Die Gedichte des ukrainischen Neoklassikers Mykola Serow

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Mykola Serow im Jahr 1920.

Mykola Serow (1890 – 1937) war die bedeutendste Figur der Gruppe der Kijiwer Neoklassiker, die ihr Schaffen der proletarischen Kultur in Diskussionen entgegensetzte, der folkloristisch-romantischen Literatur ebenso wie der ideologisch-politischen realistischen oder futuristischen.

Ein weiterer Neoklassiker, Maksym Rylskyj, widmete Serow das Gedicht „Die Pappel“, in dem er von „verräterischen Worten“ wie einer (ins Ukrainische) „übersetzen Pappel“ spricht: Sie „steht in der fremden Höhe“, verhält sich „der fremden Sprache gegenüber gleichgültig“. Damit meinte Rylskyj wohl die Bedeutung von damals seltenen Übersetzungen für die ukrainische Literatur. Serow übersetzte Lyrik vor allem aus dem Lateinischen und dem Altgriechischen sowie aus der italienischen, französischen, polnischen und weißrussischen Sprache, aber auch aus der sehr viel später entstandenen russischen klassischen Poesie. Das Manuskript seiner Übersetzung von Vergils Aeneis gilt als im Gulag verloren gegangen. Im gleichen Jahr konnten aber seine Puschkin-Übersetzungen ins Ukrainische unter Pseudonym in einer Anthologie erscheinen.

Als ukrainischer Modernist und Intellektueller teilte Serow mit den meisten Neoklassikern das tragische Schicksal der Generation der „Erschossenen Wiedergeburt“: Die geistige Elite in der Sowjet-Ukraine, in 1920ern als „Wiedergeburt“ bezeichnet, wurde in den 1930ern von Stalinisten größtenteils hingerichtet. Das Strafverfahren gegen ihn gründete auf falschen Anschuldigungen. Serow wurde 1934 zu zehn Jahren Haft verurteilt, die Troika (Instanz des NKWD, die ohne ordentliches Verfahren die „Feinde des Volkes“ eliminierte), fällte 1937 sein Todesurteil.

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Mit dem folgenden Übersetzungsprojekt zu Serows Gedichten aus dem Ukrainischen beteiligen sich Vasyl Lozynskyj und Beatrix Kersten an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER

 

PRO DOMO

Oh Gott, wie bitter ist dieser Kelch,
Diese Altertümlichkeit, dieser wilde Geschmack,
Diese Träumer ohne Flügel, derer
Unsere Dichtung sich so rühmt!

Jedweder Künstler ist Phlegmatiker und grau,
Jedweder Dichter sentimentaler Brei …
Oh nein! Pegasus braucht Futter,
Damit der Arme nicht im Sumpf versackt.

Klassische Plastik und strenge Konturen
Und der Logik eiserner Strom —
das, Dichtung, ist dein Weg.

Leconte de Lisle, José de Heredia, 
Der Sterne des Parnass nicht-westliche Konstellation,
Leitet dich auf die rechten Höhen.

21/IV 1921

 

Kijiw vom linken Ufer

Gegrüßt sei das Verträumte, Goldkuppelige,
Auf den blauen Hügeln. Es grübelt, schläft.
Und nicht für dich, das Jüngere, brennt
Der Feuerschein unserer roten Tage.

Lange vergangen ist die Zeit deines Ruhms
Und es beweint der Glocken vielstimmiges Kupfer,
Dass der glückliche Augenblick deines Sprießens,
Deiner Blüte und deines Staates nicht mehr wiederkehrt.

Aber, Wanderer, verweile hier auf dem Sand,
Betrachte die Chimären der barocken Kuppeln, 
Das Wunder der weißen Kolonnaden von Schädel:

Das Leben lebt und noch birgt Kräfte
Dieser grüne und verschlafene Berg, 
Diese mit Gold angenagelte Bläue.  

1923

 

Vor dem Neuen Jahr

Ich war auf dem Weg nach Hause, trug die Zuckerration
Ich grübelte über das bittere Tagwerk …
Es leuchteten auf die Lichter von Hollywood
Im Zauber der Neujahrserneuerung.

Es knisterte überall: froh und festlich
Richteten sich die Menschen zur Begegnung mit Unbekanntem;
Der Frost räumte auf mit allem Schmutz von gestern, 
Der das Herz bedrückte und in Ketten legte.

Der Neid war vorbei und das Toben gezügelt.
Nun ja! Möge das kärgliche Ritual vollzogen werden,
Des einfachen Pilgers Zusammenkunft.

Möge die frühe Jugend, voll der Hoffnung,
Mit gedankenlosen Augen sich beugen
Über ein Glas Rosé-Weins.

1/I 1932

 

Walderdbeeren 

In den Fichtenwipfeln zieht Gebraus durchs Geäst
Und verdunkelt mit luftiger Wolke
Den hohen Mittag und das aufleuchtende Blau;
Im saftigen Gras verlieren sich die Füße.

Könnte ich doch hinstürzen hier am Straßenrand,
Die Wimpern zusammengepresst und zumindest für eine Weile
mich von den bellenden Hunden süß erholen,
Von tückischen Seelen, von Betrug und Sorgen.

Und dort in der Weile eines flüchtigen Schlafs,
Wieder auf einen klingenden Reim stoßen,
Auf Rhythmen, verblieben irgendwo im Herzen;

Und, die Kraft der Erdsäfte spürend,
Die Augen aufmachen und den Korallen
Der hübschen, duftenden Walderdbeeren begegnen. 

9/VII 1934        

 

Argonauten 

Für M. Rylskyj

 

Ja, teurer Freund, wir lieben ein und dasselbe:
Des alten Schaffens gereiften Wein, 
Honig von attischen Bienen und das Spiel der klingenden Kastalienquellen
Lass gebrechliche Greise fade Klagen jammern,
Über die Gegenwart soll uns singen der Scholiast.
Lass das futuristische Trivium den nicht gewogenen Ballast 
der Kulte und Macharten nehmen in sein Boot, —
Wir gehen in Einsamkeit auf der weißmähnigen Welle,
Auf einem weisen Schiff, der hundertrudrigen Argo,
Und du bist wie Tiphys für uns, und von deinem Steuer
Siehst du schon das helle Ziel des Streits und die schweren Fahrwasser
Die Eiche mit dem goldenen Vlies und die Bucht von Kolchis.

30/IV 1924

 

Lucrosa 

Für Oswald Burghardt

In der Obhut ländlicher Musen, in der sumpfigen Lucrosa,
Wo Vernunft und Sinne — alle schlafen in Anabiose,
Wohnen wir — verließen nicht Kijiw, sondern Baalbek,
Weit fort von Gesprächen, Menschen, Bibliotheken
Säen wir Getreide in einen unfruchtbaren Schoß.
Von Zeit zu Zeit dienen wir dem Herrscher Apollon,
Und glüht unser Weihrauch auf dem armen Altar. 
Ähnlich wie im antiken Olbia die wandernden Schnitzer
Inmitten des Alltags und der eigennützigen Gemeinschaft,
Pflegten in der Seele den Traum vom fernen Hellas
Und für die Horden ringsumher, für die Skythenbarbaren
Aus Marmor ungesehene Götter schnitten.


Anmerkung zur Übersetzung: 
Als „Sumpfige Lukrosa“ (zu lat. Lucrum – Gewinn, Vorteil) wurde von Serow und anderen Neoklassikern das Städtchen Baryschiwka  in der Region Kijiw bezeichnet, an dessen Gymnasium sie in den Jahren 1920 – 1923 unterrichteten und dem Hunger während des Bürgerkriegs entfliehen konnten. Ab diesen Jahren wurden die Neoklassiker auch als Gruppe aktiv.

 

Ovid

Suppositum stellis nunquam tangentibus aequor …
Ovid.,Trist., III, 10, 4.

 

Bruderschaft einstiger Tage! Prächtiger lieber Kreis!
Sprich einmal wenigstens vor beim vertriebenen Naso,
Dem alten, schwachen, von allen vergessenen,
In dem Lande, wo das ganze Jahr Unwetter wüten und Winter,
Und des Meeres schwermütiges Tosen, und wo Barbaren sind rundum …
Armes, wildes Land! Im Frühling Schmutz und Kälte,
Im Sommer schwarze Steppe: kein lauschiger Hain,
Keine Weinberge, keine goldfarbenen Getreidefelder.
Und da schon wieder die Fröste und der Himmel in grauer Tracht.
Und nun quietschen die Wagen, Hufe schlagen hart aufs Eis.
Der Sarmate dringt ein und macht alles zunichte, 
Und jagt die Gefangenen in Reihen weit über die Donau.

 

In der Steppe 

Eine hohe, flache Steppe. Eine grüne Reihe Gräber
Und die träumerische Ferne, die mit dem Dunst blauer Flügel
Verzaubert und zu den hellenischen Kolonien ruft.
Weit weg am Horizont die Umrisse von dunklen Pferden,
Zelte und Wagen, skythische Ackermänner.
Vogelschwärme fliegen, kreischend, herbei aus südlichem Gefild.
Und vom Meer her weht Wind, heiß und voll Ungeduld.
Aber was sollen mir diese Böen,
Und das Singen der Lerchen und das Wachsen der Gräser?
Mit welcher Freude würde ich alles das eintauschen
Für den Lärm am Kai, das blaue Becken der Limane,
Für Pflaster und Straßen des alten Chersones!