Hebräisch-Deutsche Lesung im Lyrikkabinett
Das Lyrik Kabinett begrüßt am 22. Januar im Rahmen der literarischen Woche gegen Antisemitismus zwei Lyrikerinnen und einen Lyriker auf seiner kleinen Bühne. Vor dem roten Vorhang sitzen Michal Zamir, Gundula Schiffer und Mati Shemoelof, die dem Publikum in den folgenden Stunden einen unerwarteten Einblick in das geben werden, was man etwas verallgemeinernd als „die hebräische Dichtung in Deutschland“ bezeichnen kann.
*
Die drei Dichterinnen und Dichter sind Vertreter jener hebräischen Dichtung in Deutschland. Jedoch sind sie nicht die ersten. Denn die hebräische Dichtung gab es in Deutschland schon vor der Machtergreifung 1933. So schrieb zum Beispiel Lea Goldberg, die 1935 nach Tel Aviv emigrierte, auf Hebräisch. Bei ihr studierte später Jehuda Amichai, der in Würzburg geboren wurde und dessen 100. Geburtstag letztes Jahr im Lyrik Kabinett gefeiert wurde. An diesem Abend aber geht es um drei Dichter der Gegenwart und damit auch um die Gegenwärtigkeit der hebräischen Dichtkunst im Hier und Jetzt.
Die Lesenden
Michal Zamir, wurde in Israel geboren und lebt heute in Berlin. Ihre Gedichte erscheinen u.a. in der Anthologie Was es bedeuten soll (Parasitenpresse 2019). Herausgegeben hat sie den Gedichtband Zwischen den Zeilen (Passagenverlag, 2019), eine zweisprachige Anthologie mit hebräischen und deutschen Gedichten. Sie ist Gründerin der Hebräischen Bücherei Berlin e.V., durch die sie einen besonderen Beitrag zur hebräischen Literatur in Deutschland leistet. Zu dieser Bücherei gehört auch ein Online-Magazin, das unter anderem Beiträge zum 7. Oktober sammelt. Auch gibt es eine Zusammenstellung hebräischer Übersetzungen von jüdischen Dichtern, die auf Deutsch schrieben, wie zum Beispiel Mascha Kaléko.
Mati Shemoelof, 1972 in Haifa geboren, lebt nun seit elf Jahren in Berlin. Als Mizrachi Jude in Deutschland ist sein Leben geprägt von einer Position zwischen vielen Sprachen und Kulturen. Dieser Vielsprachlichkeit widmet er sich sowohl in seinen Gedichten als auch in seinem vom deutschen Literaturfond geförderten Buch Jewish Sounds, German Words. Seine Gedichte erscheinen unter anderem in dem Lyrikband Das kleine Boot in meiner Hand, nenn ich Narbe (Parasitenpresse, 2023). Mati Shemoelof schreibt inzwischen auch deutsche Texte.
Gundula Schiffer wurde 1980 in Bergisch Gladbach geboren und lebt als Dichterin und Übersetzerin in Berlin. Sie schreibt Lyrik sowohl auf Deutsch als auch auf Hebräisch. Ihr zweisprachiger Lyrikband Fremde Einkehr ist 2024 im Verlag Ralf Liebe erschienen.
Ein Wechselbad der Sprachassoziationen
Was die hier versammelte Zuhörerschaft mit den Lyrikerinnen und Lyrikern des heutigen Abends verbindet, ist das Anliegen, ein Zeichen gegen den Antisemitismus zu setzen und im Namen der Literatur einen Raum für einen sprachlichen Austausch zu schaffen. Dieser Austausch braucht Vermittler. Gundula Schiffer sitzt als Mittelsfrau zwischen ihren beiden Kollegen, Mati Shemoelof und Michal Zamir. Sie schlägt die Brücke zwischen ihnen und dem Publikum und ist in dreifacher Rolle als Übersetzerin, Moderatorin und Dichterin anwesend. In dieser Konstellation stellt der Abend eine besondere Herausforderung dar. Alle drei sprechen sowohl Hebräisch, als auch Deutsch und haben damit eine eigene Kommunikationsbasis. Sie verstehen sich in zwei Sprachen und haben damit dem Publikum etwas voraus. Sie werfen sich mal ein deutsches, mal ein hebräisches Wort zu und wechseln zwischen den Sprachen hin und her. Auch wenn Gundula Schiffer sehr bemüht ist, einen Ausgleich herzustellen und alles zu übersetzten, was auf Hebräisch geäußert wird, bleibt doch ein gewisses Defizit. Denn ein Teil des Abends bleibt in diesem Moment für das deutsche Publikum nur indirekt erschließbar.
Zunächst stellt sich diese Erkenntnis für mich als sehr irritierend dar. Den Autoren gegenübersitzend, ertappe ich mich dabei, dass ich mich ausgeschlossen fühle. In den Vorträgen der einzelnen Gedichte, die zuerst auf Hebräisch gelesen werden, versuche ich mich auf den Klang der Sprache einzulassen und hangele mich an einzelnen Namen und Wortpartikeln entlang. Im zweiten Schritt, in dem die deutschen Übersetzungen der Gedichte gelesen werden, versuche ich nun die beiden Eindrücke zusammenzubringen, was mir überraschend schwer fällt. Obwohl Übersetzungsschwierigkeiten kommuniziert werden und biographische Hintergründe mit dem Publikum geteilt werden, bleibt das Gefühl, dass mir ein Teil des Zugangs verwehrt bleibt.
Nachhall
Dieser Eindruck lässt mich an dem Abend zuerst etwas enttäuscht das Lyrik Kabinett verlassen. Auf dem Nachhauseweg frage ich mich, ob die Vermittlung gescheitert ist, ob das Anliegen einen Raum für Verständnis zu eröffnen, nicht erfüllt werden konnte. Erst später erkenne ich meine eigene fehlende Einsicht. Ich gehe also meinem Gefühl des Ausgeschlossenseins auf den Grund. Diese drei Autoren teilen eine Sprache, die ich nicht mit ihnen teile. In einem mir bekannten Umfeld, meiner Heimatstadt, wird ein Sprachraum eröffnet, zu dem ich keinen Zugang habe. Auf diese Erfahrung war ich nicht gefasst.
Während ich zuerst trotzig auf dieses Gefühl reagiere, entdecke ich später, wie relevant der Abend und auch wie aussagekräftig mein Gefühl doch ist. Ein Gespräch, das von deutschen und hebräischen Wörtern durchzogen ist, das sich in einem eigenen Sprachraum entfaltet, steht im Zeichen einer Neubelebung des Hebräischen in Deutschland und in der Tradition von zum Beispiel Lea Goldberg. Doch es geht hier nicht um Angleichung oder Anpassung an die deutsche Sprache, sondern um ein Ausleben der hebräischen Sprache und der jüdischen Kultur in Deutschland. Die beiden Sprachen dürfen nebeneinander existieren, sie dürfen sich auch vermengen und neue Formen annehmen, werden aber nicht dazu gezwungen. Das Hebräische muss nicht deutsch werden. Es darf sich aber in Deutschland entfalten. Von dieser Stelle her rührt mein Gefühl: Wie kann ich als Deutsche zu dieser Sprache und den Produkten einer mir fremden Sprache stehen, die nun einen Teil meiner Heimat neu bestimmt, zu dem ich keinen Zugriff habe?
Sprache ist mehr
Die Gedichte, die Mati Shemoelof vorträgt, sind im Original noch nicht veröffentlicht, auf Deutsch jedoch schon in dem Magazin Sinn und Form (4. Heft 2024) erschienen. Es sind vier Gedichte unter dem übergeordneten Titel Du verlierst den Namen deines Vaters. Im zweiten Gedicht, das von Gundula Schiffer übersetzt ist, heißt es: „die Haare werden in einer unbekannten Sprache weiß“. Mati Shemoelof schreibt mit seiner Identität als arabischer Jude in zweiter Generation in Israel und als Vater einer Tochter, die wie er sagt „auf Deutsch denkt“. Und beschäftigt sich intensiv mit Transnationalität und Multisprachlichkeit. Er arbeitet an einem Experiment, in dem es erlaubt sein darf, Texte so zu schreiben wie man sie denkt, in mehreren Sprachen, ohne Angst vor Fehlern haben zu müssen. Wie die Gedichtzeile andeutet, bedeutet Sprache mehr als nur schreiben und sprechen, sondern auch Sein. In Deutschland herrscht in Mati Shemoelofs Sicht nicht nur eine andere Sprache, sondern auch eine andere Zeit. So tritt hier zum Beispiel an die Stelle des Schabbats der Sonntag.
Anders als ihr Kollege schreibt Michal Zamir aus der Perspektive einer Frau und einer Mutter. Als Gründerin der Hebräischen Bücherei Berlin und als Hebräischlehrerin lebt sie, wie sie sagt, „in der hebräischen Sprache“ in Deutschland. Was diese Sprache ausmacht hat unter anderem eine religiöse Konnotation. Selbst wenn Hebräisch als säkulare Sprache gesprochen wird, kann der religiöse Hintergrund nicht ignoriert werden. In Michal Zamirs erstem Gedicht, das an diesem Abend vorgetragen wird, geht es um diese und eine weitere Besonderheit des Jüdischen, in der das Essen und das Lesen sehr verbunden sind. Das Gedicht, von Esther von Schwarze übersetzt, ist auf Deutsch noch nicht veröffentlicht. Die hebräische Fassung kann im Online Magazin der Hebräischen Bücherei Berlin nachgelesen werden. Ein Vers lautet: „Mein Sohn und ich lesen die Bibel nach alten Weisen, backen gemeinsam Schabbat-Speisen“. Das Gedicht handelt von der Vorbereitung auf eine Bar Mitzwa, in der Mutter und Sohn gemeinsam Backen und hebräische Texte lesen. Michal Zamir weist darauf hin, dass die deutsche Übersetzung nicht alle Facetten dieser Tätigkeit wiederzugeben vermag. Zum Beispiel das Wort Bibel, das in der hebräischen Fassung nicht vorkommt. Denn eigentlich gehe es um die Liebe zur Sprache und um die Weitergabe der Sprache durch eine Mutter an ihren Sohn.
Auch Gundula Schiffer trägt ein hebräisches Gedicht vor. Sie liest aus ihrem Gedichtband Fremde Heimkehr in dem 15 Gedichte in hebräischer Sprache gedruckt sind, die vor dem 7. Oktober 2023 geschrieben wurden. Mit dem Publikum teil sie eine Frage, die ihr einmal gestellt wurde: „Wie kannst du es als Deutsche wagen, auf Hebräisch zu schreiben?“ Mati Shemoelof aber sagt über Gundulas Gedichte über Israel: „das ist dein Land in deiner Seele“. Er lässt das Publikum verstehen und entschärft die Vorurteile. Er hebt hervor, wie schön es sei auf Hebräisch von diesem Land zu lesen. Und dass diejenigen, die so über Israel schreiben würden wie sie, Konservative seien. Möglicherweise fällt ihr das aus einer Außenperspektive leichter. Viele ihrer Gedichte spielen auf der Straße und obwohl sie nicht so existentiell von Israel abhängt, sehnt sie sich nach der Stimmung dort. Sagt, dass sie die Häuser in Deutschland manchmal nicht ertragen könne, „die Kälte, die hier ist und der Abstand zwischen den Menschen“. Sie liebt dieses Land und die hebräische Sprache und leidet wohl auch unter der Angst, beides zu verlieren.
Fruchtbare Verwirrung
Vielseitig und komplex sind also die Zusammenhänge und Perspektiven, die sich an diesem Abend eröffnen. Im Rückblick beantworte ich mir meine Frage nach Zugriff und Rolle im Verhältnis zu dieser Sprache nun anders. Ich kann nicht voraussetzten, dass ich jede Sprache spreche, die in Deutschland gesprochen wird. Aber ich darf mir ein Defizit eingestehen. Der Abend im Lyrik Kabinett ist ganz und gar nicht gescheitert. Im Gegenteil sensibilisiert er dafür, die Sprachpluralität und die dadurch entstehende Komplexität anzunehmen. Sich zunächst der Verwirrung zu stellen, sich seine Unwissenheit einzugestehen und Sprachbarrieren zu sehen. Im zweiten Schritt können diese jedoch überwunden werden. Es kann der Wille entstehen Neues zu begreifen und sich selbst und andere auch in neuen Sprachen zu verstehen. Die reine Zuhörerposition zu verlassen und ein aktiver Teil des Dialogs zu werden.
Die drei Lyrikerinnen und Lyriker setzen ein Zeichen für das Leben, das in einer Sprache steckt und wie komplex und damit wertvoll neue Formen und Ebenen der Kommunikation sein können.
Ich bedanke mich bei den Teilnehmenden und beim Lyrik Kabinett für diesen Abend!
Hebräisch-Deutsche Lesung im Lyrikkabinett >
Das Lyrik Kabinett begrüßt am 22. Januar im Rahmen der literarischen Woche gegen Antisemitismus zwei Lyrikerinnen und einen Lyriker auf seiner kleinen Bühne. Vor dem roten Vorhang sitzen Michal Zamir, Gundula Schiffer und Mati Shemoelof, die dem Publikum in den folgenden Stunden einen unerwarteten Einblick in das geben werden, was man etwas verallgemeinernd als „die hebräische Dichtung in Deutschland“ bezeichnen kann.
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Die drei Dichterinnen und Dichter sind Vertreter jener hebräischen Dichtung in Deutschland. Jedoch sind sie nicht die ersten. Denn die hebräische Dichtung gab es in Deutschland schon vor der Machtergreifung 1933. So schrieb zum Beispiel Lea Goldberg, die 1935 nach Tel Aviv emigrierte, auf Hebräisch. Bei ihr studierte später Jehuda Amichai, der in Würzburg geboren wurde und dessen 100. Geburtstag letztes Jahr im Lyrik Kabinett gefeiert wurde. An diesem Abend aber geht es um drei Dichter der Gegenwart und damit auch um die Gegenwärtigkeit der hebräischen Dichtkunst im Hier und Jetzt.
Die Lesenden
Michal Zamir, wurde in Israel geboren und lebt heute in Berlin. Ihre Gedichte erscheinen u.a. in der Anthologie Was es bedeuten soll (Parasitenpresse 2019). Herausgegeben hat sie den Gedichtband Zwischen den Zeilen (Passagenverlag, 2019), eine zweisprachige Anthologie mit hebräischen und deutschen Gedichten. Sie ist Gründerin der Hebräischen Bücherei Berlin e.V., durch die sie einen besonderen Beitrag zur hebräischen Literatur in Deutschland leistet. Zu dieser Bücherei gehört auch ein Online-Magazin, das unter anderem Beiträge zum 7. Oktober sammelt. Auch gibt es eine Zusammenstellung hebräischer Übersetzungen von jüdischen Dichtern, die auf Deutsch schrieben, wie zum Beispiel Mascha Kaléko.
Mati Shemoelof, 1972 in Haifa geboren, lebt nun seit elf Jahren in Berlin. Als Mizrachi Jude in Deutschland ist sein Leben geprägt von einer Position zwischen vielen Sprachen und Kulturen. Dieser Vielsprachlichkeit widmet er sich sowohl in seinen Gedichten als auch in seinem vom deutschen Literaturfond geförderten Buch Jewish Sounds, German Words. Seine Gedichte erscheinen unter anderem in dem Lyrikband Das kleine Boot in meiner Hand, nenn ich Narbe (Parasitenpresse, 2023). Mati Shemoelof schreibt inzwischen auch deutsche Texte.
Gundula Schiffer wurde 1980 in Bergisch Gladbach geboren und lebt als Dichterin und Übersetzerin in Berlin. Sie schreibt Lyrik sowohl auf Deutsch als auch auf Hebräisch. Ihr zweisprachiger Lyrikband Fremde Einkehr ist 2024 im Verlag Ralf Liebe erschienen.
Ein Wechselbad der Sprachassoziationen
Was die hier versammelte Zuhörerschaft mit den Lyrikerinnen und Lyrikern des heutigen Abends verbindet, ist das Anliegen, ein Zeichen gegen den Antisemitismus zu setzen und im Namen der Literatur einen Raum für einen sprachlichen Austausch zu schaffen. Dieser Austausch braucht Vermittler. Gundula Schiffer sitzt als Mittelsfrau zwischen ihren beiden Kollegen, Mati Shemoelof und Michal Zamir. Sie schlägt die Brücke zwischen ihnen und dem Publikum und ist in dreifacher Rolle als Übersetzerin, Moderatorin und Dichterin anwesend. In dieser Konstellation stellt der Abend eine besondere Herausforderung dar. Alle drei sprechen sowohl Hebräisch, als auch Deutsch und haben damit eine eigene Kommunikationsbasis. Sie verstehen sich in zwei Sprachen und haben damit dem Publikum etwas voraus. Sie werfen sich mal ein deutsches, mal ein hebräisches Wort zu und wechseln zwischen den Sprachen hin und her. Auch wenn Gundula Schiffer sehr bemüht ist, einen Ausgleich herzustellen und alles zu übersetzten, was auf Hebräisch geäußert wird, bleibt doch ein gewisses Defizit. Denn ein Teil des Abends bleibt in diesem Moment für das deutsche Publikum nur indirekt erschließbar.
Zunächst stellt sich diese Erkenntnis für mich als sehr irritierend dar. Den Autoren gegenübersitzend, ertappe ich mich dabei, dass ich mich ausgeschlossen fühle. In den Vorträgen der einzelnen Gedichte, die zuerst auf Hebräisch gelesen werden, versuche ich mich auf den Klang der Sprache einzulassen und hangele mich an einzelnen Namen und Wortpartikeln entlang. Im zweiten Schritt, in dem die deutschen Übersetzungen der Gedichte gelesen werden, versuche ich nun die beiden Eindrücke zusammenzubringen, was mir überraschend schwer fällt. Obwohl Übersetzungsschwierigkeiten kommuniziert werden und biographische Hintergründe mit dem Publikum geteilt werden, bleibt das Gefühl, dass mir ein Teil des Zugangs verwehrt bleibt.
Nachhall
Dieser Eindruck lässt mich an dem Abend zuerst etwas enttäuscht das Lyrik Kabinett verlassen. Auf dem Nachhauseweg frage ich mich, ob die Vermittlung gescheitert ist, ob das Anliegen einen Raum für Verständnis zu eröffnen, nicht erfüllt werden konnte. Erst später erkenne ich meine eigene fehlende Einsicht. Ich gehe also meinem Gefühl des Ausgeschlossenseins auf den Grund. Diese drei Autoren teilen eine Sprache, die ich nicht mit ihnen teile. In einem mir bekannten Umfeld, meiner Heimatstadt, wird ein Sprachraum eröffnet, zu dem ich keinen Zugang habe. Auf diese Erfahrung war ich nicht gefasst.
Während ich zuerst trotzig auf dieses Gefühl reagiere, entdecke ich später, wie relevant der Abend und auch wie aussagekräftig mein Gefühl doch ist. Ein Gespräch, das von deutschen und hebräischen Wörtern durchzogen ist, das sich in einem eigenen Sprachraum entfaltet, steht im Zeichen einer Neubelebung des Hebräischen in Deutschland und in der Tradition von zum Beispiel Lea Goldberg. Doch es geht hier nicht um Angleichung oder Anpassung an die deutsche Sprache, sondern um ein Ausleben der hebräischen Sprache und der jüdischen Kultur in Deutschland. Die beiden Sprachen dürfen nebeneinander existieren, sie dürfen sich auch vermengen und neue Formen annehmen, werden aber nicht dazu gezwungen. Das Hebräische muss nicht deutsch werden. Es darf sich aber in Deutschland entfalten. Von dieser Stelle her rührt mein Gefühl: Wie kann ich als Deutsche zu dieser Sprache und den Produkten einer mir fremden Sprache stehen, die nun einen Teil meiner Heimat neu bestimmt, zu dem ich keinen Zugriff habe?
Sprache ist mehr
Die Gedichte, die Mati Shemoelof vorträgt, sind im Original noch nicht veröffentlicht, auf Deutsch jedoch schon in dem Magazin Sinn und Form (4. Heft 2024) erschienen. Es sind vier Gedichte unter dem übergeordneten Titel Du verlierst den Namen deines Vaters. Im zweiten Gedicht, das von Gundula Schiffer übersetzt ist, heißt es: „die Haare werden in einer unbekannten Sprache weiß“. Mati Shemoelof schreibt mit seiner Identität als arabischer Jude in zweiter Generation in Israel und als Vater einer Tochter, die wie er sagt „auf Deutsch denkt“. Und beschäftigt sich intensiv mit Transnationalität und Multisprachlichkeit. Er arbeitet an einem Experiment, in dem es erlaubt sein darf, Texte so zu schreiben wie man sie denkt, in mehreren Sprachen, ohne Angst vor Fehlern haben zu müssen. Wie die Gedichtzeile andeutet, bedeutet Sprache mehr als nur schreiben und sprechen, sondern auch Sein. In Deutschland herrscht in Mati Shemoelofs Sicht nicht nur eine andere Sprache, sondern auch eine andere Zeit. So tritt hier zum Beispiel an die Stelle des Schabbats der Sonntag.
Anders als ihr Kollege schreibt Michal Zamir aus der Perspektive einer Frau und einer Mutter. Als Gründerin der Hebräischen Bücherei Berlin und als Hebräischlehrerin lebt sie, wie sie sagt, „in der hebräischen Sprache“ in Deutschland. Was diese Sprache ausmacht hat unter anderem eine religiöse Konnotation. Selbst wenn Hebräisch als säkulare Sprache gesprochen wird, kann der religiöse Hintergrund nicht ignoriert werden. In Michal Zamirs erstem Gedicht, das an diesem Abend vorgetragen wird, geht es um diese und eine weitere Besonderheit des Jüdischen, in der das Essen und das Lesen sehr verbunden sind. Das Gedicht, von Esther von Schwarze übersetzt, ist auf Deutsch noch nicht veröffentlicht. Die hebräische Fassung kann im Online Magazin der Hebräischen Bücherei Berlin nachgelesen werden. Ein Vers lautet: „Mein Sohn und ich lesen die Bibel nach alten Weisen, backen gemeinsam Schabbat-Speisen“. Das Gedicht handelt von der Vorbereitung auf eine Bar Mitzwa, in der Mutter und Sohn gemeinsam Backen und hebräische Texte lesen. Michal Zamir weist darauf hin, dass die deutsche Übersetzung nicht alle Facetten dieser Tätigkeit wiederzugeben vermag. Zum Beispiel das Wort Bibel, das in der hebräischen Fassung nicht vorkommt. Denn eigentlich gehe es um die Liebe zur Sprache und um die Weitergabe der Sprache durch eine Mutter an ihren Sohn.
Auch Gundula Schiffer trägt ein hebräisches Gedicht vor. Sie liest aus ihrem Gedichtband Fremde Heimkehr in dem 15 Gedichte in hebräischer Sprache gedruckt sind, die vor dem 7. Oktober 2023 geschrieben wurden. Mit dem Publikum teil sie eine Frage, die ihr einmal gestellt wurde: „Wie kannst du es als Deutsche wagen, auf Hebräisch zu schreiben?“ Mati Shemoelof aber sagt über Gundulas Gedichte über Israel: „das ist dein Land in deiner Seele“. Er lässt das Publikum verstehen und entschärft die Vorurteile. Er hebt hervor, wie schön es sei auf Hebräisch von diesem Land zu lesen. Und dass diejenigen, die so über Israel schreiben würden wie sie, Konservative seien. Möglicherweise fällt ihr das aus einer Außenperspektive leichter. Viele ihrer Gedichte spielen auf der Straße und obwohl sie nicht so existentiell von Israel abhängt, sehnt sie sich nach der Stimmung dort. Sagt, dass sie die Häuser in Deutschland manchmal nicht ertragen könne, „die Kälte, die hier ist und der Abstand zwischen den Menschen“. Sie liebt dieses Land und die hebräische Sprache und leidet wohl auch unter der Angst, beides zu verlieren.
Fruchtbare Verwirrung
Vielseitig und komplex sind also die Zusammenhänge und Perspektiven, die sich an diesem Abend eröffnen. Im Rückblick beantworte ich mir meine Frage nach Zugriff und Rolle im Verhältnis zu dieser Sprache nun anders. Ich kann nicht voraussetzten, dass ich jede Sprache spreche, die in Deutschland gesprochen wird. Aber ich darf mir ein Defizit eingestehen. Der Abend im Lyrik Kabinett ist ganz und gar nicht gescheitert. Im Gegenteil sensibilisiert er dafür, die Sprachpluralität und die dadurch entstehende Komplexität anzunehmen. Sich zunächst der Verwirrung zu stellen, sich seine Unwissenheit einzugestehen und Sprachbarrieren zu sehen. Im zweiten Schritt können diese jedoch überwunden werden. Es kann der Wille entstehen Neues zu begreifen und sich selbst und andere auch in neuen Sprachen zu verstehen. Die reine Zuhörerposition zu verlassen und ein aktiver Teil des Dialogs zu werden.
Die drei Lyrikerinnen und Lyriker setzen ein Zeichen für das Leben, das in einer Sprache steckt und wie komplex und damit wertvoll neue Formen und Ebenen der Kommunikation sein können.
Ich bedanke mich bei den Teilnehmenden und beim Lyrik Kabinett für diesen Abend!