameraden, da man ihn nicht weiter gebrauchen konnte, seinen Abschied, um nun sein Heil weiter zu versuchen.“

Ähnlich wie Meißner legt er viel Wert auf soziale und gesellschaftliche Kontexte, in denen er die Figuren agieren lässt. Auch wenn die Fälle aus den Gerichtsakten „gezogen“ wurden, erscheinen sie lebensnah und spannend. Müchler experimentiert zudem mit Erzählkommentaren, Perspektivwechseln, Einsprengseln anderer Textformen wie Protokollen und schafft so eine komplexe und doch anschauliche Darstellungsweise. Nicht selten endet die Fallstudie nicht bei der Tat, sondern wirft auch einen Blick auf so unterschiedliche Formen der Strafverfolgung wie „Gassenlaufen“ und „Rädern“. Damit erweist sich Müchlers als Vorläufer so bekannter Autoren-Juristen wie Theodor Storm und E.T.A. Hoffmann

Karl Müchler: Kriminalgeschichten. Aus gerichtlichen Akten gezogen. Mit einem Nachwort und herausgegeben von Alexander Košenina. Wehrhahn Verlag, Hannover 2018.

 

Lesen Sie nächst Woche über den Roman einer Autorin, die sich schon früh mit der Situation der Arbeiterschaft in Deutschland befasst und prompt zensiert wird.