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13.02.2025, 06:30 Uhr
Thomas Kraft
Text & Debatte

Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 2: Zweite Vorbemerkung

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© StockSnap auf pixabay

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren –  darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.

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Im deutschsprachigen Raum sind die lesenswerten Romane vor 1800 rar. Es gibt kaum einen, der unverdient vergessen wurde. Und an der zeitgenössischen Literatur kann ein Verfallsdatum oder ein Prädikat noch nicht haften bleiben. „Ich bin heute niemand“, schrieb die russische Dichterin Marina Zwetajewa, „morgen werde ich alles sein.“ Der Markt verlangt nach schneller Wirkung, der Nachruhm verblasst gegenüber dem saisonalen Erfolg. Andy Warhols Diktum von den fünfzehn Minuten Berühmtheit ist auf verblüffende Weise verbindlich geblieben.

„Klassiker sind die Autoren, die die meisten Leute am längsten brauchen“, so Martin Walser. Doch wo und wie findet man sie, diese in dem dynamischen und offenen Prozess der Rezeption wirkungsmächtigen Texte, die heute einer (Wieder-)Entdeckung wert sind? Sicher in den bestehenden Kanons, Listen, Regelpoetiken und Geschmacksurteilen, die regelmäßig den Literaturbetrieb fluten, aber auch am Wegesrand und jenseits der Grenzen gängiger Wahrnehmung. Das Angebot ist groß, das Bedürfnis nach Orientierung und Konsensbildung ebenso. Denn mit dieser kulturellen Übereinkunft sichern Gesellschaften ihre sozialen Wertesysteme ab.

Der Kanon hat also Konjunktur. Er impliziert immer auch den Anti-Kanon, den alternativen Klassiker. Das heißt, er muss anschlussfähig sein und das Vergangene mit der Gegenwart verbinden. Wenn er neue Wertungen setzt, sollten die Mechanismen der Selektion sichtbar werden. Dazu gehört die Selbstreflexion, die kritische Befragung der Kriterien und Normen. Auch wenn heute die Kraft des kulturellen Imperativs umstritten ist – was muss man unbedingt gelesen haben, um irgendwo dazuzugehören (und wo?) –, weil literarische Bildung keine nennenswerten gesellschaftlichen Vorteile mehr bringt, lautet die zentrale Frage nicht, ob ein Kanon grundsätzlich notwendig, sondern welcher der maßgebliche ist.

Ein Kanon vermittelt Autorität. Mit seiner Auswahl an literarischer Qualität kann er Identität stiften und stützen. Sicherlich kann alles, folgt man Niklas Luhmann, was in der Welt ist oder gemacht wird, auch anders möglich sein. Die Kontexte, in denen Experten ihre Wertungen stellen, verändern sich laufend. Man denke nur an Begriffe wie Gender und postkoloniale Literatur. Die Frage stellt sich also zwangsläufig, ob in einer globalisierten, pluralistischen Welt ein deutschsprachiger Kanon sinnvoll sein kann. Man muss nicht gleich in nationalliterarischen Kategorien denken, um diese Entscheidung zu vertreten. Denn, das hat schon Marcel Reich-Ranicki festgestellt, die deutsche Literatur hat wie wenige andere immer wieder Traditionsbrüche erlebt, durch die „große deutsche Schriftsteller und bisweilen sogar ganze Epochen der deutschen Literatur in Vergessenheit geraten sind und erst neu entdeckt werden mussten“. Das gilt im Besonderen für Autorinnen, denn über die Jahrhunderte hinweg prägten Männer einseitig den literarischen Kanon.

Es gibt viele Listen, schon seit der Antike, von honorigen Viel-Lesern erstellt. Wir erinnern uns, dass der Kanon-Begriff aus dem Bereich der Religion stammt und eine regulierte Liste der von der Kirche anerkannten Schriften meinte. Die Inquisition arbeitete. Heute sind Listen aller Ehren wert, aber oft präsentieren sie immer dieselben Autoren und Werke. Deshalb möchte ich ihnen eine weitere als Ergänzung an die Seite stellen.

Der Begriff des Kanons wird hier offen und frei interpretiert, als Erinnerung und, ja, als freundliches Angebot gesehen. Es wäre schön, wenn Germanisten diese Empfehlungen ebenso mit Gewinn studieren würden wie auch Nicht-Germanisten, denen eine Kanon-Diskussion herzlich gleichgültig ist. 

Zweifellos spräche vieles für eine Liste, die alle Kulturen abbildet und gleichbehandelt. Heute (2025) wandern die Erfahrungen, Bilder und Motive schneller durch die Netze, als ein Autor seinen Stift nimmt oder auf die Tastatur tippt. Doch diese Referenz würde das vorliegende Projekt überfordern. Zu vieles ist hinter dem Schleier des Vergessens versunken. Wie schrieb Michael Krüger vor einiger Zeit in einer Rezension des Schreibhefts, in dem Frank Witzel über einhundert „aufgegebene Autoren“ sprach:  „Kann es sein, dass die entscheidenden Werke der Weltliteratur entweder übersehen wurden oder noch gar nicht veröffentlicht sind?“ Der Trash von heute ist vielleicht der Klassiker von morgen, keine Frage. Die Kanonbildung ist ein dynamischer Prozess, an dessen Ende, das immer nur ein vorläufiges Ende sein kann, eine gewisse Pluralität steht. Das Problem der literarischen Wertung, wie es Walter Müller-Seidel genannt hat, bleibt in jedem Fall bestehen.

Letztlich bestimmen die Texte selbst die Zusammensetzung des Kanons; sie behaupten sich, indem sie andere verdrängen. Alles wird zu einer Frage der Konvention. Und diese deutet, bewertet, macht Stimmung für und gegen, agiert systematisch, integriert und grenzt aus. Am Ende stehen die Dekanonisierung und ein neuer Kanon, denn „kein Mensch muss müssen“ (Lessing).

 

Reisen Sie nächste Woche (20.2.25) mit Eberhard Christian Kindermann im Luftschiff zum Marsmond.

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