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20.02.2025, 08:00 Uhr
Thomas Kraft
Text & Debatte

Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 3: Eberhard Christian Kindermann, Die Geschwinde Reise auf dem Lufft-Schiff nach der obern Welt (1744)

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Kindermanns Luftschiff für die Reise zur oberen Welt

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren –  darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.

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Der Traum vom Fliegen, den Vögeln gleich durch die Luft zu gleiten, ist so alt wie die Menschheit selbst. Bereits im alten Ägypten findet sich die Figur der Göttin Isis, die mit Flügeln versehen ist, und von den Persern wissen wir von geflügelten Löwen mit Menschenköpfen. Jeder kennt auch die Tragödie um Daidalos und Ikaros, die mit Hilfe selbst angefertigter Flügel aus der Gefangenschaft des Königs Minos entflohen. Wieland der Schmied aus der gleichnamigen germanischen Heldensage konnte unzerstörbare Schwerter, Rüstungen und Flügel schmieden. Aus dem Mittelalter sind Zeichnungen und gedruckte Darstellungen fliegender Objekte bekannt, Luftschiffe, wie die von Hieronymus Bosch auf seinem „Triptychon - Die Versuchung des heiligen Antonius“ (um 1500).

Bereits 1610 macht sich der Astronom und Mathematiker Johannes Kepler in seiner Dissertatio cum nuncio sidereo („Unterredung mit dem Sternenboten“) Gedanken über Fluggeräte, mit denen er „Kolonisten aus unserem Menschengeschlecht“ ins All schicken will. Daran knüpfen der Bischof von Chester und Mitbegründer der Royal Society John Wilkins mit The Discovery of a World in the Moone („Die Entdeckung einer Welt auf dem Mond“, 1638) und sein Landsmann Francis Godwin in The Man in the Moone („Der Mann im Mond“) im gleichen Jahr an, wie auch der französische Frühaufklärer Cyrano de Bergerac in Estats et empires de la lune („Die Staaten und Reiche des Mondes“, 1657). Sie alle schildern Reisen durch Raum und Zeit, zu Sonne und Mond mit abenteuerlichen Apparaturen. Hervorzuheben sind auch die zeichnerischen Visionen des brasilianischen Jesuiten Bartolomeu Laurenco de Gusmão (1685–1724), die vogelähnlichen Luftschiffen gleichen und die er um 1709 dem portugiesischen König Johann V. vorstellte.

1744 erscheint dann in Berlin eine Erzählung mit dem Titel Die Geschwinde Reise auf dem Lufft-Schiff nach der obern Welt des Astronomen und Mathematikers Eberhard Christian Kindermann. Kindermann ist 1713 in Weißenfels (heute Sachsen-Anhalt) geboren und besucht das dortige Gymnasium. Studien an einer Universität kann er sich aus finanziellen Gründen nicht leisten. So bildet er sich autodidaktisch weiter, bewegt sich im Umfeld von Johann Christoph Gottsched und arbeitet in der Folge als Sekretär, Hofastronom und Ingenieurshauptmann in Dresden, einem Zentrum der Aufklärung, und in Hamburg. Über sein weiteres Leben ist kaum etwas bekannt.

In Anlehnung an die Schrift Prodromo ovvero saggio di alcune invenzioni nuove premesso all'arte maestra („Vorbote oder Versuch über einige neue Erfindungen im Vorfeld der Hauptkunst“) des Jesuiten Francesco Lana Terzi aus Brescia, der auch eine Frühform der Blindenschrift entwickelt, entwirft Kindermann eine Art Luftbarke, einen flugtauglichen Segelkahn mit Vogelschwingen, einem riesigen Segel und einem gefiederten Schwanz. Sein Interesse an Technik und Naturwissenschaft steht im Mittelpunkt des Expeditionsberichts von fünf Reisenden zum Marsmond, der als erste originäre Science-Fiction-Erzählung der deutschsprachigen Literatur gilt. Aber sie korrespondiert auch, ganz dem Gottschedschen Aufklärungsgedanken verpflichtet, mit der Frage nach der göttlichen Weltordnung, in der der Mensch seinen Platz finden muss. Kindermann will mit dieser imaginären Reise das astronomische Wissen seiner Zeit vermitteln und schickt fünf allegorische Gestalten, die die fünf menschlichen Sinne verkörpern (Auditus, Visus, Odor, Gustus und Tactus), in diesem Holzschiff durch die Lüfte und ins ferne, unbekannte Weltall. 

Sich um eine realistische Darstellungsweise bemühend, schildert der Autor in dieser knappen Erzählung faktenreich und detailliert die Möglichkeiten der menschlichen Grenzüberschreitung im noch unbewohnten Kosmos. Ihn interessiert die Mechanik von Körpern wie die sechs luftentleerten Kupferkugeln, mit deren Hilfe man sich fortbewegt, die harmonische Struktur des planetarischen Raums und die Messung von Entfernungen. Kindermann geht offenbar davon aus, dass der Mars ebenso wie die Erde von einem stattlichen Mond begleitet wird. Die Reisenden durchfliegen mit ihrem Luftschiff verschiedene Sphären, die vier Elemente und die Bereiche der Apokalypse, sehen Kometen und landen wie geplant auf einem Marsmond. Sie begegnen engelsgleichen Wesen und mythologischen Figuren, während der sie begleitende Engel Fama zurück zur Erde kehrt, um dem Volk von ihren Entdeckungen zu berichten.

Als Text des 18. Jahrhunderts steht dieser ideenreiche Reisebericht fest im Umfeld barocker Dichtung, wenn er die naturwissenschaftliche Utopie und deren Erforschung als Folie sittlicher Entwicklung des Menschen einsetzt und Glauben und Wissen zu versöhnen sucht.

Erst im Jahr 1783 ist es dann den Brüdern Montgolfier gelungen, einen Heißluftballon in die Lüfte aufsteigen zu lassen. Die Marsmonde Phobos und Deimos wurden 1877 vom amerikanischen Astronomen Asaph Hall entdeckt.

Eberhard Christian Kindermann: Die Geschwinde Reise auf dem Lufft-Schiff nach der obern Welt, welche jüngsthin fünff Personen angestellet, um zu erfahren, ob es eine Wahrheit sey, daß der Planet Mars den 10. Jul. dieses Jahrs das erste mahl, so lange die Welt stehet, mit einem Trabanten oder Mond erschienen? Der untern Welt zu curieuser Gemüths-Ergötzung und Versicherung dieser Begebenheit mitgetheilet durch die allgemeine Fama. Berlin 1744.

 

Lesen Sie nächste Woche (27.2.25) über den wahren Erfinder des True-Crime-Genres.

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